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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 01.09.1896
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1896-09-01
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18960901011
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1896090101
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1896090101
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1896
- Monat1896-09
- Tag1896-09-01
- Monat1896-09
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Delbrück, Halle 1809 in einem Bericht an den Kaiser einen ehemaligen hannoverschen Postbeamten H. für daS Amt eines Oberpostdirectors in Frank furt a. M. in Vorschlag gebracht. Dieser Vorschlag war im Cabinet bemängelt worden, weil der Beamte erst drei Jahre in preußischen Diensten gestanden hatte. Cabinetsrath von Mühler hatte erfahren, daß Korrespondenzen des ehemaligen Königs Georg von Hietzing häufig den Weg über Frank furt a. M. nahmen, und meinte, daß die Ausführung etwaiger Beschlagnahmemaßregeln gegenüber solchen Correspondenzen für einen ehemaligen hannoverschen Beamten schmerzlich sein müsse. Er hatte deshalb dem König die Einforderung eines anderen Vorschlags rathen zu dürfen geglaubt, und Minister v. Roon hatte als Vertreter des abwesenden Reichskanzlers die abweisende Entscheidung contrasignirt. Aufgebracht über eine solche Einmischung des CabinetS in eine Frage seines RessortS, verfaßte Fürst Bismarck ein Prome mo ria (in Varzin 28. August 1869), worin es nach Er örterung deS speciellen Falles wie folgt heißt: „Es ist bisher nie vorgekommen, daß die technische Beurtheilung der Qualifikation einer Person in die Instanz des Civilcabinets verlegt worden wäre. Wenn dem General postdirector nicht mehr die Fädigkeit zugetraut wird, die technische Qualifikation der Beamten seines RessortS zu beurtheilen, so müßte derjenige Cab inetsrath, der sie richtiger zu schätzen weiß, an seine Stelle gesetzt werden, falls Ordnung im Dienste verbleiben soll. Die letztere ist unvereinbar mit einem System, nach welchem die pcrsönliche Qualifikation im Cabinet beurtheilt und damit der Schwer punkt der Personalfrage in eine dienstlich nicht verantwortliche Stelle verlegt würde. ES wäre mit eiuem solchen System dem Nepotismus eine weite Thür geöffnet, über die bei unS, namentlich bezüglich der Verwendung in den neuen Provinzen, wie es scheint nicht mit Unrecht, geklagt wird. Der vorliegende Fall stellt sich als ein in der preußischen Dienstpragmatik unerhörter dar Wenn der König persönlich eine Vorliebe für einen besonderen Beamten gehabt 'hätte, so würde Se. Majestät wohl mit Seinem Wunsche nicht zurückgehalten haben. Die Be urtheilung der dienstlichen Qualifikation eines Beamten hat Allerhöchstderselbe bisher dem Generalpostdirector vertrauens voll überlassen. Man kann daher die in diesem Falle ergangene königliche Entscheidung, mit welcher ein amtlicher Antrag abgelehnt wird, nur den postalischen Einwendungen des Herrn von Mühler (deS damaligen Cabinetsralhs) zu schreiben — einer Art von Beeinflussung der Aller höchsten Entschließungen im laufenden Dienst, welche mit der Stellung des Cabinetsraths unverträg lich ist und die Geschäfte vermehrt und erschwert." Zugleich richtete Fürst Bismarck am folgenden Tage einen Privatbrief an den Minister von Noon, worin es heißt: „Ich weiß nicht, ob Mühler (Cabinet) einen anderen Postcandidatcn in potto hat, oder ob er nur jene frivole Motivirung der Allerh. Entscheidung fabricirt hat, um irgend welcher weiblichen Einbläserei (folgen Namen einfluß reicher Damen) den Mantel umzuhängen. Aber ich kann weder mit der Postcamarilla noch Ha rem s in trig uen bestehen, und Niemand kann verlangen, daß ich Gesundheit, Leben und selbst den Ruf der Ehrlichkeit oder des gesunden Urtheils