Suche löschen...
02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 22.07.1896
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1896-07-22
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18960722025
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1896072202
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1896072202
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1896
- Monat1896-07
- Tag1896-07-22
- Monat1896-07
- Jahr1896
- Links
-
Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
Bezugs-Preis der Hauptexpedition oder den im Stadt, vezirk und den Vororten errichteten Aus- aabestrllen abqeholt: vierteljährlich ^14.50, bei zweiinaliger täglicher Zustellung ins Haus -4t 5.50. Durch die Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: vierteljährlich »l K.—. Directr tägliche ttreuzbandienbuag ins Ausland: monatlich 7.50. Dir Morgen-Ausgabe erscheint um '/,? Uhr. di« Abend-Ausgabe Wochentags um 5 Uhr. Ne-action und Expedition: JohanneSgaffe 8. Die Expevition ist Wochentag- ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis Abend» 7 Uhr. Filialen: Ott» Klemm'S Sortim. (Alfrrd Hahn). Universitütsstraße 3 (Paulinum), Louis Lösche, lkntbannenstr. 14, Part, und Königsplatz 7. 3«S. Abend-Ausgabe. § Anzeigen-Prei- die 6 gespaltene Petitzeile 20 Psg. Lieclamen unter dem RedactionSskrich (4 ge spulten) 50/H, vor den Aouuiiennachrichle» (6gespalten) 40 Größere Schristen laut unserem Preis verzeichnis. Tabellarischer und Lissernsatz nach höherem Tarif. Extra-Beilagen (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne PostbesörLerung -St 60.—, Mlt Postbesvrderung 70.—. Anzeiger. Amtsblatt des Königlichen Land- und Amtsgerichtes Leipzig, des Rathes und s?olizei-Ämtes der Stadt Leipzig. Annahmeschluß für Anzeigen: Abend-AuSgabe: Vormittags 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittags 4Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets au die vx-edition zu richten. Druck und Berlar von E. Polz in Leipzig Mittwoch dm 22. Juli 1896. SO. Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, 22. Juli. Alle Erwägungen, die dahin gelangen, daß das Zentrum nach der Annahme des Bürgerlichen Gesetzbuchs anders zu beurtbeilen sei, als vorher, zeichnen fick durch Unklar heit und Lückenhaftigkeit aus. Sehr erklärlich. Man kann nicht leugnen, daß das Centruin sich positiv zu dein Zwecke gezeigt, seinen Einfluß zu befestigen und auszu dehnen. Man wagt aber nicht mit der Ansicht heraus- zurücken, die klerikale Partei Deutschlands werde, wenn und weil zu noch größerer Macht gelangt, ihren Charakter als ein Instrument der dem deutschen Reiche principiell entgegen wirkenden ultramontanen Weltpolitik verleugnen. Und das müßte man doch sagen dürfen, wenn man das Centrum als eine Stütze der Reichspolitik empfehlen will. Da das nun nickt angehl, so wird von den Optimisten die Sache so dargestellt, als ob das Centrum sich in einer Krisis befände, aus der es doch möglicherweise als eine nationale Partei hervorgehen könnte. So schreibt auch die „Köln. Ztg." am Schlüsse einer Betrachtung, in der sie sich vcrhältnißmäßig sehr viel von den Klerikalen verspricht: „Wir beurtheilen nun aller dings die Besserungsfähigkeit des Centrums nach dieser Rich tung (nämlich ob es „nationale deutsche oder kosmopolitische römische Interessen" vertreten wird) ungemein skeptisch. Andererseits ist cs Wohl eine Frage, welche durch die Er fahrung endgiltig entschieden ist, ob eine gewaltthätige oder eine ruhige, kaltblütige Behandlung des Cent rums und der Socialdemokratie die besseren Ergebnisse erzielt. Wer es unternimmt, diesen stillen Entwickelungsproceß durch