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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 06.07.1896
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1896-07-06
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18960706029
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1896070602
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1896070602
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1896
- Monat1896-07
- Tag1896-07-06
- Monat1896-07
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Größere Schriften laut unserem Preis- verzeichniß. Tabellarischer und Ziffernjatz nach höherem Tarif. Sptr«-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen - Ausgabe, ohne Postbeförderung ^l 60—, mit Postbefvrderung 70 —. Aunahmeschlnß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Vormittag- 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittags -Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeigen find stets au dir Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig 9V. Jahrgang. Amtlicher Theil. Versteigerung. Dienstag, Sen 7. Juli 1898, 19 Uhr Bormittags sollen im Verstcigcrungsraume des Könial. Amtsgerichts allhier I größere Partie Möbel, 1 Pianino, verschiedene Waarenschränke und Regale, 1 Geldschrank, 1 Brückenwaage, 1 Posten Bett- und Schürzenzeuge, Damast re., 1 großer nnd 2 kleine Musikautomaten, 20 Reisekofser, 200 Paar Schlittschuhe, 1 Feldschmiede, 1 Wurst maschine, 2 Farbemühlen, 29 Dutzend div. Feilen, 1 compl. Koch- Herd und verschiedene andere Gegenstände öffentlich an den Meist bietenden versteigert werden. Leipzig, den 4. Juli 1896. Der Gerichtsvollzieher des König!. Amtsgerichts. Seer. Thierbach. Politische Tagesschau. * Leipzig, 6. Juli. Bei Gelegenheit der Vertagung des Reichstags ist dem selben wieder, weil er das Börscnrcformgeset; beschlossen bat, in der freisinnigen Presse, je nach Temperament der Kritiker, Tborheit oder Böswilligkeit nachgesagt worden. Dergleichen Verurteilung im Allgemeinen hat man schon oft gehört und wird sie noch geraume Zeit weiter hören müssen. Daneben aber vergeht kaum ein Tag, wo die Zweckmäßigkeit einzelner Bestimmungen, die von der Börsenpresse ebenso leidenschaftlich bekämpft worden waren, wie das ganze Gesetz, nicht direct oder in- direct Anerkennung fänden. Jetzt wieder angesichts deS ProcesseS Hermann Friedmann. Ganz wie nach der Verurtheilung des Hugo Löwy und, wie wir nicht bezweifeln, mir demselben Rechte, versichern die freisinnigen Organe, die Börse habe Friedmann schon seit langer Zeit als unwürdig und ehrlos angesehen. Diese Organe könnten sich dabei auf den in dem Proceß fungirenden Staatsanwalt berufen, der in seinem Plaidoyer gesagt bat: „An der Börse verkehren sehr viele der acht barsten und ehrenwertesten Leute, die an dem Treiben des Friedmann Anstoß nahmen." Die Börsenblätter unter lassen jedoch diese Bezugnahme, und zwar offenbar aus dem Grunde, weil der Staatsanwalt hinzugesügt bat: „Sie (die ehrenwerten Leute) waren nicht im Stande, Friedmann von ihren Nockschößcn abzuschütteln; sie hatten kein Recht dazu, ihn von der Börse fortzuweisen, denn die Börsenordnung schreibt genau vor, wann eine solche Maßregel zu erfolgen bat." Das geschieht auch in dem Börsengesetz, aber dieses bietet doch viel leichter eine Handhabe, einem notorisch „Unwürdigen und Ehrlosen" die Börse zu verbieten. Und der Abschnitt des Gesetzes, das die Mittel zur Fernhaltung verworfener Elemente bezeichnet, war derjenige, an dem die