01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 29.08.1896
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1896-08-29
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18960829012
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1896082901
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1896082901
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1896
- Monat1896-08
- Tag1896-08-29
- Monat1896-08
- Jahr1896
-
-
-
6276
-
6277
-
6278
-
6279
-
6280
-
6281
-
6282
-
6283
-
6284
-
6285
-
6286
-
6287
-
6288
-
6289
-
6290
- Links
-
Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
BezugS-PreiS I» b«r Hoptqyedttto» od«r b« tm Stadt, beßirk «ud den Bor orten errichteten An«, gavestellen ab geholt: vierteljährlich^ <L0, bei »weimaliaer täglicher Zustellung in« Lau« ^l 5^0. Durch die Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: viertel,ahrlich .M S.—. Directe tägliche Kreu-bandsenouu- t»A Ausland: «onaütch 7.b0. Die Morgeu-Aasgab« erscheial um '/,? Uhr. die Abeud-Lusgabe Wochentag» um ü Uhr. Nedarttoa und Lrpeditto«: Zoha««e»»afse S. Die Expedition ist Wochentag« ununterbrochen G^fuet von früh 8 bi« Abend« 7 Uhr. Filiale«: ttta Klemm'» Eortim. (Alfred Hatz«). Uuiversität-stratze 3 (Paulinum). Laut» Lösche. Ikatbannenstr. 14. Port, und Königävlatz Morgen-Ausgabe. UeipMer TaMM Anzeiger. Amtsblatt des Löniglichen Land- und Amtsgerichtes Leipzig, des Mathes und Volizei-Nmtes der Ltadt Leipzig. A«zrigk».Preis die 6 gespaltene Petitzrtlr 20 Pf^. Nrclamen unter dem Redactionsstrich (4ae- spalten) 50^, vor den Fainiliennachrichte, (6 gespalten) 40-H. Größere Schriften laut unserem Preis- verzeichoiß. Tabellarischer und Zissernsatz oach höherem Tarif. Extra-Beilage« (gefalzt), nur mit der Morgen - Ausgabe, ohne Postbrfördrruug SO.—, mit Postbrsörderung ^l 70.—. Rnnahmeschlnß für Anzeigen: Nb end »Ausgabe: Bormittag» 10 Uhr. Margen-Ausgabe: Nachmittag» 4 Uhr. Bet den Filialen und Annahmestellen je et« halbe Stund« früher. Anzeige« sind stet« an dir ExpetzMaa zu richten. Druck und Verlag von E. Pol» in Leipzig Sonnabend den 29. August 1896. 9V. Jahrgang. ^-139. Bestellungen auf Reiseabonnements nimmt entgegen und führt für jede beliebige Zeitdauer aus dl« Expedition des I^elpriser laseblattes, Johannisgasse 8. Socialpolilische Umschau. e. Wenn die Aekren reifen, dann pflegt auch für die Staatskunst die stille Zeit zu kommen; doch in diesem Sommer kann die Politik nicht zur Ruhe gelangen. Der Gang der auswärtigen Politik, besonders aber die inneren Vorgänge nehmen in Deutschland die Aufmerksamkeit in hohem Grade gefangen. Das wichtigste socialpolitische Ereigniß der letzten Wochen ist ohne Zweifel der Gesetzentwurf über die Organi sation deS Handwerks. Sämmtlicke Parteien haben jetzt zu ibm Stellung genommen und daS allgemeine Urtheil be stätigt abermals die schon oft ausgesprochene und wohl begründete Ueberzeugung, daß gerade die Handwerkersrage unter allen socialen Problemen der Gegenwart mir am schwierigsten zu losen ist. Der Entwurf hat bei den größeren Parteien im Allgemeinen eine laue Ausnahme gesunden. Augen scheinlich sind selbst die Freunde derartiger gesetzlicher Maß regeln von ihm nicht befriedigt. Sie betrachten ihn als eine Grundlage, auf der man weiter bauen könne — dem Befähigungsnachweis entgegen. Man ertheilt den Handwerkern den Rath, wenigstens vorläufig zu frieden zu sein fich auf den Boden des Erreich baren zu stellen, und weist sie hin auf das alte Beispiel von dem Sperling in der Hand und der Taube auf dem Dache. Es hat jedoch nicht den Anschein, als werbe man in gewissen Handwerkerkreisen das Beispiel in diesem Falle gelten lassen. Man will dort die Taube, d. h. den BesäbigungS- nachweiS, so