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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 29.06.1896
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1896-06-29
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18960629029
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1896062902
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1896062902
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- LDP: Zeitungen
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- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1896
- Monat1896-06
- Tag1896-06-29
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U» VvrUN^UnSgate «scheint um Uhr, dl» Abend-An-gabe Wochentag» um b Uhr. Ledartton und Expedition: Aoh«me»«affe 8. LteEkpeEon Ist Wochentag« «nnnterbrvcheu geöffnet von früh 8 bi» Abend» 7 Uhr. Filiale«: Dtt» Earti«. (Alfred Hahnl, Universität-straßr S (Paulinum), Loui» Lösche. Katharwenstr. 14. vart. und König-Platz 7. - Vez«g-»Prett dl d« Hauptqrpeditio» oder deu im Stabt» -«KI und den Vororten errichteten Ao»« ßaoestrllen abgeholt: »ierktMrltch^itckU, vei zwetmaltger täglicher Zustellung in» Hau» ü.üO. Durch dir Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: viertel,äkrlich G.—. Dirrcte tägliche Kreuzbandseuduug tu» Ausland: »oaatltch ^l 7.SO. ^-328. Abend-Ausgabe. KiMM TaMatt Anzeigea.Prei- die Sgespaltme Petitzeile LV Pt-. Nee käme» nater dem R«dactioa»strich (4ge- spalten) LO^, vor den Familiennachrichten (6 gespalten) 40^. Größere Schriften laut unjerem Preis- verzrichniß. Tabellarischer und Ziffernfatz Nach höheren, Tarif. Extra-Vriiage» (gefalzt», nur mit der Morgen.Ausgabe. ohne Postbrsörderung » öo.—, mit Postbesörderung ^l 70.—. Anzeiger. Ätntsblatt des LSniglichen Land- und Amtsgerichtes Leipzig, des Mathes und Mokizei-Ämtes der Stadt Leipzig. Montag den 29. Juni 1896. Druck und Verlag von T. Pol» in Leipzig Änuahmeschluß flr Auzel-eu. Nbrnd-TluSaabe: Vormittag» 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittag» 4Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde fr-her. Anzeigen sind stet» au die Expedition zu richten. SV. Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, 29. Juni Mit Frhrn. P. Verlepfch ist wieder ein unmittelbarer Erbe eine« politischen Wirkungskreise» des Fürsten Bismarck gegangen, und zwar derjenige, dessen Eintritt in die Regierung den Anfang des Bollzuge» der schicksalsschweren Wendung vom 18. März 1880 zu bedeuten hatte. Am 1. Februar des genannten Jahres übernahm Herr v. Berlepsch das Ministerium für Handel und Gewerbe, das Fürst BiSmarck feit dem Jahre 1890 geleitet hatte. ES geschah dies auf den Vorschlag des Reichskanzlers und Ministerpräsidenten, der darauf gedrungen hatte, daß der damalige Ober präsident der Rheinprovinz die Verantwortung für die socialpolitischen Rathschläge übernehme, durch die er nebst anderen, nicht verantwortlichen Personen Einfluß auf die Absichten des Kaisers gewonnen hatte. Es war die« der letzte Versuch des Kanzlers, dem GesammtstaatSministerium eine Einwirkung auf viels ocialpolitik zu erhalten. Er mißlang bekanntlich. Vier Tage nach der Ernennung desHerrn v. Berlepsch erschienen zwar zwei vom Fürsten Bismarck nicht gegen gezeichnete Erlasse, die in weiten Umrissen ein Arbe, terschutz- gesetz ankündigten, dessen Rahmen sich Jeder so wc,t denken konnte, als ihm beliebte. In Arbeiterkreisen glaubte man über haupt nicht mehr an einen Rahmen denken zu müssen. Für die Vorstellung, die die Erlasse erweckten, bleibt für die Ge schichte ein Vorfall in einer Versammlung im Westen Deutschlands kennzeichnend. Mit dem Rufe: „der Kaiser ist Socialdemokrat" drapirte ein Arbeiter eine Büste des Monarchen mit rothem «Stoff. Man versprach sich