opfere, um einer Laune zu dienen. Ich babe seit 36 Stunden nicht geschlafen, die ganze Nacht Galle ge spien, und mein Kopf ist wie ein Glühofen, trotz Umschläge. ES ist aber auch, um den Verstand zu verlieren. Verzeihen Sie meine Aufregung, nachdem Ihr Name unter der Sache steht, aber ich kann ja nicht annehmen, daß Sie bei der Form der Unterschrift sich die Sache angeeignet oder auch nur geprüft haben. Ich selbst überlasse dergleichen dem makellosen Philipsborn (dem damaligen Generalpostdirector), aber nicht dem Cdbinets-Mühler oder (Name einer Frau)." Roon anlwvrtere auf den Brief unter dem 1 September, daß der Schaden jedenfalls reparabel sei: „ES thut mir herzlich leid, daß ich durch meine Contrasignatur zum Mitschuldigen geworden bin. Aber zu meiner Ent schuldigung darf ich Wohl daran erinnern, daß wir nicht selten Dinge contrasigniren, ohne sie materiell approfondirt zu haben. Hätte ich eine Ahnung von dem Effect und der Bedeutung jener Ordre auf Sie gehabt, so würde ich dagegen remonstrirt haben. Dies zu thun, bin ich auch heute bereit." Deutsches Reich. LH Berlin, 31. August. In Bezug auf die Revolte gegen Liebknecht verdient Beachtung, wie das „Bruder organ", die „Magdeburger Volksstimme", die Sache auffaßt; daS Blatt läßt sich also auS: „Nach unserer bescheidenen Meinung hat der Chefredakteur einer großen politischen Zeitung nicht allzu oft feinen Wirkungskreis zu verlassen. Wenn er andere Pflichten zu erfüllen hat, wie das bei dem Genossen Liebknecht der Fall ist, so mag er vertrauens voll die Chefredaction anderenHänden übertragen. Unserem alt bewährten Genossen bleibt dennoch ein großes Feld, auf dem er agi tatorisch wirken kann — ist er doch trotz seines Alters jugend frisch und kampsesmuthig. Nach den Vorgängen in Offenbach und Berlin erscheint auch uns ein Zusammenwirken Liebknecht's mit der Redaction des „Vorwärts" ausgeschlossen; wir wünschen, daß der Parteitag hierzu entschieden Stellung nimmt. Wir beklagen, daß dieser Streit durch einen Mann herausbeschworen ist, der noch vor nicht allzu langer Zeit als Socialpolitiker der .Frankfurter Zeitung" zu uns herübergekommcn ist und sich einbildet, mit seinen theoretischen Floskeln die Arbeiterbewegung, die ohne seine werlhe Kraft Stürme zu überwinden hatte, resormiren zu können. Quarck drängt die Arbeiter zur praktischen Thätiakeit. er hat aber bis heutigen Tages nicht Zeit gesunden, die ihm vor Jahren zugcstellten Fabrikordnungen zu sichten, um der Socialdemokratie im Reichstage Material in die Hände zu spielen zu einem kräftigen Vorstoß gegen einzelne Bestimmungen der Gewerbeordnung. Und warum hat vr. Quarck diese ihm übertragene Arbeit nicht abgeschlossen? Weil er die Erledigung derselben von dem Gelde abhängig machte." Ein Wechsel in der Chefredaction des „Vorwärts" ist schon längst der Wunsch vieler „Genossen", und es wird dem Gothaer Parteitage auch ein hierauf bezüglicher Antrag vor gelegt werden. tt Berlin, 31. August. Mit dem Ablauf des Jahres 1896 werden die gewerblichen Berufsgenossenschaften von einer nicht wenig drückenden Verpflichtung befreit werden, von der Erhebung der Zuschläge zu den Entschädigungs beträgen für die Reservefonds. Man wird die Summe der jetzt schon bei den Genossenschaften angesammelten Reserven auf rund 120 Millionen annehmen können. Aus der Höhe des Betrages fft ersichtlich, daß die Beitragstheile, die hierfür jährlich von den Berussgenossen aufgebracht werden mußten, nicht gering waren. Der letzte Beitrag zu diesem Zwecke wird nun für das laufende Jahr erhoben werden. Das Unfallversicherungs gesetz vom 6. Juli 1884 bestimmt, daß Zuschläge zu den Entschädigungsbeträgen für die Reservefonds in allmählich sich verringernden Procentsätzen 11 Jahre hindurch erhoben werden sollten. Diese Il Jabre würden allerdings schon mit dem letzten September