schnell al» möglich erlangen und eS ist daber wahrscheinlich, daß jener Gesetzentwurf die politischen Strö mungen zur Gewinnung desselben nicht eindämmen sondern noch mebr anschwellen wird. Den Gegnern von Zwangs maßregeln gebt der Entwurf natürlich viel zu weil. Sie knüpfen an ibn ernste Befürchtungen von einer weiteren starken RückwärtSbewegung unserer WirtbschaftSpolitik und bedauern, daß die Schwäche der Reichsregierung so groß gewesen sei, um sich in ein derartiges Fahrwasser haben treiben zu lassen. Wenn der CurS weiter in derselben Rich tung gehalten werde, so befürchten sie für unser Wirthsckafts- leben nicht nur ernste Schwierigkeiten, sondern sie sind auch der Urberzeugung, daß man durch derartige Maßregeln einer wirklichen Gesundung deS Handwerks lediglich Steine in den Weg wälze. Diese letztere Erwägung hat auch eine Anzahl Handwerkervereinigungen, wie z. B. den „Freien deutschen Bäckerverband", die freien Bereinigungen der Barbiere, Fri seure und Perrückenmacher rc., bestimmt, sich als Gegner des Entwurfs zu erklären. Als eine Frage von großem Interesse wurde in den letzten Wochen die Bekämpfung deS Bauschwindels durch die städtischen HauS- und Grundbesitzervereine erörtert. Die selben wolle» dem Bauschwindel bekanntlich durch eine Ab ¬ änderung deS Strafrechts und durch eine Umgestaltung der l Verwaltungsgerichtsbarkeit entgegentreten. Wie jetzt zeeoch! bekannt wird, sollen die von jenen Vereinen auf ihrer Ver-1 sammlung in Görlitz kürzlich angenommenen Anträge wenig Aussicht auf Erfolg baden, da einzelne Bundesstaaten gegen eine reichsgesetzliche Bekämpfung des BauscbwinbelS, für die in ihrem Bezirk kein Bedürsniß sich zeige, sind und noch viel weniger an einschneidende Aenderungen der Verwaltungs gerichtsbarkeit denken. Wie bekannt wird, soll man sich zu nächst darauf beschränken wollen, den Bauunternehmern die kaufmännischePflichtder Buchführung mit allen ihren gesetzlichen Folgerungen aufzuerlcgen und zugleich den Hand werkern in allen Bundesstaaten daS Recht zur Einsebung der Grundbücher zu ertheilen. Zu einer wirksamen Bekämpfung des Bauschwindels sind derartige Bestimmungen natürlich nicht hinreichend. Aber augenscheinlich weiß man vorläufig nicht, welchen besseren Weg man einscklagen soll, und so denkt man denn, den Schritt nach vorwärts mit einer Vorsicht zu machen, die beute auch auf anderen Gebieten unseres Wirth- schaftvlebens vielleicht noch mehr als gerade bier anzurathen wäre. Denn über die Gcmeingefährlichkeit des Bauschwindels braucht man kein Wort mehr zu verlieren. Immer wieder aber kann man es bedauern, daß ein an und für sich so ehren hafter Beruf wie daS Baugewerbe, dessen Ausgabe es ist, eines der wichtigsten menschlichen Bedürfnisse zufrieden zu stellen, in seiner Mitte eine so große Zahl der unlautersten Elemente nothgedrungen dulden muß. Auch daS ebrenwenbe Baugewerbe selbst wünscht dringend, daß endlich eine einwand freie gesetzliche Handhabe gefunden werde, um die gewissenlosen Piraten dieses Berufszweiges mit eisernem Besen hinauS- zukehren. Unter den obwaltenden Umständen muß man eS mit Freude begrüßen, daß die Lösung der Wohnungs frage mehr und mehr von der freien Vereinsthätigkeit in Angriff genommen wird. AIS eine Neuerung auf diesem Gebiet ist das schon erwähnte Vorhaben einiger Groß- gewerbtreibenter in M.