Wunder auf der einen, aber auch auf der anderen Seite. DaS andere Charakteristikum jener Zeit ist der kaiserliche Aus spruch: „Die Socialdemokratie überlassen Sie mir." Mit diesem Wort muß man das zum letzten Sedanfest gesprochene Zusammenhalten, um das Ergebniß einer Politik zu würdigen, die Herr v. Berlepsch zwar wohl kaum ersonnen, aber durchzuführea sich anheischig gemacht hatte. Die Ver schwommenheit jenes Programms und die Fehlerhaftig keit des diesem zu Grunde liegenden Versöhnungs zweckes hat nicht gehindert, daß Herr von epsch mit praktischen Männern an dem Ausarbeiten des Arbeiter- schutzgesctzeS erfolgreich mitwirken konnte. DaS negative Ergebniß der internationalen Arbeiterschntz - Conferenz in Berlin, der er präsidirt hatte, mag ihm die Rückkehr auf den Boden der Thatsachen nicht wenig erleichtert haben. Völlig heimisch ist er auf demselben jedock nie wieder geworden. Der, wenn auch zuletzt nicht mehr offen betriebene, aber festgehaltene Plan drrOrganisation der Arbeiter zeigt ihn auch später in dem Lichte eines SocialpolitikerS, der die Theorien über daS Leben setzt. Es giebt kein unfehlbareres Mittel, die Socialdemokratie zur Herrin der Industrie zu machen, d. h. diese zu ruiniren, als eine öffentlich-rechtliche Organisation in Arbeiterkammern. Seine auf die ZwangS- organisation des Handwerks gerichteten Pläne, die rn einem Gesetzentwurf Gestalt gewonnen haben, hinterläßt Herr v. Berlepsch nunmehr einen Nachfolger. Ob dieser sie auf nehmen wird, steht dahin. Der Mißerfolg eines dritten OrganisationsunternehmenS, das sich auf die Handels kammern erstreckt, wird unter den Ursachen genannt, die den Rücktritt des Ministers herbeigeführt haben. DaS mag richtig sein. Jedenfalls nimmt das Experiment der Bäckerei-Verordnung unter jenen Ursachen einen Platz ein, und soweit dies in Betracht kommt, braucht man nicht von unverantwortlichen Einflüssen zu reden, die im Uebrigen, wie bei jedem Berliner politischen Geschehniß, ihre Hand im Spiel gehabt haben mögen. Die Bäckereiverordnung ist von berufenen Factoren verurtbeilt worden. Als Herr v. Berlepsch ins Amt trat, begrüßte ibn der frenetische Beifall der Feinde des Fürsten BiSmarck. Aber nur, weil man in seiner Ernennung rin Symptom der Unhaltbarkeit der Stellung des Gehaßten erblickte. Heute sieht man ihn in jenen Kreisen gleichgiltig ziehen, er innert flüchtig an seineMitwirkung an der Handelsvertragspolitik und legt um so mehr Gewicht auf den Umstand, daß er sich den Agrariern nicht heftig genug widersetzt und den Getreide terminhandel nur matt verthridigt hat. Daß in der Zeit einer landwirthschaftlichen Krisis, die zugleich eine solche des Gedeihens von Industrie und Handel ist, der Vertreter dieser Erwerbsgruppen in der Regierung gegen die der Landwirtbschast nothwendigcrweise zurücktreten muß, dafür hat eben nicht Jeder mann Verständniß. Das Urtheil über die Person deS scheidenden Ministers ist durchweg ein ehrendes. Von seinem Nachfolger weiß man zunächst nicht viel mehr, als daß er ein sehr arbeit samer, tüchtiger Beamter und ein besonnener Beurtheiler wirtb- schaftlicher Dinge ist. Die „Germania" hat über Herrn Brefeld noch zu berichten, er sei „katholisch getauft". Das ist eine stehende Ausdrucksweise der ultramonkanen Presse, wenn ein Katholik ein hohes Staatsamt erhält. Mit ihr soll angedeulet werden, daß der Beförderte kein richtiger Katholik sei. Die Fiction von der „Zurücksetzung der Katholiken in Preußen" darf keine Beeinträchtigung erleiden. ES ist bemerkenswerth, daß die ultramontane Partei schon jetzt für die bisher vom Centrum im Reichstage ge leisteten Dienste für das Zustandekommen einer Anzahl von Regierungsvorlagen, insbesondere aber des Bürgerlichen Gesetzbuchs, ihre