gehässiges Drcinreden zu stören, der beweist, daß seine Fähig keit, der lebendigen Gegenwart gerecht zu werden und Be grabenes zu vergessen, sehr wenig entwickelt ist." Wenn man auf ven in den letzten Worten steckenden unhöflichen Klotz einen unhöflichen Keil setzen wollte, so dürfte man ruhig sagen, daß die Denkfähigkeit des Schreibers dieser Sätze nicht nur wenig, sondern gar nicht entwickelt sei. Wenn die Frage, ob eine „kaltblütige" Behandlung des Centrums bessere, also doch wohl nationalisirendere Ergebnisse erzielt, als eine „gewaltthätige", entschieden ist und sogar endgiltig, dann muß die Fortsetzung der bisherigen, zwar unserer Meinung nach keineswegs kaltblütigen, aber jedenfalls sehr zuvorkommenden Behandlung des Centrums zum Ziele sichren, und dennoch verhält sich die „Köln. Ztg." „ungemein skeptisch". Die Unsähigkeit, oder vielmehr, um cs gerade herauszusagen, die neuerdings um sick greifende Scheu, diese Dinge durchzudenken, zeigt sich am deutlichsten in der unterschiedslosen Nebeneinanderstellung des CentrumS und der Socialdemokratie, welche das rheinische Blatt beliebt. Wir können in Uebereinstimmung mit früher vorgetragenen Auffassungen der „Köln. Ztg." nichts von dem, was zur Bekämpfung der Socialdemokratie jemals in Aussicht ge nommen war, als Gewaltact ansehen, es hat sich jederzeit im Gegentheil nur um die Frage des Schutzes gegen die von dieser Partei gegen den Staat vor bereitete Vergewaltigung gehandelt. Aber mag die „Köln. Ztg." hierin anderer Meinung geworden sein; wer andeutet, daß dem Centrum gegenüber seit Jahrzehnten eine „gewalt- thätige Behandlung" in Frage gekommen sei oder gar künftig in Frage kommen könne, der begiebt sich des Rechts und auch des Vermögens, den Staat gegen klerikale Ueber- grifse nicht nur in der „Germania" und in der „Köln. Volkszeitung", sondern auch in der Bonner „Reichs Zeitung" und im „Fränkischen Volksblatt" schützen zu Helsen. Von dem „stillen Entwickelungsproceß", den die „Köln. Ztg." nicht gestört wissen will, ist Eines gewiß, daß er nämtick zu einer Machterweiterung des Cenlrums auf dem Gebiete der Schule und der Verwaltung führen müßte. Wir bitten, uns den Historiker und den Beobachter zu nennen, der zu der Erfahrung gelangt ist, daß der UltramontaniL- mus in germanischen Ländern durch Saturirung national wird! Die Centrumspresse hat die Bemerkungen, welche von liberaler Seite an die Meldungen geknüpft wurden, der Erzbischof von Stablewski beabsichtige die Errich tung eines Knaben - tsonvikts für die Erzdiöccse Gncsen-Posen, und welche auf die Gefahr hinwiesen, daß eine solche Gründung dem PolonismuS Vorschub leisten werde, mit dem Hinweis darauf zu entkräften gesucht, daß das Knaben-Convict auch deutschen Knaben zugänglich sein würde. Die formelle Richtigkeit dieses Einwandes wird sich nicht bestreiten lassen. Daß er aber sachlich ohne Bedeutung ist, wird von der polnischen Presse, welche in diesem Puncte ehrlicher verfährt, als die deutsche Centrumspresse, offen zu gestanden. Die Krakauer „Nowa Neforma" z. B. bezeichnet das Vorhaben des Erzbischofs als ein Mittel, der „Ent- nationalisirung" der polnischen Gymnasiasten vorzubeugen. „In Preußen ist der polnische, dem heimischen Herd entrückte Schüler in den Schulen geradezu der Entnationalisirung, sowie der Möglichkeit ausgesetzt, daß seine nationalen Anschauungen inmitten des deutschen Familien- und geselligen Lebens verzerrt werden. Für die polnischen Magnaten, die in zwei in Galizien stattgefundencn Katholikenversammlungen die Ausgabe cines christlichen Bürgers in so schönen Worten gekennzeichnet haben, eröffnet sich ein ehrenvolles Fels reicher Opfersreudigkeit