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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 09.10.1896
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1896-10-09
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18961009023
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1896100902
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1896100902
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
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- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1896
- Monat1896-10
- Tag1896-10-09
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7408 Störenfried« gewesen. Mehrere Anarchisten sind verhaftet worden. Die meisten indrß haben sich der Gefahr, die ihnen drohte, entzogen und haben Paris vor den Festtagen verlassen, so ein gewisser Bonvet der das Blatt „La Sociale" (die Folge des PSre Peinard) heraus- giebt und rin gewisser Nuovi. Wohl aber sind verhaftet Matta, Herausgeber des „Llbertaire", und Constant Martin, der frühere Milchwirlh. * Rubaix. 8. Oktober. Unter Mitwirkung des hiesigen socio- listischen Gemeinderaths fanden hier antirussische Demon strationen statt. 2000 Socialisten durchzogen die Straßen. Es sind auS diesen Anlässen achtzehn Verhaftungen erfolgt. Politische Tagesschau. * Leipzig, 9. October. Wie nach einer osficiösen Mittbeilung außer Zweifel steht, bat der vorgestern in HubertuSslock abgehaltene Kronrath beschlossen, die Umwandlung der 3500 Millionen preußischer 4procentiger Anleihen beim Landtag und der gleich hoch verzinsten 250 Millionen deutscher Reichs- consolS in 3>/rProcentige Papiere beim BundeSrathe zu beantragen. Ueber den Modus der Convertirung ver lautet noch nichts, doch wird osficiös versichert, man würde mit aller möglichen Milde und Schonung verfahren, d. h., daS Reich und Preußen würden ihren Gläubigern gewisse Vortheile sichern, die der bayerische Finanzminister für die Umwandlung von 1100 Millionen 4procentiger Staats schuldverschreibungen nicht zu gewähren für nöthig gehalten hat. Der äußere Erfolg rechtfertigt daS Vorgehen des Herrn v. Riedel; eö ist in Bayern nur eine winzige Summe — noch nicht 100 000 wenn wir unS recht erinnern — zur Rückzahlung verlangt worden. Allein diese Bagatelle repräsentirt keineswegs den Besitz an bayerischen Obli gationen, besten bisherige Besitzer sich entäußert haben. Dieser dürfte vielmehr sehr beträchtlich gewesen sein. Nachdem das Conversionsanerbieten des Ministers bekannt geworden war, erfolgte ein starkes Angebot der gekündigten Papiere, das sich durch einen nicht unbeträchtlichen CourS- rückgang offenbarte. Wie die Verschiebung sich gestaltet hat, liegt auf der Hand. Die kleineren und kleinen Capitalisten haben die im Zinsfuß herabgedrückten Papiere abgegeben, große und größte, die sich bei der Vermögens-Ansammlung sehr wohl mit drei Procent begnügen können, haben sie ausgenommen. Insbesondere sind auch Engländer wieder als Käufer aufgetreten, die bei 3^/r Proc. ein ganzes Procent mehr erzielen, als der eigene Staat den Gläubigern gewährt. Volkswirthschaftlich ist die bayerische Conversion mithin nicht so ^gelungen", wie staatSwirthschaftlich. DaS ein heimische Capital hat sich zum Theil auf die niedrigere Verzinsung nicht eingelassen und anderen Anlagen zu gewendet. Welchen? DaS wissen zur Zeit nur die Götter und diejenigen Elemente in der Bankierswelt, die den Schwerpunkt ihrer geschäftlichen Thätigkeit in der Ueberfluthung des kleineren Geldbesitzerstandes mit zweifelhaften Werthen suchen. Wenn angesichts dieses Verlaufes das Reich und Preußen den Besitzern der zur Umwandlung bestimmten Schuldverschreibungen die Beibehaltung wünschenS- werther machen, als Bayern gethan, so werden sie nur im wohlverstandenen Staatsinteresse handeln, namentlich Preußen, bei dem es sich um die angegebene Riesen