geräuschvollste Opposition einsetzte und den man auf dem „Berliner Tag" als gegen die Ehre des „deutschen Kaufmanns standes" gerichtete Gesetzgebung zurückweisen zu müßen glaubte! Der Proccß Friedmann übt nachträglich eine beißende Kritik an der Einsicht und Unbefangenheit der Führer der gegen das Börsengesetz und insbesondere gegen das Capitel über die Ehrengerichte in Gang gebrachten, aber, wie anerkannt werden muß, schwächlich gebliebenen Bewegung. Ebenfalls heftigen Widerspruch, wenn auch mehr in der Presse, hat die Bestimmung hervorgerufen, wonach Aktien von neuen Unternehmungen erst ein Jabr nach der Gründung an der Börse eingeführt werden dürfen. Ein Berliner Blatt, das bei der Bekämpfung dieser Vorschrift nicht zurückgestanden, schreibt aber heute: „Bei den zahlreichen Emissionen der letzten Monate kann man eS als sicher an nehmen, daß, wenigstens so weit es sich um Industrie papiere bandelt, die Emissionshäuser und die etwaigen Vor besitzer fast das gesammelte Material im Schranke behalten haben. Man wird nun versuchen, die Papiere allmählich an den Markt zu bringen. Der Erfolg wird zum größten Theile von der Lage des Geldmarktes abhängen, der sich allerdings gegenwärtig wieder günstiger zu gestalten scheint; aber wünschenswertster wäre eS, daß das Privatcapital jene neuen Papiere unter keinen Um ständen früher erwerbe, als bis wenigstens die ersten Bilanzen und Jahresberichte über die Entwickelung der neuen Unternebmungen vor liegen." Von diesem Wunsche des freisinnigen Blattes läßt sich das geschmähte Börsengesetz leiten. Die Zusicherungen, welche der Reichskanzler und der Staatssecretair von Boetticher gelegentlich der dritten Berathung des Bürgerlichen Gesetzbuches hinsichtlich der Aufhebung des in einer Reihe von Bundesstaaten bestehenden Verbots, das;Vereine miteinander in Verbindung treten, abgegeben hat, lassen keinen Zweifel daran zu, daß die nächsten Parlamentssessionen in den betreffenden Einzel staaten sich ernstlich mit der Frage der Revision der Vereinsgesetzgebung zu befassen staben werden. Es kann dabei unmöglich ausbleiben, daß in Verfolg dieser Frage der Blick auf die Thatsache gelenkt wird, daß den Bestrebungen, welche der Reichstag mit großer Mehrheit durch die Annahme des sogenannten Notb- VereinSgesetzeS am 17. Juni zu den seinigen gemacht hat und die inhaltlich auch bereits vom BundeSrath als berechtigt anerkannt worden sind, namentlich soweit sie sich auf politische Vereine beziehen, in manchen Bundesstaaten theilS durch den Mangel an jeder gesetzlichen Regelung deS Vereins- und Versammlungswesens, theils durch das directe Verbot aller politischen Vereine eigentlich jede feste Grundlage ent zogen ist. In Mecklenburg-Strelitz und in Lippe- Detmold existiren gar keine gesetzlichen Vorschriften über das Vereins- und Versammlunzswesen. In Oldenburg, Sachsen - Altenburg, Schwarzburg - Sonders hausen, Sch warzburg-Rudol stabt, Waldeck, Re ußj.L. und Schaumburg-Lippe besteht noch immer der tz 8 des Beschlußes der Deutschen Bundesversammlung vom 13. Juli 1854 zu Recht, welcher u. A. auch „alle Arbeiter-Vereine oder Verbrüderungen" verbietet, die politische Zwecke ver folgen. Neuß ä. L. hat diesen Beschluß durch landesherr liche Verordnung vom 28. April 1855 sogar zu einem Verbot aller politischen Vereine ausgedehnt. Der 8 8 dieser Ver ordnung bestimmt kurz und bündig: „politische Vereine sind in Unserem Fürstenthume gänzlich unterfagt". Die Bil dung eines politischen Vereins wird an den Theilnehmern mit