für das polnisch-katholische In stitut, das der Erzbischof v. Stablewski in Posen begründet." Das Blatt spricht also direct von einem „polnischen Institute". In der Beurtheilung dieser Frage darf man sich unzweifelhaft eher an die Auffassung hallen, welche von der polnischen Presse vertreten wird, als an die Beschwichtigungs versuche der Centrumspresse in Berlin und am Rhein. Die Auslassungen der polnischen Presse lassen aber die Befürchtungen, die auf deutsch-nationaler Seite hinsichtlich der Gründungsprojecte des Erzbischofs von Stablewski gehegt werden, als durchaus berechtigt erscheinen, und wir meinen, die Meldungen der letzten Tage über das Verhalten gewisser polnisch-katholischer Pröpste können nicht gerade den Wunsch erwecken, daß der Agitation deS polnischen KleruS durch eine ausschließlich polnische Erziehung des geistlichen Nachwuchses eine noch breitere Unterlage verschafft werde. Die Frage: „Wird uns der Zar besuchen oder nicht?" bewegt in Frankreich die Gemüther in wachsendem Maße. So oft und so dringend diese Frage auch schon aufgeworfen ist, ist noch immer keine Antwort erfolgt, die vollständig be friedigt hätte. Angesichts dieser Ungewißheit nimmt die Ver stimmung täglich zu und macht sich in einer bisweilen ganz unwirschen Weise Luft. Sehr bezeichnend ist in Lieser Hin sicht eine Auslassung des sonst überaus maßvollen „Petit Moniteur". Der Besuch des Kaisers von Rußland, schreibt dieses Blatt, würde die Bande der Freundschaft, welche die beiden Volker mit einander verknüpfen, gewiß noch befestigen und der äußern Politik Frankreichs einen gemeinverständlichen praktischen Ausdruck geben. Sollte jedoch das russische Kaiser paar lediglich die beiden Herrscher des Dreibundes mit Höf lichkeiten überschütten und hierauf ohne Weiteres nach Peters burg zurückkehren dann gäbe es in Frankreich eine allgemeine Enttäuschung und eine tiefgehende Ernüchterung. Nach dem glänzenden Antheil, den die französische Regierung an den Moskauer Krönungsfesten genommen, für welche das Parla ment WO 000 Franken bewilligt hatte, während von den andern Staaten für diesen Zweck viel unbedeutendere Summen gewidmet worden, würde dieses Vorgehen geradezu beleidigend erscheinen, insbesondere jetzt, wo mit einem neuen russiscken Anlehen an den Pariser Markt appellirt wird. Es giebt allerdings Minister in Rußland, wie z. B. Finanzminister Witte, welche die französische Nation nur in der Intimität und in Geldsachen als Bundesgenosstn ansehen möchte. Selbst bei einem Minister ist diese Anschauungsweise schon zu viel; aber, wenn auch der Kaiser in Person so denken sollte, so würde dies das erlaubte Maß überschreiten. — Man könnte diese Sprache einem befreundeten Monarchen gegenüber höchst unverschämt nennen, wenn sie nicht der Ausdruck der nervösen Ungewißheit über DaS wäre, was man eigentlich und wirklich an Rußland hat. Diese Ungewißheit macht die Franzosen ungeduldig, und man kann es ihnen kaum verdenken, da sie nun schon lange genug auf eine untrügliche, vollgewichtige Garantie für die Aufrichtigkeit der russischen Freundschaft warten. Gänzlich verkehrt aber ist es, einen Druck auf die Entschließung des Zaren üben zu wollen, denn nur wenn er freiwillig kommt, hat sein Besuch den Werth, den man ihm beimißt. Indem wir über die gestrigen „Aufklärungen" Rudini's in der italienischen Deputirtenkammer als nichts auf klärend hinweggehen, halten wir es für angezeigt, an zwei Episoden aus der staatsmännischen Vergangenheit des seit über 20 Jabren inactiven neuen Ministers des Auswärtigen Visconti-Venosta zu erinnern, ohne damit etwas über dessen gegenwärtiges politisches Programm