summe handelt. ES fragt sich nur, in welcher Weise den zahllosen zur Fristung ihres Daseins auf eine kleine Rente aus Consols angewiesenen Privatpersonen, sowie den Sparcassen und ähnlichen Anstalten die bittere Pille versüßt werden soll. Vor etwa Jahresfrist war in einem nationalliberalen Organ vorgeschlagen worden, die Zinsminde- runa derart zu bewirken, daß alljährlich ein Zehntel-Procent in Wegfall käme, so daß die Herabsetzung auf 3>/r Procent erst nach fünf Jahren perfect geworden wäre. Man hat damals nicht bestritten, daß eine derartige sanfte Behandlung sehr viel Verlockendes haben würde, dem Vorschläge aber technische Bedenken entgegengehalten. Solche ruft er auch ohne Frage wach — die rechnerische Abwickelung wäre nichts weniger als einfach —, wir bezweifeln aber dennoch, daß sie angesichts der winkenden nationalwirthschaftlichen Vortheile als durchschlagende angesehen werden können. Als ein anderes Mittel, eine allzu starke Umwälzung des Geld marktes als Folge der Rentenumwandlung hintanzuhalten, wird die Zusage vorgeschlagen, daß die jetzt convertirten Papiere innerhalb eines bestimmten Zeitraumes einer weiteren Zins herabsetzung nicht unterliegen sollen. Diese Sicherheit ist in Bayern schwer vermißt worden und scheint in der That noth- wendig. Denn wenn zu der jetzigen Minderung der Ein nahmen noch die Furcht vor einer baldigen Wiederholung der selben träte, dann würde der Reiz, sich höher verzinsten Anlagen zuzuwenden, eine bedenkliche Erhöhung erfahren, zu mal in einem Augenblicke, wo der solide Aufschwung der Industrie die von ihm, wie eS scheint, unzertrennliche Er scheinung unsolider Gründungen zeitigt. Die Ergebnisse der am 5. d. im 8rotzherzogthmn Hessen vorgenommeuen Landtagswahlen liegen zwar noch nicht voll- tänvig vor, lassen aber bereits erkennen, daß die bisherige Zu- ammensetzung der Zweiten hessischen Ständekammer — 32 Na tionalliberale, 6 Freisinnige, 5 Ultramontane, 4 Socialdemo kraten und 3 Antisemiten — sich nicht wesentlich verändern wird. DaS ist um so bedeutsamer, als im letzten Landtage der Groll gegen die „verpreußte" Regierung und der blinde Haß gegen sie Nationalliberalen zu einer Vereinigung geführt hatten, die ich mit Stolz die „Opposition" nannte und in welcher das Centrum die erste Violine spielte, Deutschfreisinnige, Antisemiten und Socialdemokraten die weitere Gemeinschaft bildeten. Die Ver nichtung der nationalliberalen Kammermehrheit war daS Ziel, das die „Opposition" bei dem Wahlkampfe sich gesteckt hatte und von welchem sie in allen Wahlkreisen ihre Schritte leiten ließ. So hat vaS Cent rum in Offenbach-Stadt den social demokratischen, in Gießen den deutsch-freisinnigen Wahl vorschlag unterstützt und wird in Groß-Umstadt für den Antisemiten stimmen, Alles nur aus Haß gegen die National liberalen. Die Nationalliberalen sind aber trotz der verzweifelten Anstrengungen der verbündeten Gegner fast ungeschwächt aus dem Wahlkampf hervorgegangen. Allerdings ist Offenbach- Stadt an die Socialdemokraten verloren, und Waldmichel bach ist durch einen „Parteilosen" gefährdet, sonst aber sind die nationalliberalen Sitze Wohl ohne Ausnahme behauptet und es werden der „Opposition" von 20 Köpfen wahrscheinlich immer noch 30 Nationalliberale gegenüberstehen. DaS genügt! Der dieser Tage als sicher gemeldete antisemitische Sieg in Groß-Umstadt wird jetzt widerrufen. Die „Verpreußung von Hessen" durch Verstaatlichung der Hessischen Ludwigsbahn, die die „Opposition" als Haupttrumps gegen die National liberalen ausspielte, von dem sie sich einen außerordentlichen Erfolg versprach, blieb bei den Wählern ohne jeden Ein druck. Am schlechtesten von der „Opposition" haben, wie die „Franks. Ztg." mit einem Kummer, der nur durch den socialdemokratischen Wahlsieg in Offenbach gemildert wird, eingesteht, die Freisinnigen abgeschnitten. In