einer Geldbuße von 20 bis 100 Thalern oder Gefängniß bis zu 6 Monaten geahndet. Dabei enthält der H 9 der Verord nung die Bestimmung, daß „jede Verbindung Mehrerer zum Zweck der Besprechung und Verhandlung politischer Fragen auch dann als politischer Verein zu betrachten ist, wenn sie blos temporär oder nur zur Besprechung nnd Verhand lung über bestimmte politische Fragen und Vor kommnisse gebildet wird, mithin eigentlich keinen bleibenden Zweck hat," und der § 10 erklärt „auch solche Vereine, welche sich die Verhandlung über Gemeindeangelegen heiten zum Zweck machen," als „politische Vereine." Nicht minder merkwürdig ist das Vereinsgesetz im Herzogthum Anhalt vom 26. December 1850. Im ß 10 desselben ist die Bestimmung enthalten, daß „weder Vorstand noch Mitglied eines politischen Vereins sein kann, wer nicht Staatsbürger ist." Obwohl nach Art. 3 der Reichsverfassung der Angehörige eines jeden Bundesstaates in jedem anderen Bundesstaate als In länder zu behandeln und zum Genüsse aller bürgerlichen Rechte unter denselben Voraussetzungen zuzulasscn ist, wie der Einheimische, ist diese Bestimmung durch alle Instanzen hindurch als zu Recht bestehend anerkannt worden. Diese Blumenlese aus den im Reich bestehenden 26 Vereinögesetzen läßt schon erkennen, daß in vielen Fällen erst noch die Vor aussetzung für die Wirksamkeit einer Maßnahme zu schaffen ist, wie sie in dem Beschlüsse des Reichstags vom 17. Juni d. I. angestrebt wird. In der fraiijösischk» Deputirtenkammer ist am Donnerstag ein Mann wieder zum politischen Leben erwacht, der bereits allgemein für ubgethan gehalten wurde: Maurice Rouvier, der ehemalige Handels-, Finanz- und Premier minister, eine der im Panamaproceß verkrachten parlamen tarischen Größen, der Empfänger von 50 000 FrcS. aus der Hand des Baron Reinach. Wahre Wunder wirkte die Be redsamkeit des zweifellos ein hervorragendes Finanztalent repräsentirenden ehrgeizigen Parlamentariers, als er in zwei stündiger Auseinandersetzung den Rentensteuerentwurs des Cabinets Meline bekämpfte. Im Folgenden geben wir den wichtigsten Theil der Rede wieder, womit Rouvier gewissermaßen dem gegenwärtigen Finanzminister Cochery den Todesstoß versetzte: „Es giebtDtnge, sagte er, von denen man sowenig als möglich sprechen soll, aber an die man immer denken muß. Ich will den Geist des Chauvinismus nicht herauswrdern. Doch würde derjenige verrückt, ja ein Verbrecher sein, der uns veranlaßte, das Schwert zu ziehen aus anderen Gründen als um einen Angriff abzuwehren oder nm das zu erhalten, was uns vom vaterländischen Gebiete noch bleibt. Wer steht indeß sür die Zukunst? Hängt es von unS allein ab, den Krieg zu ver meiden? Können wir nicht schon morgen die Ehre des Landes zu vertheidlgen haben? Und was würde dann der Effect der Rentensteuer sein? Glauben Sie, daß im Jahre 1871 die Capttalten zur Stelle gewesen wären, wie sie eS waren, wenn eine Rentenstener bestanden hätte? Auch ein Defensivkrieg ist kostspielig. Am Tage der Kriegserklärung brauchen wir 500 Millionen, und 2'/, Milliarden sind nothwendig, um den Kampf auSzuhalten. Wo wollen Sie diese hernehmen? Sie haben die französische Ersparniß hierfür. Thun Sie daher nichts, was verhindern könnte, sie in Fluß zu bringen. Di« achtzehn Millionen, die wir heute aus der Renten st euer ziehen, können uns eines Tages mehr als eine Milliarde kosten. Das Beste, was wir besitzen, ist unser Lredit. Ich weiß nicht, ob unsere Nach folger zu Maßregeln gezwungen sein werden, wie man sie uns