-Gladbach zu nennen, die sich ver einigt haben, um Familien mit zahlreichen Kindern die Mittel zur Ermiethung einer ausreichend großen Wohnung zu gewähren. Die in moralischer Beziehung gemachten Er fahrungen berücksichtigend, w'll der Verein, daß die halb erwachsenen und erwachsenen Kinder der Arbeiter nach Ge schlechtern getrennte Schlafräume erhalten und Kinder im rechtzeitigen Alter aus den Schlasräumen der Eltern entfernt werden. Auch sollen in den unterstützten Familien Schlaf- und Kostgänger nicht gehalten und durch persönlichen Verkehr der Sinn für Familienleben und Häuslichkeit gestärkt werden. Gleichzeitig will der Verein eine Wohnungsnachweisestelle und eine Mietbzinssparcasse einrichten. Derartige Bestrebungen sind gewiß dankenswertb und zur Nachfolge geeignet; sie vermögen die Wobnungsnoth zu lindern, nicht aber die Wohnungsfrage im großen Stil zu lösen. Da« letztere wird auch eine jener großen Fragen der nächsten Zukunft sein, über deren zufriedenstellende Beant wortung man heute noch sehr weit von einander abweichende Anschauungen hegt. Sociale Fragen sind eben schwierig. DaS merkt man bei jedem Schritt auf diesem Gebiet, möge es sich um Innungswesen, um WohnungSreform oder um Arbeiterschutz handeln. Der letztere wird voraussichtlich in nächster Zeit in Deutschland eine weitere Ausdehnung nach der Richtung finden, das die Gewerbcaufsicht auch aus die Hausindustrie ausgedehnt wird. Es läßt sich das kaum umgehen. Die Gesetzgebung hat die Kinder zu ihrem Schutz auS den Fabriken hinausgewiesen, sie kann eS aus die Dauer nicht ruhig hinnebmen, daß ihr Wille völlig umgangen wird und durch die stärkere Heranziehung der Kinder in der Hausindustrie die Ausbeutung derselben ärger ist als zuvor. Fast in allen Berichten der Fabrik- und Gewerbeinspectoren wird auf daS Unerträgliche des gegenwärtigen Zustandes hingewiesen. Diese Beamten müssen an der Schwelle der Hausindustrie stehen bleiben. Sie selbst wünschen, und jeder Menschenfreund muß ihnen beistimmen, daß sie das Recht zur Ueberschreitung jener Schwelle erhalten. Nach neueren Untersuchungen hat sich die bausindustrielle Kinderarbeit, besonders in den letzten Jahren in der Textilindustrie, Eigarrenfabrikation, Bilderbogenmalerei, Zündschachtel- sabrikalion , Flaschenhülsen - Erzeugung und in zahlreichen anderen Erwerbszweigen entwickelt, die für Erwachsene vielleicht nicht schädlich sind, in denen die lange Ausdehnung der täglichen Beschäftigurig jedoch auf den kindlichen Körper äußerst verderblich wirkt. Neben derartigen Erörterungen bat in letzter Zeit auch die Veröffentlichung der preußischen Regierung über die Unter suchung deS Arbeitsvermittelungswesens Beachtung gefunden. In dem preußischen Staate wurden nach der jetzt veröffentlichten Erhebung 5216 gewerbsmäßige Gesinde- vermiether und Stellenvermittler gezählt. Die Urtheile über diese Vermittler und Vermittelung lauten widerspruchsvoll. Aus den einen Bezirken wird gelobt, aus den anderen getadelt und scharf verurtbeilt. Allgemein ist die Klage über die Höbe der Vermittelungsgebübren. Innungs - Arbeits nachweise giebt es in Preußen 734, durch gemeinnützige oder wohlthätige Vereine sind 143, durch evangelische Vereine 146 errichtet, 92 sind von Gemeinde- oder Polizeibehörden ins Leben gerufen. Uber die letzteren Einrichtungen ist daS Ur- theil abfällig; manche sollen nur auf dem Papier stehen, weil ihre Organisation unzureichend ist. Einzelne preußische Städte haben daber von der Begründung eigener Arbeits nachweisestellen abgesehen und dafür die betreffenden Ein richtungen gemeinnütziger Vereine unterstützt. Es verdient jedoch bemerkt zu werden, daß diese Erhebung mit dem 31-December 1894 adschließt und seitdem mit den städtischen ArbeitsvermittelungSanstalken bessere Erfahrungen gemacht sind. Bemerkenswert!) ist aus diesem Gebiet der Versuch, welcher vom 1. September ab im Herzogt bum Meiningen vorgenvmmen werden soll. Als Beilage zum Regierungsblatt soll dort, wie berichtet, wöchentlich zweimal eine Lifte ausgegeben werden, die ein Verzeichniß der offenen Stellen und der Arbeitsgeiuche