Gießen behaupten sie sich nur noch mit 13 Stimmen Mehrheit, und Mainz-Land geht an die Ultramontanen üb;r, allerdings auf Grund eines Compromisses. In Butzbach, wo der bisherige freisinnige Vertrauensmann, Bürgermeister Ioutz, als anti semitischer Candidat auftritt, wird die Verdrängung des bis herigen nationalliberalen Vertreters, wenn sie wirklich gelingen sollte, zur Erhöhung des Ansehens der „Freisinnigen" nicht beitragen. Sie haben, selbst im Falle der Wahl des Herrn Ioutz, nichts erreicht, als eine mühselige Behauptung von Gießen, die Abgabe eines Sitzes an die Ultramontanen, eines anderen an die Antisemiten und den Sieg eines Social demokraten über einen Nationalliberalen. Nimmt der „Frei sinn" hierzu noch seine „Erfolge" im Herzogthum Gotha, wo auf dem „classischen"Boden deS vorgeschrittenenLiberalismuS acht socialdemokratische Wahlsiege erfochten worden sind, so hat er alle Ursache, sich zeitig einen recht festen Sarg zu be stellen, dessen Deckel die lachenden Erben mit den Steinen, die sie dem Erblasser in die Gruft nachwerfen werden, nicht zertrümmern können. In der liberalen Partei Englands hat sich ein für daS gesammte Parteileben des Vereinigten Königreichs bedeut samer Schritt vollzogen: Wie wir gemeldet haben, ist Lord Rosebery von der Führerschaft der liberalen Partei zurückgetreten und zwar mit der Motivirung, daß er mit Gladstone sowohl wie mit dem größten Theil der Partei in Zwiespalt wegen der Auffassung der orientali schen Frage gerathen sei, in welcher er für ein Zusammen gehen Englands mit den übrigen Mächten eintrete, während Gladstone für eine zu kriegerischen Conflicten treibende Sonderaction Englands sei. Indessen dürfte für Herrn Rose bery der Zwist mit Gladstone nur ein Vorwand gewesen sein, um sich, wie man in der Bühnensprache sagt, einen guten Abgang zu sichern. Herr Rosebery erzielte seinen letzten großen Erfolg vor 1»/r Jahren, als er das englische Derby gewann, und auch diesen Erfolg wird man kaum einen poli tischen nennen können. Bald darauf erlitt die von Rosebery geführte Partei bei den Wahlen eine schmähliche Niederlage. In der darauffolgenden parlamentarischen Session trat Rose bery vollständig in den Hintergrund, obwohl ihm die viel fachen Ungeschicklichkeiten der Regierung die Gelegenheit gegeben hätten, sich nach der erlittenen Wahlschlappe zu rehabilitiren. Statt dessen aber ging die Führerschaft der liberalen Partei völlig an Harcourt über, der in der parlamentarischen Campagne von allen Staatsmännern am besten „abschnitt". Es ist also vielmehr Eifersucht gegen Harcourt, als gegen Gladstone, wenn Rosebery jetzt zurück tritt, denn darüber, daß der „große alte Mann" nicht mehr im Stande ist, eine politische Rolle zu spielen, sind sich alle ernsthaften Politiker in England einig. Für unS Deutsche würden diese Schwierigkeiten innerhalb der liberalen eng lischen Partei früher von Bedeutung gewesen sein, weil dadurch die Aussicht der Liberalen, ans Ruder zu kommen, gemindert wird, was in früheren Zeiten wegen der ausgesprochen unfreundlichen Politik der Liberalen gegen über Deutschland uns nur angenehm hätte sein können. Nachdem aber im vorigen Winter auch die unionistische Partei, besonder» ihr Führer Chamberlain gezeigt hat, wie gehässig sie gegen Deutschland ist, und wie sie es ebenso wie früher Gladstone versteht, den Frieden in Europa zu stören, ist eS unS herzlich gleichgiltig, ob die Einen oder die Andern am Ruder sind und ob wir Herrn Chamberlain oder Herrn Harcourt zurechtweisen müssen. Der Letztere hat freilich im vorigen Winter als kommender Mann der liberalen Partei Chamberlain gegenüber die Sache des Rechts vertreten und noch am 5. d. M. äußerte er, für ein Verständniß mit Rußland plaidirenv, seinen Wählern gegenüber: „Wir sehen naturgemäß und mit vollem Recht nach unseren Interessen, aber wir