Rechnung zu präsentiren für zeit gemäß hält. In einer Polemik gegen ein anderes Blatt erklärt die „Köln. Volksztg." in dieser Beziehung Folgendes: sA „Wir wollen außer der Abschaffung des Jesuitengesetzes noch die Schaffung eines christlichen Schulgesetzes, und außer dem verlangen wir Parität — nicht nur bei der Besetzung der Beamtenstcllen, sondern auch bei staatlichen Zuschüssen für Schul- und kirchliche Zwecke, wo die Katholiken häufig benachtheiligt sind. Daß unser Wunschzettel unerschöpflich sei, ist eine einfache Ver leumdung; wir erinnern daran, daß auch Windthorst häufig genug gesagt hat, wir seien mit der Wiederherstellung des 8tutus quo ante (vor dem' Culturkampf) zufrieden. Um keinen Jrrthum aufkommen zu lassen, bemerken wir hierzu nur noch, daß die Windthorst'sche Formel lediglich auf die Staatsgesetzgebung sich bezieht, denn in der Staats verwaltung halten die Katholiken auch vor 1870 oftmals Anlaß zur Unzufriedenheit. Wir fordern in dieser Richtung die Parität, wie sie sich aus der Lage der Verhältnisse und unserer numerischen Stärke ergiebt; nur in diesem Puncte können wir nicht einfach den stalus guo auto fordern, denn die ganze preußische Geschichte durchziehen wie die bekannten rothen Fäden die Taue der englischen Flotte die Klagen der katholischen Bevölkerung über Zurücksetzung." Bekanntlich ist vom Regierungstische aus auf die gleiche, in der letzten und in der vorletzten Saison des preußischen Abgeordnetenhauses angebrachte Klage der zahlenmäßige Nachweis dafür erbracht worden, daß die Bewerbung katholischer Candidaten um die höhere Beamtenlaufbahn keines wegs im Verhältniß zur Bevölkerungszahl steht und daß daher die fortwährenden Beschwerden über Imparität unbegründet seien. Es wurde aber auch ferner dargelhan, daß der Procent satz der katholischen Beamten im Vergleich zu ihrer erheblich geringeren Anwärterzahl sich bedeutend günstiger gestaltet, als der der evangelischen, also eine Klage über Zurücksetzung ungerechtfertigt erscheinen müsse. Herr von Eynern nahm auf Grund dieser Bevorzugung sogar daö Neckt für die Protestanten in Anspruch, sick ihrerseits über Bcnachtheiligung zu beschweren. Trotzdem ist die Unzufriedenbeit über die angebliche Versagung der Gleickberecktigung in Preußen eine siebende Nummer auf dem klerikalen Repertoire. Es wird in allen deutscknationalen Kreisen Befriedigung erregen, raß die reicköfeindlicken Elemente in ter bayerischen Hauptstadt, die den Prinzen Ludwig nach seiner Rückkehr von Moskau durck Huldigungen hatten compromittiren wollen, nunmehr, wenn sie nicht vorziehen, auf die geplante Demon stration ganz zu verzichten, einen vomKaiserund aus Nord deutschland zurückkehrenden Fürsten zu empfangen haben werden. Der Prinz wird nämlich, wie der Telegraph bereits gemeldet, beute in Kiel an Bord der „Hobenzollern" vom Kaiser empfangen und hat dafür gesorgt, daß die bayerischen und die übrigen süddeutschen Particularisten über den Zweck seines Besuches in Kiel durch folgende Notiz der „Allgem. Ztg." unterrichtet werden: Wenn auch Se. kgl. Hoheit der Prinz bekanntlich durch die Seiner Majestät aus eigener Initiative gemachte Mittheilung die von ihm in Moskau gebrauchten Worte bereits vor jeder Miß deutung sichergestellt hat, jo hat es bekanntlich gleichwohl nicht an Versuchen gefehlt, die Rede zu unzutreffenden Folgerungen zu verwerthen. Man wird annehmen dürfen, daß durch Len Besuch des Prinzen bet Seiner Majestät weiteren derartigen Er örterungen der Boden endgiltig entzogen wird." D. h., die ultramontanen und sonstigen bayerischen Hetzer haben den Prinzen veranlaßt, nach Kiel zu reisen und dem Kaiser zu erklären, daß er diesen hetzerischen Versuchen voll ständig fern steht und sie durchaus mißbilligt. Daß