enthält. Das Verzeichniß soll in allen Städten und Dörfern sofort amtlich öffentlich angebeftet werden. Die Aufnahme der Mittbeilungen über offene Stellen und Arbeitsgesuche in das Verzeichniß erfolgt unentgeltlich. DaS Verfahren ist einfach und wird im kleinen Kreise sicher mannigfachen Nutzen bringen. Von den socialpolitischen Vorgängen im Auslände ist eine Erhebung der österreichischen Negierung über die Alters versicherung der Privalbeamten bemerkenswertb. Die Regierung will Material sammeln, um die Pensionsversiche rung dieser Beamten nach Kräften fördern zu können. Aus Frankreich ist eine Statistik der in Deutschland jetzt so heftig befehdeten Consumvereine interessant. Ende 1895 gab es dort 1217 derartige Vereine, von denen sich 509 lediglich mit dem Verkauf von Brod beschäftigen Industrielle Produciiv- aenossenschaften gab es 191, landwirthschaftliche Genossen schaften 134, die meistens mit dem Vertriebe von Milch, Butter und Käse sich befaßten. Die Entwickelung des ge nossenschaftlichen Gedankens ist in Frankreich nicht so weit wie in Deutschland fortgeschritten, doch ist seit Jahren ein ständiges Anwachsen der genossenschaftlichen Vereine zu be merken. Deutschland hat auch auf dem Gebiete deS Genossen schaftswesens unseren westlichen Nachbarn ein Vorbild ge geben. Es ist dabei bezeichnend, daß die deutschen Einrich tungen auf diesem Gebiet von unseren nationalen Feinden rückhaltlos anerkannt werden. Deutsche- Reich. 0. tt. Berlin, 28. August. So hätten wir eS denn also zu zwei anarchistischen Blättern in Berlin gebracht. Heule früh bat „Der arme Conrad", daS für die Massen bestimmte Blatt, das Licht der Welt erblickt. ES erscheint in dürftigem Gewände. „Ebre, wem Ehre gebühret, Brod, wem Brod, Freude, wem Freude gebühret, Tod der Roth", so lautet das Motto, welches „Der arme Conrad" auf dem Titelbialte neben dem Arbeiter, der finster zur aufgehenden Sonne schaut, trägt. Die Schreibweise deS neuen anarchi stischen Organs ist nicht ungeschickt. Jedes Fremdwort ist vermieden. „Der arme Conrad" will, so sagt er, eine für Jeden verständliche Sprache reden; er will seine SchicksalS- und LeikenSgenossen dort aussuchen, wo sie zu Hause sind, in den Mühsalen ihres Kampfes ums Dasein, er will, von Herzen kommend, zu Herzen gehend, zu ihnen reden. Den in der langen, schier endlosen Nacht de« Elends sich dahinschleppenden Brüdern will er den nahenden Tag ibrer Befreiung ankündigen." Sodann verspottet das anarchistische Organ die Sedan feier und bespricht weiter hinten die Lasallefeicr, Lassalle's Bedeutung anerkennend. Zum Schluß wird für die Neue Freie Volksbühne Stimmung gemacht. Berlin, 28. August. Die Entwicklung der preußi schen Eisen babnein nah men weist andauernd einen Zug zu erheblicher Steigerung auf. Das Mebrerträgniß ver ersten vier Monate des laufenden EtatsiabreS beziffert sich auf nickt weniger als 22 Millionen Mark. Unter diesen Umständen wird man wohl mit Sickerbeit daraus rechnen können, daß bereits der in der vorigen Landtagstagung an gekündigte Plan einer anderweitigen Regelung der Verwendung der Eisenbabnüberschüsse endlich greif bare Gestalt annimmt, und daß nicht bei der Schaffung eines zumeist auS diesen Eisenbabnüberscküssen zu speisenden „allgemeinen Ausgleichsfonds" stehen geblieben, sondern auch Vorsorge getroffen wird, die großartigste aller VerkebrS- steuern, die in der Aufrechterbal.ung der preußischen Eisen- bakntarife liegt, in ihren Erträgnissen wenigstens in einem bescheidenen Umfange für die Verkehrsinteressen selbst nutzbar zu machen. * Berlin, 27. August. Die preußischen Bischöfe haben, wie die „Germania" mittheilt, vor zwei Jahren, am 22. August 1894, an den damaligen Reichskanzler, Grafen