verschließen die Augen gegen die Thatsache, daß es auch für andere Nationen recht und billig ist, nach ihren Interessen zu schauen. Wir wünschen unser Machtgebiet auSzudehnen, aber wenn andere Nationen das nämliche Ziel verfolgen, dann schreien wir schon, als ob das eia Unrecht gegen uns sei. So mißtraut überall ein Chauvinist dem andern. Der patriotische Kampshahn kräht die Parole laut hinaus. Das ist die Naturgeschichte all der unnatürlichen unnöthigen gegenseitigen Ver dächtigungen, Eifersüchteleien und Verstimmungen . . ." DaS ist sehr schön und sehr einsichtsvoll, allein man darf nicht vergessen, daß Harcourt als Oppositionsführer gern die Gelegenheit wahrnahm, einmal dem Gegner eins auszuwischen. Wenn er ans Ruder käme, würden wir voraussichtlich ebenso wenig Freude an ihm erleben, wie an Herrn Chamberlain. In Bezug auf die orientalische Frage gingen in den letzten acht Tagen sensationelle, von Londoner Blattern verbreitete Nachrichten durch die Presse, nach denen in Balmoral ge legentlich der Anwesenheit des Zaren) zwischen Rußland und England eine Verständigung dahin getroffen worden sei, daß in der asiatischen Türkei als Einleitung zur Bildung eines eigenen Königreichs Armenien eine armenisch-christ liche Zone geschaffen werden solle, in deren Bereich England, Rußland und Frankreich, vielleicht im Verein mit Italien, Ruhe und Ordnung nicht nur für den Augenblick Herstellen, sondern auch für die Zukunft gewährleisten würden. Die Durchführung der Reformen solle erzwungen werden, entweder durch eine Occupation von Smyrna und Saloniki, oder selbst durch eine sofortige Forcirung der Dardanellen. Wir wiesen diese Nach richt sofort in daS Reich der Fabel, denn eine Neuordnung der Dinge, wie die hier angegebene, würde einer Losreißung Armeniens von der Türkei gleichkommen, ein solcher Schritt aber stünde mit der bisherigen Haltung der russischen Regierung, welche die Sanirung deS osmanischen Reiches auf ihr Programm geschrieben hat, in entschiedenem Widerspruch. Erst kürzlich, als russische Ingenieure die Dardanellen befestigungen prüften, hat sich gezeigt, daß Rußland die Rolle eines Beschützers, nicht eines ZertrümmererS der Türkei zu spielen gesonnen ist. Der Zar hat überdies allen Grund, daS Gelüste nach nationalpolitischer Selbstständigkeit in dem ihm selbst zugehörigen Theile Armeniens nicht zu wecken. Aber auch die Meldung, daß der Zar und Lord Salisbury ein Reformproject vereinbart hätten, nach welchem der Bosporus und die Dardanellen für Kriegsschiffe frei werden und die türkischenFinanzen durch eine Auf sicht über die Bezüge deS Sultans, sowie überhaupt über die Einnahmen und Ausgaben des türkischen Staates gebessert werden sollten, erscheint unglaublich. Der Zar hätte sich ja von Lord Salisbury geradezu überrumpeln lassen müssen, wenn er der freien Durchfahrt der Kriegsschiffe aller Nationen durch die Dardanellen seine Zustimmung gegeben hätte, im Gegensätze zu Rußlands bisheriger Haltung in dieser Frage. Man weiß in Rußland sehr wohl, daß England bei den vielen Stützpunkten, die es im Mittelmeer gebiete hat, bei der freien Durchfahrt durch die Darda nellen Rußland sehr leicht das Prävenire spielen könnte. Was den zweiten Punct anbelangt, die Regelung der türkischen Finanzen, so ließe sich darüber eher reden. Wir glauben nur, daß der Sultan gerade diesem Puncte am allerwenigsten zustimmen würde, weil er dadurch persönlich sich in Zukunft Beschränkungen in seinen Ausgaben auferlegen müßte. Zu einem derartigen Opfer aber, selbst wenn es im Interesse des Vaterlandes liegt, ist ein orientalischer Monarch schwer bereit zu finden. Daß England eine Art Sequestration über die Türkei, etwa in der Art der Vermögensverwaltung Egyptens, wünscht, ist wohl zu begreifen, denn da es in finanzieller Hinsicht den anderen Mächten Europas überlegen ist, so