es bei dieser Erklärung nicht bleiben wird, ist selbstverständlich. Es werden auch die Ursachen besprochen werden, welche die Stimmung erzeugten, die in der Moskauer Rede Ausdruck fand, und man darf überzeugt sein, daß diese Ursachen beseitigt werden. Das ist der bitterste Wermuthstropfen, der in die Empfangsfreude der Münchener Demonstranten fällt, sofern sie, wie gesagt, nicht völlig auf einen Empfang ver zichten, was ihnen freilich auch nicht als Verdienst angerechnet werden dürfte. Auch die Schweiz hat ihre Agrarfrage. Aus der Westschweiz war der Bundesversammlung ein von etwa 9000 Petenten unterzeichnetes Begehren übersandt worden, welches für den Getreidebau den Schutz des Bundes fordert. Bei der Behandlung der Petition wurde ausgefübrt, daß sich die Productionskosten für schweizerisches Getreide erheblich höher stehen, als die Preise des ausländischen Products, so daß einTheil der schweizerischen Getreidebauern mit Verlust arbeiten muß. Trotzdem ist die Production nock immer verhältnißmäßig erheblich, werden doch an inländischer Frucht jährlich 1 750 000 Doppel- centner Weizen, 380 000 Doppelcentncr Roggen und 160 000 Doppelcentner Gerste auf den Markt gebracht. Auf eine Zollerhöhung will sich die Regierung nicht einlassen. Sie sagt sich: „Obschon der Zoll sehr niedrig ist, würde doch eine Vertheuerung des Brodes vom Volke niemals gebilligt werden; wahrscheinlich würde aber auch die Zollerhöhung der Landwirthschaft selbst wenig nützen, da die Zollerhöhung in vielen Fällen vom Auslande getragen werden und der Einfuhr preis deshalb der gleiche bleiben würde." Man verwies somit die Landwirthschaft auf andere Mittel, d. h. auf die der Selbsthilfe, namentlich auf ein sorgfältiges Vorgehen in der Auswahl des Saatgutes und beim Anbau überhaupt, dann aber auch aus Einrichtungen zur besseren Haltbarkeit des Getreides, eine Eigenschaft, die ihm bisher zumeist abging. Damit aber doch eine Unterstützung dieser Bestrebungen durch den Bund stattfinde und zugleich der gegenwärtige Nothstand einigermaßen gemil dert werde, wurde der BundeSrath von beiden Rathen beauf tragt, die Frage zu prüfen, ob nicht für die Verpflegung der Truppen in Schulen und Cursen eine Verwendung in ländischen Getreides guter Qualität möglich sei. Es sollen zu diesem Zweck Versuche angestellt werden. Der National rath fügte daS weitere Postulat bei, es sri zu untersuchen, ob nicht für die Verproviantirung der Armee und im Kriegs fälle auch der Bevölkerung, sowie ganz allgemein zur Hebung des inländischen Getreidebaues einheimische» Getreide bei den produzirenden Landwirthen gegen angemessene jährliche Ent schädigung aufgespeichert werden könnte. Bon da bi« zu dem von den Petenten verlangten Monopol wäre dann allerdings der Schritt nicht mehr sonderlich groß. Am 27. Juli tritt in London der internationale soria- listische Eongretz zusammen, für den bereits 800 Delegirte auS allen Theilen der Welt ihre Theilnahme angekündigt haben. Um den zeitraubenden Erörterungen über die Zu lassunz zum Congreß zu entgehen, die in Zürich zwei Tage in Anspruch nahmen und mit der Vertreibung ver An archiften endeten, will eine der eingezangenen Resolutionen Theilnahme am „parlamentarischen Leben als die erste und wesentlichste Form der politischen Action" erklären. Mit dieser Interpretation bleiben die Anarchisten alsGegner der Betheiligung derArbeiter- vertreter am parlamentarischen Treiben dauernd von den Congressen ausgeschlossen. Dagegen wollen die unter Domela Nieuwenhuis marschirenden Holländer alle socialistischen Ver einigungen und Gewerkvereine, „die die Nothwendigkeit der Organisation der Arbeiter anerkennen", in ihren Vertretern zum Congreß zulassen. Die unabhängige Vereinigung von