Caprivi, eine „Eingabe über die religionsfeindliche Literatur" gerichtet. Weil darauf bis jetzt keine Antwort erfolgt ist, wird die Eingabe nunmehr veröffentlicht. Wir beben einige Sätze hervor: „Die Tenkriwtung. in der wir «inen Hauptanstoß zu diesem hassenswürdigen Treiben erblicken, steht unter dem Zeichen Les Positivismus und des Materialismus, die in inniger Ver» brüderung Zusammenarbeiten, um die christliche, überhaupt jede reli giöse Weltanschauung zu verachten. Die positivistisch-materialistische Zeitströmung hat seuckenartig alle Forschungsgebiete ergriffen. Vor Allem haben wir deren unheilvollen Einfluß auf die Sittrn SS Ferrrlleton. Sommerfrischen und Ladereisen im alten Rom. Von Theodor Hermann Lange. Nachdruck verboten. Heutzutage hat bekanntlich die Reiselust alle Stände und AlterSclassen ergriffen, und eS ist im ganzen 19. Jahrhundert noch niemals so viel und so allgemein gereist worden, wie gerade jetzt. Indessen wurde auch im römischen Weltreiche und besonder» seit dem zweiten Jahrhundert unserer Zeit rechnung ganz außerordentlich viel gereist. Sobald die sommer liche Hitze sich fühlbar machte, entvölkerten sich Rom, sowie die Großstädte des Reiches, und nicht nur die Mitglieder der reichen und wohlhabenden Gesellschaftsklassen, sondern auch die der minder Bemittelten eilten auf das Land. Die Be wohner der Reichshauptstadt begaben sich besonders gern in das Albanrr Gebirge, dann auch an dir See, vor Allem nach Bajae, Putroli u. si w. In Bajae trafen die ersten Bade gäste schon Ende März rin. Der Römer war ein leidenschaftlicher Freund von Wasser und Bädern. Er badete nickt nur täglich im eigenen Heim, wo er sich meist prachtvolle Badeeinrichtungen geschaffen batte, sondern er besuchte im Sommer wie im Winter täglich mehrmals die großen öffentlichen Thermen. Sagt dock ein bekannter antiker Schriftsteller mit Reckt, daß den Römern Jahrhunderte lang La« tägliche Bad den Arzt fast vollständig ersetzt hätte. In jedem Stadttheile Rom» gab e« zahlreiche öffentliche Bäder; um da» Jahr 300 wurden 982 öffentliche Badeanstalten gezählt. Mehrere dieser Bade anstalten waren von außerordentlich großem Umfange. In den Thermen des Caracalla konnten zu gleicher Zeit 1600 Personen, in den Thermen de« Diokletian und Maximian sogar 3000 Personen zur selben Zeit baden. Nur da« Proletariat, Sklaven, Höker, Kramer u. s. w. verbrachten den Sommer in Rom und in den Metropolen deS Reichs. Wer eS irgend ermöglichen konnte, auch Derjenige, der nur zwei oder drei Sklaven sein eigen nannte, pilgerte in die Sommerfrische und in die Bäder. In Rom war der Aufenthalt in den Sommermonaten sehr unangenehm. Die meist über aus schmalen Straßen, welche nur eine Breite von vier bis höchstens acht Metern batten, wiesen zu beiden Seiten vier-, fünf- und sechsstöckige Häuser auf. Wie noch beute im Orient, so warf man auch im alten Rom allen Uurath und alle Abfälle ungeairt au» den Häusern auf di« Straße. Zwar batten manche Häuser hübsche Gärten, die sich im hintersten Theile deS Grundstücks befanden, aber ein solcher HauSgarten wurde nur von der im Erdgeschosse wohnenden Familie be nutzt. Der vornehme Römer wohnte überhaupt nur im Parterre. Wohnungen im ersten und zweiten Stockwerke aalten nicht al- herrschaftliche. UebrigenS besaßen die reichen Familien in der Näbe von Rom, in den Gebirgen und auch in den Seebädern ihre eigenen Billen, in die sie oft schon im Frühling übersiedelten. Dann folgte der Familie natürlich der ganze Troß von Dienern, Sclaven, Köcken rc. In den Pro vinzen, besonders in Hispanien, in Gallien, aber auch im südwest lichen Germanien, bauten sich die römischen Beamten und Groß- Kaufleute hübsche Villen mit Gärten und praktischen