würde es dieses Uebergewicht ebenso wie in Egypten dazu benutzen, sich auch eine politische Präpotenz zu schaffen. ES ist darum recht zweifelhaft, daß diese englischen Wünsche die Zustimmung der anderen Mächte finden. Immerhin ist es nicht ausgeschlossen, ja sogar sebr wahrscheinlich, daß ein Abkommen zwischen England und Rußland getroffen ist, aber dasselbe wird zweifellos nicht über das hinauSgehen, was die übrigen Mächte bereits unter einander abgemacht haben, und sonach in der Hauptsache in dem Eingehen Englands auf die Pläne der Continentalmächte bestehen. Wenn das „Ncuter'sche Bureau" jetzt aus Paris meldet, Frankreich und Rußland hätten sich dahin verständigt, eine in nachdrücklichem Tone gehaltene Note an die Pforte zu richten, in welcher die Annahme von Reformen gefordert wird, durch welche die Sicherheit der armenischen Unterthanen de» Sultans gewährleistet würde, so ist daran zu erinnern, daß die gleiche Abmachung bereits während des Zarenbesuchs zwischen Rußland und Oesterreich-Ungarn unter Billigung Deutschlands getroffen worden ist, wie denn die Diplomatie beider Staaten von vornherein überzeugt gewesen ist, daß nur die Durchführung dieser Reformen zu einer Ge sundung der Verhältnisse im osmanischen Reiche führen könne, daß dieselbe sich aber nicht überstürzen lasse. Wenn also England, da» sich bekanntlich eine Zeit lang vom Concert der Mächte ifolirt hatte, jetzt erklärt, wieder mitthun zu wollen, so wird das kein Mensch als eine zwischen ihm und Rußland zu Stande gekommene Sonderaction be zeichnen wollen. Nur in der englischen Presse wird der Schein erzeugt, als handle eS sich um eine solche, um das Eingeständniß zu verdecken, daß England sich durch Vie energische Haltung Rußland«, welches bestimmt erklärt hatte, keine Sonderaction Großbritanniens zuzugeben, zum Ein lenken hat bewegen lassen. Vi^l wichtiger als diese neue englische Spiegelfechterei ist die Tyatsache, daß wirklich ein ernster Druck auf den Sultan, und zwar von der Gesammt- heit der Mächte, zu erwarten ist. Das weiß man auch am Goldnen Horn, denn man ist dort plötzlich von einem nie gekannten Reformeifer beseelt. So wirb der „Intern. Corr." aus Konstantinopel, 8. October gemeldet: In der gestern dem französischen Botschafter Cambon gewährte» Audienz erklärte der Sultan in bestimmtester Weise, er werde eine durchgreifende Verwaltungsreform für sämmtliche Theile des Reiches (auch für Makedonien) unverzüglich in Kraft treten lassen. — Des gleichen erließ der armenische Patriarchats-Verweser Barthogenio» an alle armenischen Diöcesen ein Rundschreiben, nach welchem die türkische Regierung die Wünsche der Armenier in weitgehender Weise berücksichtigt und die sofortige Einführung der Reformen an geordnet habe. Dieser plötzliche Reformeifer deS Sultans hat augen scheinlich den Zweck, einer ernsteren Nöthigung der Mächte zuvorzukommen. Zn den Botschafterkreisen wird jedoch ver sichert, daß man sich mit allgemeinen Versprechungen nicht zufrieden geben, sondern einen genauen Reformplan und die Einsetzung eines europäischenUeberwachunzs-AusschusseSfordern werde. Die „Intern. Corr." glaubt weiter zu wissen, Oester reich-Ungarn und Rußland seien zu einer Vereinbarung ge kommen, welche in nichts Anderem bestehe, als in derTheilung der Balkanhalbinsel in eineösterreichische undeine rufsischeZnteressensphäre. In den russischen Interessen kreis würden hierbei Bulgarien, Konstantinopel und die Dardanellen entfallen, während Rumänien und die ganze westliche Hälfte der Halbinsel einschließlich Salonikis zum österreichischen Interessenkreis gehören würde. Ein mili- tairisches Einschreiten in diesen Theilen der Türkei würde im Falle andauernder Unruhen demnach auch nur diesen beiden Mächten zukommen. Eine Bestätigung dieser Meldung bleibt abzuwarten. Deutsches Reich. Berlin, 8. October. Wie wir