Schneidern gehl einen Schritt weiter und fordert einfach die Zulassung der Anarchisten, während die Socialdemokraten von Reading alle ausschließen wollen, die nicht die Notb- wendigkeit der politischen Action anerkennen. Die holländischen Zimmerleute wünschen die Zeit des Congresses lediglich der Erörterung wirthschaftlicher Fragen zuzuwenten, die Spanier schlagen vor, die mündliche Discussion durch schriftliche Erläuterung zu ersetzen. DaS französische revolutionairc Centralcomitv hat eine Resolution eingesandt, welche die Erlangung der politischen Gewalt durch das Proletariat für wünschenswert!) erklärt. Die französische Arbeiterpartei möchte die Haltung der Arbeiter gegenüber der Colonial Politik discutirt und die Aufmerksamkeit des Congresses auf die landwirthschaftliche Lage Europas und ihre Tragweite für den Svcmlisinus lenken. Sie schlägt ferner allmähliche Verkürzung des Militairdienstes in den europäischen Staaten mittels eines internationalen Abkommens vor, während die Holländer den alten Vorschlag wieder aus nehmen, eine Kriegserklärung einer Regierung durch einen allgemeinen Streik zu beantworten. Gegen die „nutz lose und gefährliche Jllussion, bekannt als der General- Streik", wendet sich die englische unabhängige Arbeiterpartei, die auch den Vorschlag einer Universalsprache macht, als welche die socialdemokratische Föderation das Englische erklärt wissen will. — Man sieht: soviele Köpfe, soviele Sinne und von englischer Seite wieder ein gut Theil Präten- sion auch auf diesem Congreß, der die „Solidarität" und „Harmonie" den Genossen abermals im schönsten Lichte zu zeigen verspricht. Allen Anzeichen nach nähert sich der große Petersburger Streik seinem Ende. Die Erregung, die sich in der jüngsten Phase des Streiks im Gegensätze zu der früheren Ruhe in den Fabrikvierteln bemerkbar gemacht hatte, ist fast vollständig Zim Pinkerton und ich. Roman von R. L. Stevenson und Lloyd OSbourne. Autorisirte Bearbeitung von B. Kätscher. Nachdruck «erboten. Erste» Capitel. ES gab meiner Ansicht nack keinen besseren und sckoneren Mann als meinen Vater, aber auch keinen unglücklicheren. Er war unglücklich in seinem Geschäft, in seinen Ver gnügungen, in der Wahl seines Wohnortes und — eS thut mir leid, daS gestehen zu müssen — in seinem Sohn. Er begann seinen Lebenslauf als Landvermesser, wurde bald darauf Realitätenbesitzer und warf sich mit großem Eifer und Geschick auf allerlei Spekulationen, die ihm den Ruf des „geriebensten Mannes" im Staate Muskegon einbrachten. „Dieser Dodd hat einen ausgezeichneten Kvpfl" pflegten die Leute zu sagen, aber ich selbst theilte ihre Ueber- zeugung nicht. Er kämpfte den täglichen Kampf des GeldzusammenscharrenS mit der Miene eine» Märtyrers. Früh stand er auf, aß hastig, kam mißmuthig und abgespannt nach Hause, versagte sich jedes Vergnügen — ja ich zweifelte daran, daß er über haupt für die Freuden des Lebens empfänglich war — und verschwendete Schätze von Selbstverleugnung und Gewissen haftigkeit in Weizenringen und Aluminmmspeculationen. Ich interessirte mich leider nur für die Kunst. Ich hielt es für den Lebenszweck der Menschen, die Welt mit möglichst vielen Dingen, die zur Befriedigung des Schönheitssinnes beitragen, zu bereichern, und ich hatte mich in dieser Richtung gerne möglichst fleißig bethätigt, wa» mir viel Vergnügen gemacht haben würde. Ich erwähnte meinem Vater gegen über den letzteren Punct nicht: er la- jedoch in meinem Innern und erklärte meine Sehnsucht al» einen Ausfluß der Selbstsucht. „Und wa» ist denn Dein Leben?" warf ich ein. „Du suchst nur Geld zu verdienen und entziehst e» anderen Leuten." „Loudon, Loudon!" entgegnete er seufzend, „die liebe Jugend hält sich für allzu klug! Man drehe die