des lausenden Jahres verflossen sein, da dieBerufSgenossenschaften ihreThätigkeit am 1.October 1885 begonnen haben. Indessen ist der erste Reservefonds beitrag für die Zeit vom 1. October 1885 bis Ende 1896 erhoben, darnach würde dieser Zeitraum als daS erste hier in Betracht kommende Jahr zu gelten haben. Für 1896 werden die Berufsgenossenschaften noch 10 Proc. der Entschädigungsbeträge als Zuschlag für die Reserve fonds zu erheben baden. Von da an wird die Behandlung der letzteren eine verschiedene sein, je nachdem ihre Höhe zu derjenigen der Gesammlausgaben sich stellen wird. Eine ganze Anzahl von Berussgenossenschasten wird von 1897 ab in der glücklichen Lage sein, die Zinsen der Reservefonds zur Deckung ihrer Ausgaben mit zu verwenden, die jährlichen Beiträge also um die Summe dieser Zinsen zu ermäßigen; denn eß ist vorauszusehen, daß ziemlich zahlreiche Ge nossenschaften schon Ende 1896 der vom Gesetze für die Zinsenverwendung zu diesem Zwecke gestellten Bedingung der Erreichung deö doppelten Jahresbedarfes durch den Be trag des Reservefonds genügen werden. Die Minderheit, der es bis dahin noch nickt gelungen sein wirb, ihre Reserve fonds trotz der Beobachtung der gegebenen Vorschriften so auszustatten, wie eS im Gesetze verlangt ist, wird vorerst noch gezwungen sein, die Zinsen zu demselben zuzuschlagen. Jedenfalls wird die Beitragslast aller Berussgenossenschasten für die auf 1896 folgenden Jahre, natürlich abgesehen von den inzwischen wieder in die Erscheinung tretenden Steige rungen der Entschädigungsbeträge, eine Ermäßigung erfahren. * Berlin, 3l. August. Man schreibt der „Nat.-Lib. Corr.": „Mit vollem Recht haben Sie die Wichtigkeit betont, welche den Paragraphen des Gesetzentwurfs, betreffend die Organi sation des Handwerks, zukommt, in welchen die zukünftige Handwerksinspeclion ihren Ursprung finden wird. Dringend geboten erscheint es aber auch, die Kehrseite der Medaille, das Hinübergreifen dieser Auffichtsbefugniß der Innungen, HandwerkSausschüsse und Handwerkskammern in den Fabrikbetrieb genauer ins Auge zu fassen. Es ergiebt sich dann, daß der berührte Gesetzentwurf für die Mehr zahl aller Fabrikbetriebe zu der bereits bestehenden dreifachen Beaufsichtigung noch eine vierte hinzufügt. Nach dem 8 97 ä des Gesetzentwurfs wird den Innungen, Handwerks- auSschüssen und Handwerkskammern ausdrücklich die Befugniß ertheilt, „durch Beauftragte die Befolgung der gesetzlichen und statutarischen Vorschriften zu überwachen und von der Ein richtung der Betriebsräume, der für die Unterkunft der Lehrlinge bestimmten Räume .... Kenntniß zu nehmen." Die Verpflichteten haben den als solchen legitimirten Beauftragten der betbeiligten Innungen, Handwerks ausschüsse und Handwerkskammern auf Erfordern während der Betriebszeit den Zutritt zu den Werkstätten und Unter- kunftSräumen, sowie zu den sonst in Betracht kommenden Räumlichkeiten zu gestatten und ihnen Auskunft über alle Gegenstände zu geben, welche für die Erfüllung ihres Auftrags von Bedeutung sind; sie können hierzu auf Antrag der Beauftragten von der OrtSpolizeibehörde angehalten werden. Nur wenn der Betriebs - Inhaber aus der Revision durch einen bestimmten Beauftragten eine Schädigung feiner Geschäftsinteressen befürchtet, soll ihm Feuilleton. Die heilige Stadt -er Russen. (Zum Zarenbesuche in Kiew vom LI. August bi» L. September.) Von Theodor Hermann Lange. Nachdruck vrrbotrn. DaS Zarenpaar ist auf seiner gegenwärtigen Rund reise durch Europa am 3l. August in Kiew eingetroffen und wird dort drei volle Tage verweilen. Kiew ist die heilige Stadt der Russen, älter und ehrwürdiger als Moskau und all die anderen großen, mittleren und kleineren Städte des weiten Reichs. Es ist die alte Residenz der RurikS, „vie Anfangs station auf der russischen Straße nach Byzanz", die Stadt, wo