hören, ist als Termin für die Einberufung des preußischen Landtags der 20. November in bestimmte Aussicht zu nehmen. Unter den Vorlagen für den Landtag, die in den letzten Tagen ihre endgiltige Feststellung erfahren haben, befindet sich auch die jenige über die Verlegung deS Botanischen Gartens von Schöneberg nach der Gemarkung Dahlem bei Berlin. — Auf Grund der stenographischen Aufzeichnungen vom Dele- girtentag der nationalliberalen Partei wird soeben im Centralbureau der Partei (Berlin VV, Köthener Straße 46, 1. Etage) ein ausführlichster Bericht fertiggestellt, der als Flugschrift in der Stärke von 6 Bogen demnächst auS- gegeben und auch im Buchhandel (Commissionsverlag von Puttkammer L Mühlbrecht in Berlin) zu beziehen ist. Der Preis des einzelnen Exemplars stellt sich bei postfreier Zu sendung auf 60 ^s. Bei Entnahme einer größeren Anzahl von Exemplaren genießen die Vertrauensmänner und Geschäfts stellen der Partei, wenn sie sich direct an das Centralbureau wenden, einen erheblichen Preisnachlaß. Die Druckschrift wird Mitte der nächsten Woche fertiggestellt sein. * Berlin, 8. October. Am 3. October hat hier eine Conferenz der Landes-Directoren Preußens statt gefunden, in der zu dem Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Abänderung von Arbeiter-Versicherungsgesetzen, nachstehende Resolution, die dem Reichskanzler und dem Minister des Innern mitgetheilt worden ist, gefaßt wurde: 1) Die in dem Entwürfe des Gesetzes, betreffend die Abänderung von Arbeiterversicherungsgesetzen, entbaltcnen neuen Bestimmungen über die Beaufsichtigung der Vorstände der Jnvaliditäts- und Altersversicherungsanstalt sind mit den Grundsätzen der Selbst. Verwaltung, auf deren Boden das Gesetz vom 22. Juni 1889 beruht, durchaus unvercinbarlich und geeignet, die Selbstver waltung auf diesem Gebiete völlig zu vernichten. Dieselben bilden die Quelle unerträglicher Reibungen innerhalb der Verwaltung wie mit den neu geschaffenen Aufsichtsbehörden und weisen den beamteten Vorstandsmitgliedern eine Stellung zu, welche die Arbeitsfreudigkeit nur auf das Aeußerste lähmen und beunruhigen könnte. 2) Eine Nothwendigkeit zur Einführung der vor geschlagenen staatlichen Aufsicht kann um so weniger anerkannt sich bei ihm die junge Frau befindet. In diesem Studenten hat man den Grafen Matscherokoff bei Gelegenheit des Con- cert» der Madame Gramont erkannt." „Hat dieser junge Mann, vielleicht in Gesellschaft eine» Anderen, eine Reise um die Welt gemacht?" fragte der Fürst mit verhaltenem Athem, und man sah ihm dabei an, wie er eine Möglichkeit erwog, die ihn auf» Neue in Auf ruhr versetzte. „Nein, Durchlaucht, die Nachforschungen haben ergeben, daß dieser junge Herr Petersburg seit drei Jahren nicht verlassen hat. Hier im Hotel baben wir nun eine andere Meinung von der schönen Gräfin aus Indien, aber damit ist für uns die Angelegenheit auch vollständig erledigt. Zu dem gleichen Entschlüsse ist auch die Frau Fürstin NieraS- kaja gekommen." Auch der Fürst setzte sich auf seinen Sessel zurück und schien mit vieser Sache fertig zu sein. Was kümmerten ihn auch die Streiche irgend eines Studenten, der da offenbar den Namen seines Neffen mißbraucht bat. Aber wo war Zlija Andrej Matsckerskoff und sein Reisegenofse, dem er dreitausend Rubel schuldet? „Setzen Sie uns nun eine Flasche Champagner auf den Tisch", wandte er sich auf einmal an den Oberkellner, und er lächelte dabei die Sofia Andrejewna an, wie ein Mann, der eS nun satt hat, sich noch länger mit Vermuthungen und Betrachtungen zu quälen, die nur geeignet sind, ihn zu ver stimmen und ihm gar keinen Trost gewähren. Mit einer Verbeugung eilte der dienende Geist auS dem Zimmer. Sechstes Capitel. Zwischen Licht und Dunkel, so etwa um die sechste Abend stunde, fuhr an dem Hause deS Herrn Staatsraths Orkieneff ein Miethwagen vor. Eine