Sache, wie man will, der Mensch muß arbeiten in dieser Welt, er muß entweder eia ehrlicher Mansch werden oder rin Dieb!" Und wieder seufzte er schwer, — daS war ihm schon zur Gewohn heit geworden. In mir bäumte sich hier und da der Trotz auf, mein Vater aber blieb stets sanft. Ich kämpfte für meine eigene Freiheit, für meine eigenen Vergnügungen, er einzig und allein sür die Wohlfahrt seines einzigen KindeS — die meinige — und verzweifelte nie an mir. „Es steckt ein guter Kern in Dir, mein Sohn", pflegte er zu sagen, „das Blut wird eines Tages sprechen, und dann wird noch Alles gut werden. Ich fürchte nicht, daß mir mein Junge Schande machen werde, nur verdrießt es mich, daß er manchmal Unsinn schwatzt", dabei streichelte er mich zärtlich. Nachdem ich das Gymnasium absolvirt hatte, schickte er mich nach MuSkegon auf die Handelsschule. Aus länder dürften sich nur schwer dazu verstehen, an das Vorhandensein der Erziehungsanstalt, die ick schildern werde, zu glauben, und doch hat sie in Wirklichkeit bestanden — sie besteht vielleicht heute noch — und in unserem Staate hielt man sie für eine des neunzehnten Jahrhunderts und der Civilisation würdige Errungenschaft. Ich scherze nickt, es ist mein bitterer Ernst. Als mein Vater mich in den Eisenbahnwagen schob, glaubte er zweifel los, daß er mir, indem er mich auf jene Handelsschule schicke, den direkten Weg zur Präsidentschaft der Vereinigten Staaten bahne. „Loudon", sagte er, „ich biete Dir jetzt eine Gelegenheit, wie sie Julius Cäsar seinem Sohne nicht hätte bieten können! Du wirst das Getriebe der Welt kennen lernen, ehe die Aufgabe an Dich berantritt, den Kampf mit demselben ernstlich aufzunehmen. Vermeide über eilte Spekulationen, sei stets ein Gentleman und be schränke Dich auf gesunde, solide Geschäfte in Eisenbahn- werthen. Getreidespeculationen sind verlockend, aber ge fährlich, ich würde mich in Deinem Alter nicht daran ge wagt haben. Doch kannst Du es wohl mit anderen Artikeln versuchen. Sehe Deinen Stolz darein, Deine Geschäftsbücher stets auf dem Laufenden zu erhalten, und wirf nie gute« Geld hinaus, um schlechtes zu retten. Und jetzt, mein Junge, küsse mich zum Abschied! Vergiß nicht, daß Du ein einziges Kind bist und daß Dein Vater Deinen Lebenslauf mit liebe voller Spannung verfolgt." Die Handelsschule, auf die ich nun kam, war ein prächtige», geräumiges Gebäude, das mitten im Walde stand. Die Luft war gesund, daS Essen vorzüglich und daS Schulgeld dementsprechend sehrhoch. Elektrische Drähte verbanden uns, um die hochtrabenden Worte des Prospectes zu gebrauchen, „mit den verschiedenen Mittelpunkten der Welt". Im Lesezimmer lagen sehr viele Handelsblätter auf, wir führten die Sprache von Wall-Street (der New-Aorker Börse) und die Schüler — fünfzig bis hundert halbwüchsige Burschen — beschäftigten sich haupt sächlich damit, einander um nominelle Beträge in sogenanntem „Anstaltsgcld" zu betrügen oder wenigstens den Versuch dazu zu machen. Im Laufe des Vormittages ertheilte man uns einige wirkliche Unterrichtsstunden, in denen wir Deutsch, Französisch, Buchhaltung u. dergl. lernten, aber die meiste Zeit opserten wir unserer Schein-Börse. Tort lehrte man uns praktisch in Produkten und Werthpapieren spielen, und darin lag das Wesentliche unserer Ausbildung. Da aber keiner der Schüler auch nur eine Garbe Weizen oder ein einziges wirkliches Wertbpapier sein eigen nennen konnte, blieb jedes wirkliche Geschäft ausgeschlossen, und nur die unbemäntelte Jobberei — also gerate DaS, was den Ruhm des wahren Geschäftslebens bildet — wurde uns beigebracht, und zwar mit Anspannung aller Kräfte und Aufbietung glänzender Bühneneffecte. Unsere sogenannte Börse wurde von der wirklichen Börse beeinflußt. Wir mußten