präjudiciren zu wollen. Es ist zweifellos bezeugt, daß Venosta noch bis zu den ersten Augusttagen des Jahres 1870 zwischen seinen französischen Sympathien und der ehernen Nothwendigkeit, welche Italien an Deutschlands Seite wies, unent schieden schwankte. Dieses Schwanken war ihm mit dem König Victor Emanuel gemeinsam. Noch am 20. Juli, nach der französischen Kriegserklärung, entgegnet er in der Kammer auf eine Anfrage Nicotera's: „Wir könnten meiner Ueberzeuaung nach nichts Schlimmeres thun, als die gegen wärtige Lage Frankreichs auszunützen, um ihm Verlegenheiten zu schaffen und direct oder indirect mit einer gewaltsamen Action Italiens in der römischen Frage zu drohen", worauf ihm der Deputirte Miceli die Worte zuschleudert: „Unter einem Visconti-Venosta als Leiter der auswärtigen Politik heißt es Unmögliches wollen, wenn man hofft, daß in der römischen Frage die Interessen Italiens gefördert werden, statt derer Frankreichs oder statt gewisser anderer geheimnißvoller und schlecht verstandener Interessen. Die angebliche Ritterlichkeit Vis- conti-Venosta's gegen Frankreich ist ein Wahnsinn, ein Ver brechen !" Am Tage nach der Schlacht von Worth gelangt an Visconti-Venosta die Anfrage des Duc re Gramont, ob die italienische Negierung geneigt sei, den Franzosen mit 60 000 Mann zu Hilfe zu kommen. Visconti-Venosta legt dem Ministerrathe diese Frage vor; sie wird von der Mehrzahl unter Sella's Führung verneint, und Visconti-Venosta giebt dem französiichen Gesandten Malaret den Bescheid: „Meine Worte haben leider kein Echo gesunden." Wenige Jahre später zeigt der Staatsmann Visconti-Venosta eine völlig ver änderte Physiognomie. Er arbeitet für die Festigung der Freundschaft Italiens mit Deutschland und Oesterreich-Ungarn und begleitet den König Victor Emanuel nach Wien und Berlin. Kurz bevor Victor Emanuel sich von dem Kaiser Wilhelm verabsckiedet, spricht der König zu dem Kaiser die berühmten Worte: „Ich muß Eurer Majestät bekennen, daß wenig Lazu gefehlt hat, und ich hätte gegen Sie mit Ihren Feinden gekämpft". Eine Version besagt, daß Vicior Emanuel damals, auf Mingbetti und Visconti-Venosta zeigend, die sich in seinem Gefolge befanden, hinzngefügt hätte: „Diesen Beiden verdanke ich e», daß es nicht geschah!" Daß jetzt angesichts der Wiederbernfung ViSconti-Venosta's auf jenen Zusatz von italienischer Seite besonderes Gewicht gelegt wird, ist bezeichnend für die Er wartungen, mit welchen man dem alt-neuen Minister begegnet und es liegt auch kein Grund für die Annahme vor, daß Visconti-Venosta heute auf seine französischen Sympathien zurückkommen könnte. Er weiß zu gut, daß die Hoff nungen, welche Frankreich an der afrikanischen Mitlel- meerküste, in Egypten und in Tripolis verwirklichen möchte, Italien an die Seite Englands verweisen nnd daß Italien durch seine Stellung im Dreibund nicht an einem engeren Verhältniß zu England gehindert ist. Er weiß genau, daß Englands Freundschaft, wenn man von einer solchen überhaupt reden kann, für Italien an dem Tage verscherzt wäre, an welchem es sich Frankreich näherte. Wir glauben also nicht, daß Visconti-Venosta beabsichtigt, neue Bahnen einzuschlagen. Immerhin ist es gut, sich seiner Ver gangenheit zu erinnern. In den Vereinigten Staaten giebt die socialdcmo- kratische Propaganda neuerdings wieder bcachlenSwerthe Lebenszeichen von sich. Schwere Ruhestörungen werden aus verschiedenen Städten Ohios signalisirt. In West-View, wo ein großer Steinbrucharbeiterslreik ausgebrochen war, kam es neulich zu Conflicten zwischen Streikenden und Nickr- streikenden. Erstere versuchten in die Steinbrüche einzudringen und die „Streikbrecher" gewaltsam