heute vorschlägt. Lassen Sie wenigstens die jetzige Generation erst ver- schwinden, denn sie kann nicht eine frevle Hand an das wunderbare Werkzeug legen, daS die Wiederanfrichtung der Vaterlandes er möglicht hat." Der Beifall, der dieser Rede folgte, war ein ganz enormer und ebenso allgemein als aufrichtig. Freilich, als Rouvier von der Rednerbühne herabstieg, streckte sich ihm noch keine Hand beglückwünschend entgegen; seine persönliche Vereinsamung auf den Mittelbänken wird daher einstweilen noch fortdauern; aber die gesummte Presse gesteht ibm heute einen fast beispiel losen Erfolg zu, und selbst sein ärgster Feind, Henri Rochefort, zollt ibm im „Jntransigeant" widerwillige Anerkennung. Nach einer Meldung deS k. und k. österreichischen Tele graphenbureaus aus Kreta haben in Folge der Mitthcilung der Pforte, daß sie die von den Mächten gewünschte Ein- stellung der Feindseligkeiten gegen die Aufständischen auf Kreta anbefohlen habe, sowie auf Ersuchen der Pforte um Intervention der Consuln auf Kreta die Boi- schafter die Consulate in Kanea angewiesen, die Epi- tropie zu verständigen, daß die Zugeständnisse der türkischen Regierung den Anträgen und Intentionen der Mächte entsprechen und daß die Mächte für mebr nicht eintreten können. Die Epitropie möge die Con- cessionen annehmeu und an der Beruhigung Mitwirken. Auf Wunsch der türkischen Regierung und mit Erniäck- tigung der griechischen Regierung bildete der griechi s ck e Generalconsul in Kanea eine Commission von fünfzehn Notabeln, welche sich in die Bezirke Kissamo, Selino, Kydonia nnd Apokorona begab, um die Be völkerung über die Lage aufzuklären und die Deputaten zu einer versöhnlichen Haltung, sowie zum Erscheinen auf dem Landtage zu veranlassen. Der Erfolg erscheint fraglich. Gerüchtweise verlautet in Kanea, die Pforte sei der Revision des Vertrages von Haleppa nicht ab geneigt. — Die Haltung der Mächte ist durchaus correck, und eS wird nun Sache der Kretcnser sein, sich des Wohl wollens derselben nicht verlustig zu machen. Den Krctensern ist gewährt, was bis vor drei Monaten noch ihre eigenen Wünsche übertroffen hätte, und es kommt lediglich darauf an, daß ihnen auch Garantien für die Einhaltung des Versprochenen gewährt werden. Die Mächte selbst können diese Garantien schwerlich übernehmen, aber sie werden nicht verfehlen, ihren Einfluß bei der Pforte in verstärktem Maße dahin geltend zu machen, daß die Pforte hält, was sie zusagt. Mehr könne sie leider nicht thun. In erster Linie hantelt es sich für sie um die Erhaltung der Türkei, welche ein gebieterisches Postulat deS europäischen Friedens ist, nicht nm die Klagen der Kretenser, so berechtigt dieselben auch sind. Darin sind alle Mächte eins, und wenn dies die Kretenser nicht beachten, sondern den Widerstand fortsetzen, so thun sie es auf eigene Verantwortung und Gefahr. Die Zeit der LoStrennung vom osmanischen Reiche ist noch nicht da. Seit einem halben Jahrhundert wird in England die Frage der Schwägrrinnen-Ehe parlamentarisch behandelt. Als am 23. Juni das Oberhaus mit einer Mebrbeit von 28 Stimmen die die Ehe mit der Schwester der Verstorbenen gestattende Bill in zweiter Lesung, also im Principe, angenommen hatte, schien die Lösung endlich in sicherer Aussicht und wurde auch im liberalen Lager mit großer Befriedigung den Lords lereitS auf das „Haben" geschrieben. Aber die Rechnung war „ohne" die dritte Lesung, nämlicb die Comit6-Berathung, gemacht und hat sich leider als irrig erwiesen. Im ComitS haben (wie