Wladimir „der Große" die Taufe empfing und wo zuerst das christliche Kreuz in Rußland aufgerichtet wurde. Kiew ist ferner die Stadt, wo die Gebeine der unverwesten Heiligen mit den Salböl schwitzenden Schädeln in den selt samen Höblengräbern ruhen, die Stadt, zu der die gläubigen Russen mit der gleichen Andacht pilgern, wie die Mubame- daner nach Mekka, die Stadt, von der ria UkaS deS Zaren NicolauS I. sagt, sie sei „die Wiege des heiligen Glaubens unserer Vorfahren und die Stadt, der Zar Alexander II. bald nach seinem Regierungsantritte den Beinamen „daS Jerusalem der russischen Lande" verlieb. Schließlich ist auch Kiew die Hauptstadt der russischen Bettler, die dort wirklich klassische Vertreter haben. Und doch sah sich Rußland drei und ein halbes Jahrhundert dieses „Juwels des Glaubens" beraubt. Wie die Deutschen um daS verlorene Elsaß und besonders um daS entrissene „wunderschöne Straß burg" nahezu zwei Jahrhunderte klagten, so seufzten von Anfang deS 14. bis gegen Ende deS 17. Jahrhundert» die Ruffen um da- heilige Kiew, welches von 1320 bis 1569 unter littauischer und von 1569 bis 1686 unter polnischer Herrschaft stand. Schon vor acht Jahren hallte daS prächtige Kiew, welche» stolz auf den stattlichen Höben am rechten Dnjeprufer sich erhebt, während die blauen Fluthen de» Strome» die tief gelegenen Stadtquartiere bespülen, von Heller und seltener Festesfreude wider. Damal» strömten Hunderttausende auS allen Tbeilen de» Reiche« nach Kiew, um da» 900 jährige Jubiläum der Einführung de» Christenthum» in Rußland aus da» Feierlichste zu begehen. E» war die« am 15 /27. Jul, de« Jahre« 1888. Auch heute prangt Kiew in herrlichem Schmucke anläßlich der Anwesenheit de« jungen Zarenpaares. Kiew kann bi« zu einem gewissen Grad« einen Vergleich mit Konstantinopel und Neapel auShalten. Auf hohen und stellenweise steilen Hügeln erbebt sich Alt-Kiew und die Gräberstadt „PetscherSk". Die Citadelle und die Fort« sind oben auf den Bergkuppen angelegt. Auch die vornehmen Quartiere, darunter va» sog. Lindenviertel mit dem kaiserlichen Garten, liegen auf einem Hügel und am Abhang« diese« Hügels. Nur da« Handelsquartier, Podol genannt, mit den Staden, den SchiffScomptoiren, den Bureaux der Spediteure, den Gewölben der Bankiers und Wechsler, den TraktirS (Kneipen), den Kramläden und Trvdelbuden zieht sich unten im Thale neben dem Dnjeprstrom dabin, über den zwei mächtige Brücken führen. Der Anblick der Stadt mit ihren stolzen Hügeln, den theilweise terrassenförmig darauf erbauten Häuserreihen und dem breiten Wasserspiegel wirkt auf den Reisenden, der von der galizisch-russischen Grenze oder vom Nordosten gekommen und durch weite Steppen und Ebenen gefahren ist, außerordentlich über raschend. Man muß Kiew im Sommer sehen. In der heißen Julisonne flimmern und leuchten die gelben und weißen Wände der zahlreichen Kirchen, Capellen und Klöster ganz eigenartig. Scharf heben sich die grünen, rothen, blauen, versilberten und vergoldeten Dächer von den Hellen Fronten der Gotteshäuser ab. Darüber aber ragen stolz die großen Kreuze, stellenweise mit blitzenden Ketten an den Kuppeln befestigt. Vereinzelt befindet sich unmittelbar unter den Kreuzen auch noch der Halbmond. Neben den Kirchen stehen die Glockenthürme. Letztere erheben sich in Kiew vereinzelt bis zu drei und vier Stockwerken, und dumpf und einförmig tönen die Schläge der großen Hämmer an die äußeren Glockenwände. Zwischen den CerkowS (Kirchen), Klöstern, Palästen, Villen, Schul- und Kroiiszebäuden, Casernen, Magazinen rc. schimmert daS üppige Grün reizender Gärten und Promenaden. Kiew ist auch eine moderne Stadt mit zahlreichen Luxusbauten, Theatern, Concerthallen, großen Hotels, eleganten Conditoreien rc. Auch das Bild, das der äußerst lebhafte Hafen mit den qualmenden Dampfern, großen Lastkähnen, einem ansehnlichen Mastenwalde, sowie zahlreichen kleinen Booten und Seglern darbietet, ist ein ungemein abwechselungsvolles. DaS linke Ufer des Stromes ist flach, sumpfig oder sandig. Dann beginnt gleich wieder die weite, schier endlose Steppe, welche der polnische Dichter Bohdan Zaleski in so ergreifender Weise besungen — jene Steppe, die im Winter «in Leichen tuch, bei Beginn des Frühlings ein Morast, auf der Scheide von Frühling und Sommer ein wunderbarer Blumenteppich und im Hochsommer eine auSge.