Bade einrichtungen. In diesen Bädern konnte man kalt und warm baden, und auch die kalten Güsse L Is Kneipp wurden da mals schon angewandt. Unter dem Boden de» Bades be fand sich die Röhrenlritung (topickurium), und die Ausstattung der Bäder war, wie hauptsächlich die Ausgrabungen im süd lichen Frankreich ergeben haben, oft eine wirklich künstlerifche. Elastische Schläuche kannten die Römer noch nicht, aber an den meisten Röbren befanden sich schon bronzene Hähne. Die römischen Villen in Gallien und im südwestlichen Germanien baute man gewöhnlich in mäßiger Höhe oberhalb kleiner Thäler und vor Allem an windgeschützten Stellen. Man baute die Billa auch so, daß man von ihr aus den möglichst besten Ausblick in daS Thal oder auf die Berge hatte. In der Tbalsohl« baute man für gewöhnlich keine Billen. Die Villen in den Albaner Bergen, wie überhaupt auf italischer Erde, lagen vielfach unmittelbar an schattigen Wal dungen oder waren auch in weiterem Umkreise ring» von Wald umgeben. Da« beute so überaus waldarme Italien war noch in den ersten Jahrhunderten der Kaiserzeit mit herrlichen Waldungen, besonder« großen Eichenwäldern, dicht bedeckt. Der cimimsche Wald — bei dem 311 v. Ch. Q. FabiuS die Etru-ker schlug — galt den Römern gewissermaßen al« rin Urwald. Dir ausgedehnten Waldungen bei Benerrntum, woselbst Curiu« Dentatu« über König Pyrrhu« „siegte" waren wie die übrigen italischen Wälder außerordentlich wildreich. Die Rücken der Gebirge waren dicht bewaldet, ebenso die unteren und mittleren Tdeile der einzelnen Berge. Die heute so wald arme Po-Ebene bedeckten im zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung noch dichte Wälder. Der Römer in der Sommerfrische fand immer lohnende Jagd. Die Flüsse und Bäcke waren fischreich und der Fisch fang ein sehr beliebter Sport. In der Nähe der römiscven Landhäuser lagen vielfach Fischteiche und Weiher. Auf letzteren schaukelten sich elegant« Gondeln, da besonder» die vornehmen Römerinnen es liebten, fick in den späteren Nach mittagsstunden über den glatten Wasserspiegel rudern zu lassen. Auch an beißen Quellen, an natürlichen Schlammbädern und an Mineralquellen, die eifrig benutzt wurden, fehlte es nicht. Sehr berühmt waren die heißen Quellen an den euganäiscken Hügeln in Oberitalien. Besonder- im südlichen Gallien faßten die Römer zahlreiche Quellen und bauten darüber herrliche Badehäuser aus Quadersteinen, Terracolta und einer cementartigen Masse von außerordentlicher Härle. Ueberall gab es Dampfbäder und Heißluftbäder. Der Berg sport war den Römern unbekannt. Die Aerzte der Kaiserzeit empfahlen ibren Kranken nicht nur den Aufenthalt auf dem Lande, an der See, sowie See-, Schwefel- und heiße Bäder u. s. w., sondern auch kürzere und längere Seereisen zu Curzwecken. Brustleidende Personen wurden nach Afrika und besonders nach Egypten geschickt. Den reichen Familien, hauptsächlich aber den Cäsaren und den Mitgliedern der kaiserlichen Familie, schrieben die Aerzte überaus Kode Rechnungen, wenn die Euren ganz oder tbril- weise geglückt waren. Im zweiten Jahrhundert wurden „gegen die hohen Doctorrecknungen" besondere Gesetze er lassen, „da die Habgier der Heilkünstler eine schamlose sei". Viele Aerzte prakiicirten übrigens im Winter in Rom und im Sommer in den Bädern, laut comms cker nous! Der minder Bemittelte, der sich auf einige Monate in die Sommerfrische oder in einen Badeort begab, reiste einfach zu Pferde und zwar ohne Steigbügel und ohne Sattel, wie die« damals allgemein üblich war. Gewöhnlich legte man aus den Rücken des Tbieres ein Kissen oder eine Decke. Die Sättel kamen erst im vierten Jahrhundert, die Steig bügel sogar erst im fünften Jahrhundert unserer Zeitrechnung