voran-zuseben war) die LordS die Bill zwar nicht verworfen, aber mit so viel kirchlichen Zusätzen belastet, daß sie in dieser vom Oberhause gebotenen Form dem Unterbause einfach unannehmbar wird. Man soll, beschlossen die PeerS, die Schwester der verstorbenen Frau wohl heirathen dürfen, aber muß dann auch auf den Verlust der ans der Zugehörig keit zur Kirche entstammenden Rechte gefaßt sein. Man wird vom Abendmahle ausgeschlossen und den Kindern ans solcher Ebe die Taufe versagt. Eni Geistlicher, welcher die Ebe mit der Schwester seiner verstorbenen Gattin ringelst, verfällt der Kirchenbuße, und es ist ihm nicht einmal die Einsegnung einer solchen Ebe gestattet. Im Unterhause wird die Bill in dieser Jim Pinkerton und ich. Roman von R. L. Stevenson und Lloyd Osbourne. 7j Antorisirte Bearbeitung von B. Kätscher. NaLtruck verboten. Wenn ich sie auch von der Schuld der Unaufrichtigkeit freisprach, so war ich doch weit davon entfernt, ihr Unheil für unfehlbar zu halten. Gar mancher Künstler vor mir ist fchon verackstet und verhöhnt worden und hat es schließlich dahin gebracht, daß seine früheren Verächter ihn um seinen Ruhm beneideten. Ich, Loudon Dodd, der sich mit Entrüstung geweigert hatte, einen anderen als den künstlerischen Beruf zu erwählen, der in dem Saint-Josepher „Sonntags- Herald" als Patriot und Künstler auSposaunt worden war, sollte mich wie eine beschädigte Waare heimschicken lassen, sollte eingesteben, daß ich mich in mir selbst getäuscht, sollte mit der Mütze in der Hand bei den Bekannten meines Vaters die Runde machen, um sie zu bitten, mich ihre BureauS fegen zu lassen? Nein, nimmermehr! Lieber bei dem selbsterwäbltcn Berufe verhungern. Mögen die Beiden, die mir ihre Hilfe verweigerten, entweder niit Neid meine Erfolge erleben oder an meinem Armensarge Thränen der Rene vergießen! Wie mir der Magen knurrte! Und dort am Ende jener schmutzigen Straße erhob sich so verlockend das Speisebaus für Droschkenkutscher! Vielleicht konnte ich doch noch dies eine Mal meinen rebellischen Magen dort befriedigen? Wie aber, wenn gerade heute die Äürfel zu meinen Ungunsten sielen und der Wirth mich ohne viel Feder lesens zur Thüre binauScomplimentirte, mir vielleicht gar Grobheiten ins Gesicht warf? Nein, das könnte ick nicht mehr ertragen! Im Laufe des Vormittags batte ich mir schon genug Demüthigungen gefallen lassen müssen und ich wollte lieber nichts essen, als nock mehr Schmach erdulden. Der trostlosen Zukunft sab ich tapfer entgegen, aber meinen Fuß in jenes Speisebau« zu setzen nnd den Zorn des WirtbeS über mich ergeben zu lasten, dazu fehlte mir der Mutb. So blieb ich denn sitzen, wo ich saß, ein Opfer der wechselndsten Stimmungen. Bald überkam mich eine wobl- tbuende Schläfrigkeit, dann wurde eS ganz hell und klar in meinem Kopfe, ich baute die schönsten Lustschlösser, träumte von beispiellosen Reickthümern, bestellte in den vornehmsten Restaurants die ausgesuchtesten DinerS und verzehrte sie mit unbeschreiblichem Wohlbehagen. Ach, wie die feurigen Weine meine Lebensgeister belebten! Leider dauerte dieser Zustand nur kurze Zeit, um dann einer geistigen Schlaffheit zu weichen, die mich die Welt und mein Elend vergessen ließ. Die Dämmerstunde war bereit- hereingebrochen, al- mich ein kalterNegenschauer au- dem Schlaf, in den ich gesunken, erweckte. Ich sprang auf, bis auf die Haut durchnäßt. Einen Moment stand ich verwirrt da, dann zogen mit Blitzesschnelle all' jene Phantasiebilder und die wirklichen Ereignisse an meinem geistigen Auge vorüber. Wahrheit und Dichtung sonderten sich und eS zog mich wie mit Stricken in da- Speisehaus, aber ich widerstand der Versuchung. Sagte mir: ..