am Arbeiten zu hindern. Der Sheriff, der mit etwa 40 Policemen die Zugänge zu den Steinbrüchen besetzt hielt, forderte den Mob zum AuLeinandergehen auf. Statt aller Antwort eröffneten die Streikenden mit Gewehren und Revolvern ein förmlickes Schnellfeuer, die Hüter der öffentlichen Ordnung setzten sick natürlich zur Wehre und in dem sich nunmehr entspinneuden Kampfe wurden auf beiden Seiten zahlreiche Verwundungen, wenngleich keine von unmittelbar tödtlicheni Erfolge, constaNrt. Schließlich traten die Streikenden unter Mitnahme ihrer Ver wundeten den Rückzug an. Die Lage ist so ernst geworden, daß der Sheriff an den StaatZgouverneur um Entsendung von vier Milizcompagnien telegraphirte. Dieselben dürften indessen schwerlich so bald zur Stelle sein. Zugleich ist auck eine andere Stadt, Clevelauo von Streik-Unruhen heimgesuckl worden. Dort hatte ein sog. Streikbrecher die Unbesonnenheit begangen, sich Abends allein auf den Heimweg zu begeben. Er siel einer Rotte von Streikenden in die Häute und wäre dem Schicksale, gelyncht zu werden, sicher nicht entgangen. Wenn nicht im Moment der höchsten Gefahr die Polizei den Unglücklichen den Händen seiner Peiniger entrissen hätte. Aber die Polizeipatrouille sah sich nun selber im Nu von einer nach Hunderten zählenden Pöbelmenge um ringt nnd es bedurfte zweier Mitizcompaguien, sie zu ent setzen. Erst dann konnte der Arbeiter in Sicherheit gebracht werden. An den folgenden Tagen wiederholten sich diese Scenen. Die Ccntral-Polizeistation war von Tausenden be lagert, Weiche Todesdrohungen ausstießen und zu verhinvcrn suchten, daß die von auswärts zugezogenen Arbeiter ihrer frei gewählten Beschäftigung nachgingen. Es bedurfte mehrerer Feirrlletsn» Jim Pinkerton und ich. Roman von R. L. Stevenson und Lloyd Osbourne. 21s Autorisirte Bearbeitung von B. Kätscher. Nachdruck verbeten. Auf dem Fußboden lag ein Wirrwarr von Kleidungsstücken, Büchern, nautischen Instrumenten, allerlei Kleinigkeiten um her. Es batte den Anschein, als ob nach langer Kreuzfahrt mehrere Seemannstruhen infolge eines unerwarteten Ereig nisses von unterst zu oberst gekehrt worden wären. Es be rührte mich seltsam, in jener von dem nahen Donner der Brandung zitternden und von dem Gekreisch der Vögel erfüllten Cabine in so vielen Dingen zu stöbern, welche von anderen Menschenkindern begehrt, geschätzt und auf ihren warmen Körpern getragen worden waren. Ich fand ab genutzte Wäsche, alte und neue Segeltuchanzüge, Wachslaffet, Lootsenjacken, Parfümefläschcken, gestickte Hmiden, Seideu- faccoS, Anzüge für die Nachtwache und solche für den Ge brauch zu Lande, Bücher, Cigarren, LuxuSpfeifen, Tabak, eine Menge Schlüssel, eine rostige Pistole und allerlei billige Curiositäten, wie chinesische Tassen, Töpfe, Bilder und Fächer, die wohl zu Geschenken in der Heimath bestimmt waren. Von diesem Durcheinander richteten sich unsere Blicke auf den mit starkem Schiffsgeschirr gedeckten Tisch. Ein Topf Marmelade, unkenntliche Speisereste, Brod, Zwieback, Kaffee und eine Büchse condensirtcr Milch standen ebenfalls darauf. Tas Tischtuch, ursprünglich von rotherFarbe, zeigte an demEnde, wo der Capitain zu sitzen pflegt, dunkelbraune Flecken, wahr scheinlich von Kaffee. Auf der entgegengesetzten Seite war es zurückaeschlagen und ein Tintenfaß samnit Feder stand aus dem bloßen Tisch. Mehrere Sessel standen unregelmäßig um denselben herum, als ob die Herren nach beendetem Male geplaudert und geraucht hätten; einer der Stühle lag sogar zerbrochen aus dem Boden. „Sehen Sie doch! der Capitain hat Eintragungen in daS Schiffstagebuch nackgeholt!" bemerkte Nares, auf die Tinten flasche deutend. „Ob