örrte staubige Fläche mit einem vor Hitze gespaltenen Boden ist. Im Herbst wird dann diese Steppe wieder zum Sumpfe. DaS ganze Jahr fehlt e» in Kiew nicht an Besuchern und Pilgern. Di« großen Pilgerströme treffen im Juli eia. Dann wälzen sich die Massen langsam von Kirche zu Kirche, von Kloster zu Kloster, oder die Pilger ziehen singend in Processionen durch die Straßen. Ganze Schaaren von Mönchen in ihren dunklen, verschlissenen Gewändern schreiten gemächlichen Schritte» durch die Straßen, und Nonnen mit dem müden und melancholischen GesichtSauSdruck« der Kleinrussinnen sind gleichfalls häufige Erscheinungen. Ueberall aber strecken unS jammernde Bettler, Krüppel, Blinde, Lahme und Taubstumme ihre großen, un beholfenen Hände entgegen, während die welken Lippen Gebete murmeln. Die Bettler sind in allerhand Lumpen und Lappen gehüllt, und besonders die Blinden mit ihren erloschenen Blicken und den tief in den Höhlen liegenden Augen macken einen Mitleid erweckenden Eindruck. Kein Pilger versäumt natürlich, das Pelscherskische Höhlen kloster aufzusuchen, um an den Altären dieser Todtenstadt zu beten. Ueber der Todtenstadt unter der Erde erbebt sich eine Kirchenstadt oberhalb der Erde. Zum Petscherskischen Kloster gehören nämlich 16 Kirchen und zahlreiche Capellen. Tie verschiedensten Klostergebäude, in denen gleichzeitig einige Tausend Pilger untergebracht und verpflegt werden können, sind so groß und so umfangreich, daß diese Häusercomplexe eine kleine Stadt bilden. Der Andrang zu den Höhlen gräbern ist ein gewaltiger. Nicht nur Stunden, auch halbe und ganze Tage muß man öfter« warten, ehe man Zutritt erhalten kann. Ueber den Bau deS großen im Hofe befindlichen GlockentburmeS wird folgende Legende berichtet: Als das Fundament zu dem Bau gelegt und die Hälfte des ersten Stockwerks fertig gestellt worden war, sank plötzlich der Bau in die Erde. Je höher der Thurm gebaut wurde, desto tiefer sank derselbe in die Erde hinein. Die Bauleute arbeiteten immer auf ebener Erde weiter. Als der Thurm bis zum letzten Stockwerk fertig gestellt war, stieg er durch ein Wunder aus der Erde empor in die Höhe. Von seiner höchsten Etage genießt man eine entzückende Rundsicht, zunächst über die Klosteranlaaen und über die Festungswerke, dann über das jenseits der Schluckt liegende Alt-Kiew und über die Quartiere im Thale, den Strom und die weithin sich ausbreitenden Ebenen zur linken Seite deS FlußlauseS. Doch schreiten wir jetzt hinab in die Todtenstadt. Ein Mönch führt unS durch die schmale Pforte in die Höhlen hinunter. Kerzen und Lampen brennen in den Katakomben, auS denen uns eine schwere, drückende Luft entgegenschlägt. In den Nischen und Zellen ruhen in offenen Särgen die sterblichen Ueberreste der Märtyrer und sonstigen Heiligen, sowie zahlreicher Mönche, und neben oder auf den Särgen sieben Teller, in welche die Pilger ihre Gaben werfen. DaS Gesicht der Heiligen ist verhüllt, die Hände sind über der Brust gefaltet und umschließen ein Kreuz. Plötzlich wird der Gang, den wir durchwandeln, breiter und mündet in eine weite Grotte, unter deren Wölbung sich ein großer Altar befindet. Hier liegen stets zahlreiche Pilger am Fußboden und beten. Sie küssen dabei die Erde und schlagen die Stirn gegen die Steinplatten. Die verschiedenen Capellen und Altäre weisen