(jul ckort, ckiuo" und machte mich mit schlotternden Beinen auf den Heimweg. „Monsieur Dodd, ein eingeschriebener Brief ist für Sie angekommen", begrüßt« mich der Portier. „Der Postbote wird ihn morgen früh wiederbringen." Ein eingeschriebener Brief für mich?! Ich hatte keine Ahnung, was derselbe enthalten mochte, und gab mir auch gar nicht die Mühe, es zu errathen; noch weniger lag es in meiner Absicht, eine Unedrlichkeit zu begehen, aber di« Lügen flößen mir, wie etwas Natürliches unwillkürlich von den Lippen: „O endlich meine Monat-beiträge!" rief ich. „Wie un angenehm, daß ich den Briefträger verpaßt habe. Können Sie mir bis morgen 100 Francs leiben?" Da ich nie vorher versucht hatte, den Hausbesorger anznpumpen, und da der eingeschriebene Brief al- Bürg schaft diente, gab mir der brave Mensch, was er gerade bei sich batte: Drei Napoleons und einige Francs in Silber. Ich steckte das Gelb mit sorgloser Miene in die Tasche, plauderte noch ein Weilchen mit ihm und schlenderte dann gemächlich zur Thüre hinaus. Kaum jedoch war diese hinter mir geschlossen, lief ich, so schnell mich meine zitternden Füße tragen konnten, in- nabe Caf4 de Cluny. Die französischen Kellner sind in der Regel sehr flink uud geschickt genug und ich hatte kaum soviel Anstand, ruhig zu warten, bi- der mich bedienende den Wein, da- Weißbrod und die Butter brachte. Mit Heißhunger stürzte ich mich auf Alles. Vorzügliches Brod des Eass Cluny, vorzüalicheS erste- Gläschen alten Pomard«, unbeschreibliche erste Olive aus dem tivrs ck'oeuvre — auf meinem Todtenbette, wenn mein LebenSftämmchen zu flackern aushört, werde ich mich noch an eueren Wohlgeschmack erinnern! lieber den weiteren Verlauf jenes MableS, ja über den Rest des Abends schweben dichte Wolken, hervorgerufen durch Burgunder.... Worauf ich mich aber ganz deutlich besinne, da- sind das Schamgefühl und die Verzweiflung, die mich am nächsten Morgen packten, als ich bedachte, was ich gethan, wie ich den arglosen Portier hintergangen und, al« ob das nicht genug gewesen wäre, wie ich die Schiffe hinter mir verbrannt hatte. Der Hausbesorger wird sein Geld zurück haben wollen, ich werde es ihm nicht geben können, der Scandal im Hause ist fertig und der Urheber desselben wird sein Bündel schnüren müssen. „Wie kommen Sie dazu, meine Ehrlichkeit in Zweifel zu ziehen?" Hatte ich am Tage vorher Myner ungefähren, — diesem unglücklichen Taz, diesem Tag vor Waterloo, vor der Sintfluth! An diesem Tage hatte ich da- Dach über meinem Haupte angezündet, meine Zukunft und meine Selbst achtung sür ein Diner im Cafv Cluny verschachert! Inmitten meines Jammers kam der eingeschriebene Brief. Er trug den Poststempel San Francisco, wo Pinkerton be reits in verschiedenartige Geschäfte verwickelt war. Der treue Junge erneute sein Anerbieten, mir Monatsbeiträge zu schicken, erhöhte dieselben auf 200 Franc-, da seine günstige Lage ihm die« gestatte und legte für den Fall, daß ich mich in einer Klemme befinden sollte, einen Check auf -0 Dollar- bei. Ich hätte wohl bei meinem Vor satz bleiben und da« Geld nicht annehmen sollen, um mich nicht mit Haut und Haaren an Jim zu verschreiben, aber vor der Nvthlage, wir dir meinige war, mußle sich der Stolz beugen und ich vermochte eS kaum zu erwarten, daß di« Banken geöffnet wurden, damit ich den Check einlöscn könne. ES war