cS Wohl je einen Capitain gegeben bat, der beim Verluste seine« Schiffes sein Logbuck in Ordnung gehabt hätte? Gewöhnlich bleibt ein ganzer Monat nach zuholen. .... Marmelade und geröstetes Brod?! Wahr scheinlich Leckerbissen für den Alten! Abscheuliche, nachlässige Schweine!" schloß er verächtlich. Seine abfällige Kritik über die Verunglückten verletzten meine Gefühle. Ich empfand zwar weder für Capitain Trent, noch für seine verschwundene Bande Sympathie, aber die Einsamkeit und der Verfall dieser einst be wohnten Cabine bewegte mich seltsam. Der Verfall der menschlichen Arbeit stimmt mich gerade so melancholisch wie der Tod des Menschen selbst, und ich konnte mich einer großen Traurigkeit nicht erwehren. „Dieser Anblick macht mich krank!" rief ich. „Lassen Sie uns auf Deck gehen, um Alhem zu schöpfen." Der Capitain nickte. „Sie haben Recht, es ist hier unten zum Melancholischwerden, aber ich mag nicht hinaufgehen, ehe ich den Signalcodex gefunden habe. Um dies Inselchen zu beleben, werde ich „Gott verlassen" oder Achnliches auf hissen. Capitain Trent hat noch nicht gelandet, aber er wirb Wohl bald auftauchen, und es wird ihn freuen, wenn er ein Signal auf der Brigg siebt." Er fand die Flaggen nett geordnet, in einem Winkel von Trent's Cabine, wählte, was er brauchte, und begab sich auf Deck, wohin ich ihm folgte. Die Sonne war bereits unter gegangen und batte der Dämmerung Platz gemacht. „He, mein Junge, was thust Du dort? Das Wasser ist verdorben!" rief er einem Matrosen zu, der eben aus der Wassertonne trank. „Verzeihen Sie, Herr Capitain, es schmeckt ganz gut." „Laß mich kosten!" Mit diesen Worten nahm er dem Mann daS Scköpsgefäß aus der Hand und führte es zum Munde. „Es schmeckt wirklich ganz frisch. Wird wohl ver fault gewesen und wieder brauchbar geworden sein. Ist da« nickt sonderbar, Herr Dodd?" Etwas in seiner Betonung machte mich stutzig. Ich sah ihn verwundert an. Er stand auf den Fußspitzen und spähte nach reckts und nach links aus, wie ein Mensch, dem etwas nicht richtig vorkommt. Miene nnd Haltung verriethen eine gewaltsam unterdrückte Erregung. „Sie glauben Wohl selbst nicht an da«, was Sie eben behaupteten!" konnte ich mich nicht enthalten, zu sagen. „Alles schon dagewesen!" entgegnete er, seine Hand beschwich tigend auf meine Schulter legend. „Mich befchäsligt momentan etwas Anderes", lenkte er ab, winkte einen Matrosen her bei, händigte ihm die vorgeschriebencn Flaggen ein und trat ans Hauptsignalziehtau, welches unter dem Gewichte der Signalflaggen erzitterte. Einen Augenblick spater flatterten die amerikanischen Farben, die wir im Boote mitgebracht, an Stelle des englischen Roth, ebenso Fähnchen kV Hu. tt.*) „Und nun heraus mit den Drohbäumen," rief NareS, der das Aufhissen der Flaggen mit der altjüngferlichen Aengst- lickkeit eines amerikanischen Seemannes beaufsichtigt hatte. „Wir wollen doch scheu, wie es mit dem Laguneuwasser steht!" Die Barren wurden zur Seite geschoben, die abscheulichen Mißtöne der rasselnden Pumpe erfüllten die Kühl, und Strome übelriechenden Wassers ergossen sich über Deck. Nares lehnte am Geländer und beobachtete den gleich mäßigen Strom von Schlagwasser, als ob er großes Interesse daran fände. „Was beunruhigt Sie?" fragte ich. „Das sollen Sie bald hören", entgegnete er, „für jetzt dies Eine. Sehen Sie dort jene Boote? Eines auf dem Ver schlage, die beiden anderen in ihren Furchen? Nun, wo ist das Boot, daS Trent zu Wasser gelassen hat, als die beiden Matrosen ertranken?" „Es ist vielleicht wieder an Bord geschafft worden." „Möchten Sie mir nicht sagen, wozu?" „Dann wird es wohl ein viertes gewesen sein!" „Ich will nicht