reichen Schmuck auf. Erst nach geraumer Zeit gelangen wir wieder an die Oberfläche. Wir wandern dann an dem Baum« deS heiligen Antoniu», an den heiligen Quellen und an sonstigen Sehenswürdigkeiten vorüber, um dann abermals in andere Katakomben, in die sogenannten TheodosiuShöhlen, hinabzusteigen. Hier ver abreicht man das Oel aus den Oel schwitzenden Schädeln der 30 Heiligen in ganz kleinen Flaschen. Diese- Oel ge langt beim Sacrament der Taufe, bei der Firmung und bei Ertheilung der Sterbesacramente zur Verwendung. In den Katakomben deS Theodosius finden wir aber nicht nur die deigesetzten Leichen, sondern auch gewissermaßen lebendig Begrabene. Diese Letzteren begeben sich infolge eine« religiösen Gelübdes in die Katakomben hinab, um dort den Tod zu erwarten. Bei Wasser und Brod verbringen diese Asketen zuweilen Jahre in den Zellen dieser Höhlen, ehe der Tod sie abruft. Ihr Vermögen oder ihren kleinen Besitz ver machen sie gewöhnlich dem Kloster. Wie fast alle russischen Klöster, so verfügt auch das Höhlenkloster von Kiew über ganz bedeutende Schätze und Besitzungen. Auch die anderen Kirchen in Kiew sind sehr reich und tbeilweise imposante Gotteshäuser. Uebrigens stehen die ältesten steinernen Kirchen von ganz Rußland in Kiew. In mehreren dieser Kiewer Kirchen befinden sich äußerst kostbare Altäre. In der Sophia-Kathedrale weist der Hauptaltar drei Stockwerke auf und das Schnitzwerk ist von künstlerischer Vollendung. Auch andere Kirchen haben ähn liche werthvolle Altäre. Im Ganzen zählt man in Kiew 65 orthodoxe Kirchen und 8 orthodoxe Klöster, zwei katholische und eine evangelische Kirche, sowie 14 Synagogen. Unter den nahezu 200 000 Einwohnern, die zum größeren Theile der russischen StaalSkirchc angehören, befinden sich annähernd 20 000 Katholiken, über 18 000 Juden und 2300 Protestanten. Der Nationalität nach giebt eS, von den Russen abgesehen, 12 000 Polen, 2500 Deutsche und mehrere hundert Tataren, Griechen, Armenier, Franzosen rc. Kiew besitzt eine berühmte Hochschule, die Wladimir-Universität. Im Jahre 1833 wurde die polnische Universität in Wilna aufgehoben und nach Kiew verlegt, wo sie als eine russische Universität wieder eröffnet wurde. Auch ist Kiew der Sitz eines General- gouverneurS. Die Industrie ist nicht sonderlich bedeutend. Bekannt sind die Kiewer Großgerbereien, dazu kommen noch mehrere Fabriken für landwirthschaftliche Maschinen und einige Schiffsbau-Anstalten. Recht ansehnlich ist der Zucker handel. In früheren Zeiten hatten auch die bekannten „Kiewer Contracte" eine große Bedeutung für das Geschäftsleben in der Ukraine, in Wolhynien und Podolien. AuS den verschiedensten Gouvernement« kamen dann die Großgrundbesitzer nach Kiew, um Güter zu kaufen und zu verkaufen, um Pächter, Direc toren und sonstige Beamte für ihre Besitzungen zu suchen, um mit den Kaufleuten und Bankier- allerhand Geschäfte abzuschließen rc. Diese „Contracte", die heute ihre ehemalige Bedeutung vollständig verloren haben, währten in früheren Zeiten wie noch gegenwärtig von Mitte Januar bis Mitte Februar. Dann brachten auch die vielfach polnischen Groß grundbesitzer ihre Frauen, Söhne und Töchter mit, und auf den Bällen und bei den rauschenden Festlichkeiten wurde so mancher Herzensbund geschlossen. Jetzt ist eS in Kiew stiller geworden. Der Rubel sitzt zwar den Leuten dort noch immer sehr locker in der Tasche, aber heute werden die Rubel schwerer als früher verdient. Bei der Anwesenheit de« ZarenpaareS wird ja die Bevölkerung von Kiew wieder „in Freude und Wonne schwimmen", und die ältere Generation wird sich dabei wehmüthig jener glänzenden Zeiten erinnern, wo man auf den „Kiewer Contracten" den Hundertrubel schein nicht länger zwischen den Fingern drehte, als heute die Zehnrubelnote.
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