anfangs December, als ich meine Freiheit ver kaufte uud sechs Monate lang schleppte ich eine sich immer verlängernde Kette von Dankbarkeit und Unruhe. In Folge einiger neuer, nickt unbedeutender Schulden, die ich mir auf bürdete, gelang es mir, mich selbst zu übertreffen und den Genius von MuSkegon durch einen kleinen, ober hockpatriotischen „Bannerträger" zu verdunkeln, den ich für den „Salon" be stimmte, wo er auch Aufnahme fand und monatelang unbe achtet in einem Winkel stand, ehr er. ebenso patriotisch wie vorher, zu mir zurückkehrte. Ich warf nun, um mit Pinkerton »u sprechen, „meine ganze Seele" auf Uhrstiinder und Leuchter. Der Teufel als Leuchtrrfabrikant hätte an meinen Entwürfen seine Freude gehabt und doch fanden sie keine Gnade vor den Augen der Händler. Als Dyjon, der sich feinen guten Humor nie durch das auch ihm ver haßte Tagewerk verleiten ließ, meine Arbeiten zwischen die seinigen schmuggelte und den Händlern anbot, lehnten diese sie ab. Mit derselben Anhänglichkeit und Treue wie „der Bannerträger", der jetzt an der Spitze eines ganzen Regimentes kleinerer Idole den ohnehin bescheidenen Raum in dem Atelier meines Freunde- einschränkte und uns ein Dorn im Auge war, kehrten sie zu mir zurück. Stundenlang pflegten wir diese Gesellschaft anzustarren. Alle Schulen waren da ver treten, — die strenge, die heitere, die klassische, Louis Ouinze, von der Jungfrau von Orleans im Panzer uud Helm bis zur Leda mit dem Schwan. Wir saßen vor ihnen, kritisirten sie, drehten sie nach rechts und nach links, aber selbst bei der strengsten Prüfung sahen sie immer wieder wie Statuetten aus und doch wollte Niemand sie haben! Die Eitelkeit hat ein zähes Leben, aber gegen Schluß des sechsten Monat-, als ich Pinkerton bereits 200 Dollar« schuldete und halb so viel anderweitige Schulden in Paris gemacht hatte, erwachte ich eine- Morgens mit einem furchtbar bedrückenden Gefühl: meine Eitelkeit hatte in derselben Nacht ihren letzten Seufzer auSzehaucht. Ich sah in der Bildhauerei keine Zukunft mehr und erklärte mich für besiegt. Ich setzte mick ans offene Fenster, wo die Musik des lebhaften Straßen verkehre« an mein Ohr schlug, nahm Abschied von Paris, von der Kunst, von meiner ganzen Vergangenheit und meinem eigenen Ich. „Ich Hebe klein bei", schrieb ich au Pinkerton. „Sobald die nächste Nate eintrifft, schiffe ich mich ein und segle direct gen Weste», wo Du mit mir thun kannst, was du willst." Ich darf nicht verhehlen, daß mein Freund mich vom Anfang an zu diesem Entschluß ge wissermaßen gedrängt hatte, indem er mir seine Verein samung schilderte. Er versicherte mich seiner Freundschaft in so warmen, herzlichen Worten, daß sie mich in Verlegen beit setzten, wenn ich daran dachte, in wie schwachem Grade ich seine Gefühle zu erwidern vermochte: er kam immer darauf zurück, wie sehr er einen treuen Gehilfen vermisse, mir freilich in der nächsten Zeile ans Herz legend, ja nur der Kunst treu zu bleiben. -Vergiß Eine- nicht, Loudon", pflegte er hinzujufügcu, „wenn Du je Paris müde werden solltest, hier harrt Deiner genügende Arbeit — ehrliche, anstrengend« und lohnende Arbeit! Ich brauche Dir wohl nicht erst zu versichern, welche unbändige Freude es mir bereiten wurde, Schulter an Schulter mit Dir derselben nachzugehrn." Wenn ich an diese Episteln zuruckdenke, wundere ich mich nur, wie ich cS über s Herz bringen konnte, diesen ver steckten Aufforderungen so lang« zu widerstehen und wie ich
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