auf. An den Landstraßen waren indessen in regelmäßigen Zwischen räumen Tritlsteine für die Reiter ausgestellt. Vornehme Römerinnen ließen bei ihren Badereisen ihre Wagen nicht selten durch Hirsche, ja sogar durch Pfaue ziehen. In den Herbergen an der Landstraße übernachteten die römischen Familien, die sich in« Bad begaben, nur in Au«nahmefällen. Man logirte für gewöhnlich bei Gastfreunven gleichen Stande«. Da« eleganteste Badeleben entfaltete sich in den Bädern an der Meeresküste. Die Pracht in den römischen Morebädern war eine außerordentliche. Die römischen Dichter und Schriftsteller rühmen besonder« Bajae mit seinen marmornen Luxusbauten, seinen eigenartigen Seefischbebältern und beklagen auf der andern Seite die fabelhafte Ver schwendung, die gerade in diesem Bade getrieben wurde. In Bajae nahm man alle möglichen Bäder, warme Bäder in den Badrhäusern und kalte Bäder in der See. Besonders beliebt waren natürliche Sckweseldampfbäder. Man kannte übrigens damals bereits die Wellenbadschaukel. Denn in den Dampfbädern waren schwebende Wannen aufgebängt, welche die vornehmen Römerinnen, sobald sie eiu Bad nahmen, mit Vorliebe benutzten. In den Seebädern am Golf von Neapel entfalteten die Damen einen Toiletten - Aufwand, der die Einkünfte ganzer Städte verschlang. „Rom plünderte Afrika und Asien aus, die römischen Frauen aber Rom selber durch ihre Verschwendungssucht", so jammerte ein Schriftsteller im zweiten Jahrhundert. Ein anderer etwas pessimistisch an angehauchter Schriftsteller schrieb: „Für Kleider, Schleier, Schmuck, Kopfputz und Badereisen der Damen müssen die römischen Ehemänner so viel Geld ausgeben, daß ihnen nicht einmal der lächerlich kleine Betrag bleibt, um sich in Ihrer Verzweiflung einen Strick zu kaufen." Der Selbstmord galt bekanntlich den Römern nicht für schimpflich. An Unterhaltungen und Zerstreuungen fehlte es natürlich in den Mokebädern nicht. Mit Wasserfahrten und Wasser festen, Gastereien, Gesang, Tänzen und Spielen — auch wurde hock „gespielt" — vertrieb man sich tue Zeit. Griechische Akrobaten führten in Len Bädern staunenerregende Kunst stücke auS, wandernde Rhetoren declamirten vor kleineren und größeren Cirkeln, und dresstrte Thiere wurden gezeigt. Der „Flirt" blühte in den Seebädern natürlich noch mehr als in Rom. In Bajae traf die vornehme Gesellschaft aus Italien, Griechenland, Syrien und Kleinasien zusammen. AuS dem Osten und Westen wurden alle Leckereien der Saison herbei geschafft. Man trank die besten Weine aus allen Ländern. Von der Insel Kreta brachte man einen schäumenden, unruhigen Wein, eine Art Champagner, der außerordentlich gekühlt werden mußte und den man nur in diesem besonders srappirten Zustande trank. Man sagte auch schon damals, dieser Kreterwein sei gerade so unruhig und stürmisch wie die Bewohnerschaft der Insel. Der Ausspruch deS DickterS: „Genieße den Tag" wurde in den Seebädern Unteritaliens und besonders in Bajae von jedem Badegäste im vollen Sinne de« Wortes befolgt. Man dachte nicht an die Zukunft, nur an den Augenblick und an rein materielle Genüsse. Die vor nehme lebenslustige römische Welt ließ sich in diesem Schlaraffenleben auch nickt durch die Kunde von Sclaven- Empörungen, Coloniften-Aufständen und von Barbaren-Ein- fällen an den Reichsgrenzen stören. Man belustigte und ver gnügte sich weiter, sogar oft in der unsittlichsten Weise, um erst mit Beginn de« Herbstes wieder in die Stadt zurück- zukehren.
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)
- Doppelseitenansicht
- Keine Volltexte in der Vorschau-Ansicht.
- Einzelseitenansicht
- Ansicht nach links drehen Ansicht nach rechts drehen Drehung zurücksetzen
- Ansicht vergrößern Ansicht verkleinern Vollansicht