das Steigen und Fallen der New-Aorker Preise genau verfolgen; wir mußten Bücher führen und dieselben zu Ende jeden Monats dem Besitzer der Anstalt oder seinen Hilfslehrern zur Prüfung unterbreiten. Um die Ähnlichkeit mit Wall - Street noch mehr hervorlreten zu lassen, hatte daS erwähnte AnstaltSgelv nach dem Muster der Spielmarken einen thalsächlichen Marktwerth — einen solchen von einem Cent pro Dollar. Jeder Schüler wurde von seinem Vater oder Vormund bei Eintritt in die Anstalt mit einer größeren oder kleineren Summe versehen. Nach vollendeter Ausbildung konnte er seinen ganzen Vorrath an die Anstalt zum Marktwert!, zurückverkaufen. Häufig genug kam es jedoch vor, daß ein geschickter Speculant noch während des LehrcnrseS einen Tkeil seines Anstaltsgeldes losschlug, um sich in einer nahen Ortschaft insgeheim gütlich zu tbun. Kurz, es konnte kaum eine schlechtere Erziehungsmethode geben, als die in dieser Handelsschule geübte. Als mich am Tage meiner Ankunft einer der Hilfslehrer zu dem mir zugetheilten Schreibpult führen wollte, fühlte ich mich von dem Lärm und der Verwirrung, die in der Halle herrschten, überwältigt. An der dem Eingang gegenüber liegenden Wand hingen schwarze Tafeln, die mit fortwährend wechselnden Zahlen bedeckt waren. So oft neue auftauchten, drängten sich die Schüler mit ohrenbetäubendem, für mich unverständlichem Geschrei in die Nähe des Brettes, ja, Viele kletterten, um besser sehen zu können, auf Stühle und Bänke und machten, heftig gestikulirend, in ihre Notiz bücher Aufzeichnungen. Ich hatte noch nie einer un angenehmeren Scene beigewohnt. Als sich mir der Gedanke aufdrängte, daß dieser Handel eigentlich illusorisch sei und das ganze auf dem Markte coursirende Geld vielleicht kaum zum Ankauf eines guten Anzuges genügen würde, wollte mich ob dieser unerklärlichen Erregung der Theilnehmer Staunen erfassen, doch erinnerte ich mich rechtzeitig daran, daß selbst begüterte erwachsene Männer und Frauen ihren Gleich- muth zu verlieren pflegen, wenn sie beim Kartenspiel einige Groschen verlieren. Meine Verwunderung concentrirte fick jetzt auf den Hilfslehrer, der den Zweck unseres Kommen? vergessen zu haben schien, mitten in dem Gewirr stehen blicb und, in den Vorgängen an der schwarzen Tafel aufgehend, mir plötzlich ins Ohr schrie: „Sehen Sie, sehen Sie, die Preise fallen! Die Centre mineure beherrschen den Markt seit gestern!" „Das ist doch gleickgiltig, da die ganze Geschichte nur eine Posse ist", entgegnete ick, mich nur mit Mühe verstänt lich machend, denn ich war nicht gewöhnt, in einem solchen Heidenlärm zu sprechen. „Ganz richtig, und Sie müssen sich immer vor Augen halten, daß der eigentliche Nutzen für die Schüler in der Buck Haltung liegt. Ich hoffe, daß Sie mir Gelegenheit geben werden, Ihnen zu Ihren Büchern zu gratulirrn. Sie fangen mit zehntausend Dollars ÄnstaltSaeld an, einer Summe, die Sie während Ihrer ganzen Studienzeit hier über Wasser halten sollten, wenn Sie vernünftig sind und sich nur auf gesunde, solide Geschäfte einlassen. . . . Doch waS ist daö?! brach er ab, denn seine Aufmerksamkeit wurde wieder von den wechselnden Zahlen in Anspruch genommen: „Sieben, vier, drei! Dodd, Sie haben Glück! Da» ist daS famoseste Zusammentreffen günstiger Umstände, da» wir in diesem Semester zu verzeichnen hatten! Und zu denken, baß sick dieselbe Scene auch in New-Aork, Chicago, St. LouiS und allen anderen GeschäftSmittelpuncten abspielt! Für mein Leben gerne wollte ich mich mit diesen Burschen um die Wette in den Strudel stürzen, wenn r- nicht gegen die HauSregel verstieße", sagte er, sich vor Vergnügen die Hände reibend. „WaS würden Sie tbun?" wagte ich zu fragen.
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