stattliche Dame, noch etwas zu sommerlich für diesen rauhen Octobertag gekleidet, stieg au« und sagte zu dem Kutscher: „Sie warten!" Daun schritt sie, mit einer gewissen Eile, an dem ewig unter der HauSthür stehenden Hausmann vorüber, ohne, wie dieser offenbar erwartet hatte, eine Frage an ihn zu richten, in» Hau». Voll Neugierde und auch ein wenig in seiner HausmannSehre gekränkt, blickte der Mann ihr nach und sah, daß die Verschleierte direct auf die im Erdgeschoß liegenden Wohnraume de» Herrn StaatSratbeS zuschritt. Dabei sann er nach, wo er die Dame schon einmal gesehen habe, und ge sehen hat er sie schon, er könnte darauf schwören. Die Dame zog nun die Klingel und gleich darauf riß Katjenka, die Dienstmagd, die Corridorthür auf. Sie hielt ein Küchenlicht in der Hand und leuchtete damit der fremden Dame ins Gesicht. „Sofia Andrejewna Petuschkiwna!" rief die Magd voll freudigen Erstaunens aus, und zwar so laut, daß der nach schleichende Hausmann seine Neugierde nun befriedigt sah und scheu davon lief. Daß er die Petuschkiwna nicht erkannt, wird er wohl den ganzen Abend unbegreiflich finden. „Ist Tatjana Orkienewna im Hause?" „Oh, gewiß Sofia Andrejewna Petuschkiwna! Treten Sie nur ein. Vor vier Wochen bekam sie das Haarseil und dann wurde Alles gut. Nun trinkt sie noch Schleeblüthen- thee und dreimal jeden Tag einen Löffel Leberthran. Abends machen wir kalte Fußbäder. Die Augen meiner lieben Herrin Tatjana Wanja sind jetzt schon so klar und sie sieht so wunderschön! Und doch hatten sie die Aerzte bereits auf gegeben." Katjenka hatte inzwischen eine Thür geöffnet, die in ein freundliches Zimmer führte, das von einer Lampe mit grünem Schirm beleuchtet wurde. Die Petuschkiwna trat auf die Schwelle deS Gemaches und blickte sich um. „Sofia Andrejewna Petuschkiwna", rief Katjenka vom Corridor aus inS Zimmer hinein. „Aber mein Mann ist nicht da", kam eS auS der Tiefe deS Gemaches, „willkommen Sonja Petuschkiwna! Wenn doch aber nur mein Mann da wäre! Katjenka geh' und hole ihn. Aber daS geht ja gar nicht, Katjenka, er ist noch auf den BureauS." Eine sehr dicke Frau, in eine Unmasse wollener Röcke gekleidet, mit etwas geschwollenen Augenrändern, die fort während zuckten und blinzelten, mit einer mäcktigen Fliegen klatsche bewaffnet, bewegte sich jetzt gegen die Petuschkiwna heran. „Guten Abend, Mütterchen Tatjana! Mich haben Sie wohl heute nicht erwartet?" „Gewiß hab' ich Sie erwartet, meine theure Sonja Petuschkiwna. Ich sagte heute zu meinem Manne, wenn Sonja all' die närrischen Geschichten erfährt, dann wird sie kommen! Katjenka, Katjenka, den Samowar! Ich darf keinen Thee trinken, auch keinen Zucker nehmen und der Rum ist mir auch verboten! Daß Sie aber kommen würden, das wußte ich. Aber wie baben Sie denn da« Alle« so rasch erfahren! Unser lieber Michael IaSmorin hat un« dringend gebeten, Ihnen nicht« davon zu schreiben, und mein Mann gab ihm sein Wort und hat es auch gehalten. Die dummen Geschichten sind ja auch so närrisch, man spricht am besten nicht darüber." Und hier begann Mütterchen Tatjana so herzlich zu lachen, daß die Petuschkiwna, ob sie wollte oder nicht, ebenfalls lachen mußte. „Aber warum lachen Sie denn, Mütterchen?" Sonja trat bei dieser Frage, die sie sich recht gut selber beantworten konnte, ins Zimmer und setzte sich auf einen Stuhl. „Als Sie uns vor Jahren den guten Michael IaSmorin brachten, da hätte es Wohl kein Mensch für denkbar gehalten! Aber es geht richtig närrisch zu in der Welt! Und Michael, den wir Alle so gerne haben, — die Katjenka hat, als sie davon hörte, eine ganze Nacht geweint, sie ist närrisch, — Michael hat sich vorgenommen, nicht mehr hinter feinen Büchern hervorzugehen, bis er mit dem Examen durch ist. Mein Mann sagt, Michael IaSmorin müßte sie verklagen, weil sich so etwas kein Mensch gefallen zu lasten braucht, aber