leugnen, daß ein solche« vorhanden gewesen sein konnte", gab Nares zu, „aber ich wüßte nicht zu welchen« Zwecke, wenn nicht zum Privatgebrauch de« Alten, um in Mondscheinnächten das Accordion zu spielen." „Es kann in keinem Falle für uns von Bedeutung sein", meinte ich. „O, ich glaube nicht", dabei blickt er über seine Schultern hinweg auf das aus den Speigaten hervorqucllende Wasser. „Wie lange soll dieser Lärm noch dauern?" fragte ich ärgerlich. „Wir pumpen ja die ganze Lagune aus. Capitain Trent hat jedoch selbst gesagt, daß da« Schiff festgerannt und sein Vordertheil voll Wasser ist." „Wirklich ? Hat er das gesagt", entgegnete Nares mit bedeutungsvoller Trockenheit. Und fast noch während er sprach, saugte die Pumpe an, dann noch einmal, und die Leute warfen die Barren nieder. „Nun, was sagen Sie dazu", fragte Rare« und fuhr dann, ohne seine bequeme Stellung am Geländer zu verändern, mit gedämpfter Stimme fort: „Nun will ich Ihnen sagen, daß Lies Schiff ebenso heil ist, wie unsere „Norah Crema". Ich vermuthete eS, ehe wir an Bord kamen, jetzt weiß ich eS." *) Diese« Signal bedeutet: „Sagt meinen Rhrdern, daß da« Schiff vorzüglich entspricht." „Tas ist unmöglich!" rief ich aus, „Was halten Sie von Trent?" „Ich weiß nicht, ob er ein Lügner oder ein altes Weib ist. Ich habe Ihnen nur eine nackte Thatsache berichtet. Und jetzt sollen Sie noch etwas hören. Eine sieben bis achtstündige Arbeit hätte dieses Schiff, da eS zuerst ausfuhr und ehe cS festraunte, flott machen können. Das muß Jedermann wissen, der auch nur zwei Jahre auf hoher See verbracht." Ich konnte nur einen Enttäuschungsschrei ausstoßen. Nares erhob warnend seinen Zeigefinger und flüsterte mir zu: „Lasten Sie die Leute nichts merken, denken Sie, was Sie wollen, aber sagen Sie nichts!" Ich blickte mißmuthig umher, die Dämmerung war allmahlig in Dunkelheit übergegangcn, nur bas Flackern der Laternen deuteten die Lage der „Nvrab Creina" an. Die Matrosen, die setzt nichts mehr zu thun hatten, standen in der Kühl gruppirt, ihre Gesichter waren von den kurzen, glühenden Tabakspfeifen belcucktet. „Weöbalb Hal Trent sie nicht frei gemacht? Weshalb wollte er sie in 'Frisco um solch fabelhafte Summen zurück kaufen, da er sie doch leicht in den Hasen hätte zurücksegcln können?" fuhr NareS nachdenklich fort. „Vielleicht kannte er damals ihren Werth nickt." „Ich wollte, wir wüßten ihn jetzt!" rief Nares. „Ick will Sie übrigens nicht noch mehr verstimmen, Herr Dodd, denn ich weiß, wie besorgt Sie sein müssen. Ich werde mick bemühen, in dieser unliebsamen Angelegenheit mein Mög lichstes zu thun, und hier meine Hand darauf, daß ich Ihnen nicht auch noch Schwierigkeiten bereuen werde!" Es lag etwa« Vertrauenerweckende« und Freundschaftliches in seinen Worten, so daß ich nicht umhin konnte, ihm die Hand zu reichen, zu jenem kurzen, festen Truck, der für englisch sprechende Männer so bedeutungsvoll ist. „Nicht wahr, mein Junge, wir sind gute Freunde ge worden, Sie und ich? Verlassen Sie sich darauf, daß ick Ihre Sache nicht minder eifrig betreiben werde al« Sie selbst, aber jetzt wollen wir zum Abendessen sehen." Nach demselben ruderten wir, von der Neugierde ge trieben, die allen Seefahrern geineiusam ist, im wunder baren Mondschein ans Land und stiegen auf der Middle BrookS-Jnsel au«. Ein flacher Strand uingab sie von allen Seiten. Die Mitte war von allerlei Gestrüpp und Gesträuch überwuchert. Die höchsten Bäumchen, in denen die Seevögel ihre Nester hatten, erhoben sich vielleicht fünf
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)
- Doppelseitenansicht
- Vorschaubilder
Erste Seite
10 Seiten zurück
Vorherige Seite