der gute Michael scheut die Kosten, und daS ist eS." Die Katjenka brachte den Samowar und füllte der Petusch kiwna ein Glas mit Thee, dem sie sehr viel Zucker zusetzte. „Du kannst nun wieder gehen, Katjenka. Wenn mein Mann kommt, dann sage ihm, daß wir Besuch haben und daß ich ganz reckt gehabt, als ich sagte, daß Sonja Petusch- kiwna kommen würde, wenn sie die Geschichten erfährt." Mißmuthig schlich sich die Magd hinaus; viel lieber wäre sie dageblieben. „Jedenfalls", rieth nun die Orkienewna, „hat Michael selbst Ihnen geschrieben? — Nicht? Na dann bat eS jeden falls in den Zeitungen gestanden! Denken Sie sich nur, meine einzige Sonja Petuschkiwna, sie kamen hierher, ein alter General, eine wirkliche Fürstin, ein Diener auS dem Hause der Frau Gräfin Stroganowna und ein paar Leute aus dem Hotel Bristol." „Was wollten denn alle diese Leute?" „Wissen Sie denn das nicht? ... DaS wissen Sie wirklich nicht, meine liebe Sofia Andrejewna? ... Aber ich sehe e« Ibnen ja an, daß Sie eS wissen! Seine Frau wollten sie sehen! — Ja, ja, seine Frau! ... Im Hotel Bristol habe er sie sitzen lassen, und dann heimlich zu sich genommen. Mein Mann war recht schlimm daran, dem Herrn General gegenüber, der da zum Schluß auch noch behauptete, unser lieber Michael wäre gar nicht Michael IaSmorin, sondern ein Graf ..., — ich habe den Namen jetzt richtig vergessen, . .. warten Sie mal ..., ja, nein ich weiß e« doch nicht mehr." Es war der Petuschkiwna zu warm im Zimmer, sie schlug den Schleier zurück. Nun nippte sie an ihrem Thee und fragte, ohne zu dem guten Mütterchen aufzusehen: „Hat denn Michael IaSmorin etwas mit einer weiblichen Person zu thun?" Die Frau Staatsrath fing wieder sojherzlich an zu lachen, daß ihr die Augen feucht wurden. „Für mich ist das viele Lachen gar nicht gut, sagt mein Mann, aber ich kann mir wirklich nicht helfen. Er soll eine Frau haben und dabei bat er nicht den Muth, auch nur ein Mädchen anzusehen! Wenn Sie nicht einst für ihn freien, dann wird er gewiß niemals eine Frau bekommen. Das weiß ich, dafür kenne ich ihn. Ich habe daS den Herrschaften auch gesagt, aber die bestanden darauf, daß er in seinem Zimmer eine schöne junge Frau habe. Schließlich ging mein Mann hinauf zu Michael und nun denken Sie sich —" Unruhig hatte sick hier die Petuschkiwna erhoben und blickte mit einer beinahe ängstlichen Spannung in das Gesicht der Frau StaatSrath, die sich mit ihrer Fliegenklatsche be schäftigte. Befürchtete sie wirklich, daß Michael die Frau auS Indien bei sich habe» könnte? „Nun, Mütterchen Tatjana?" „Michael IaSmorin saß, wie immer, ganz allein in seiner Stube und zählte sein Geld. Er hatte noch zwei Rubel. Er denkt gar nicht daran, eine Frau zu nehmen, und hat auch keine. Aber die Herrschaften wollten das auch meinem Manne nicht glauben, selber wollten sie sehen, und darum gingen sie hinauf und ließen sich auch von mir nicht zurückhalten. Aber Michael schlug ihnen die Thür vor der Nase zu, und daran that er ganz recht. Man soll nicht unhöflich sein, und er ist es gewiß niemals gewesen, aber wenn man ihm solche Ge schichten machen will, dann hat er Recht! Mein Mann sagt auch, er habe Recht, wenn er Niemand zu sich läßt." Ein fonnigeS Lächeln spielte jetzt um den Mund der Petuschkiwna. Wie sie sich auch nur einen Augenblick um ihren Schützling beunruhigen konnte! Sie setzte sich jetzt wieder auf ihren Stuhl nieder und trank mit Behagen ihren Thee. „Wir werden unS öfter sehen, meiae liebe Tatjana O.kienewna. Ich bin mit dem Fürsten in Petersburg und wir bleiben jedenfalls ein paar Tage." „Aber werden Sie eS auch auShalten? Wenn man so an die Gesellschaft der Bären von Slekok gewöhnt ist!" sagte die Frau StaatSrath, welche witzig werden konnte, sobald sie in gute Laune gerieth. (Fortsetzung folgt.)
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