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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 14.10.1896
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1896-10-14
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18961014023
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1896101402
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1896101402
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1896
- Monat1896-10
- Tag1896-10-14
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Rrclamen unter dem Rrdaction-slrich (-ge spalten) VO^, vor den Aamiliennachrichl«, <8gespalten) 40^ Größere Schriften laut unserem Preis- verzrichniß. Tabellarischer und Zissernsatz nach höherem Tarif. Extra«Yeilageu (gefalzt), »ar mit de, Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderung 80.—, mit Postbeförderung ^tl 70.—. Ännahmeschluß für Anzeigen: Abend-Au-gabr. Vormittag» 10 Uhr, Morgen-Ausgabe: Nachmittag» 4 Uhr. Bei den Filialen und Annahmestelle» je eia» halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets au di» Expedition zu richten, Druck und Verlag - Pol» ia Leipzig 5?5. Mittwoch den 14. October 1896. SV. Jahrgang. PoMische Tagesschau. * Leipzig, 14. October. Auf dem nationalliberalen Delegirtentage ist der „National-Ztg." wegen ihrer Haltung viel Un- angenebmes gesagt worden. Hätte sie sich lediglich bemüht, diese Rügen zu vertuschen, so wäre das vielleicht gelungen. Der Versuch jedoch, das ganze Ergebniß des Delegirtentages in das Licht eines Sieges der „National-Ztg." und ihres kleinen Anhanges zu rücken, konnte nicht anders enden, als mit einem ins Komische schillernden Mißerfolge. Das Blatt batte eS so dargestellt, als ob der von ihr vorher vor geschlagene mehr oder minder hörbare „Ruck nach links" von der Delegirtenversammlung wirklich gethan worden wäre. Da es von der nationalliberalen Presse nicht berichtigt wurde und sich über die Beweggründe dieses Stillschweigens einer merkwürdigen Täuschung hingab, so glaubte es die Kraft seiner neuen Politik erproben zu sollen, indem eS den Nationalliberalen in Brandenburg-Westhavelland aufgab, für den Can- tidaten der freisinnigen Volküpartei zu stimmen. DaS nächstfolgende Ereigniß im Wahlkreise war eine öffentliche Erklärung des angesehenen Nationalliberalen Hobrechl, seine Partei werde einen Aufruf zu Gunsten des konservativen Bewerbers erscheinen lassen. Begründet war der Entschluß im Wesentlichen mit der Erwägung, daß die national liberale Partei mebr Berührungspunkte mit den Con- servativcn habe als mit der Partei des Herrn Richter. Herr Hobrecht erinnerte daran, daß Fürst Bismarck die auf dem Delegirtentag versammelten Nationalliberalen als alle Kampfgenoffen begrüßt habe und daß die Freisinnigen zum Unterschied von den Konservativen diese Kampsgenossenschaft niemals und unter keinen Umständen hätten kennen wollen. Dem ist nichts cntgegenzusetzen. Was die Wahl in West- bavelland anlangt, so kann sie selbstverständlich den dortigen Rativnalliberalen nureine Aufgabe stellen: denSieg dessocial- dem okratischen Eandidaten nach Kräften zu verhindern. .Zu diesem Zwecke haben sie ja auch, obwohl der bisherige Vertreter ihrer Partei angehört hat, auf die Aufstellung eines eigenen Bewerbers verzichtet. WaS die besseren Edancen sür die Erreichung des Zieles bietet, ob die Unterstützung der Conservativen, ob die der Radikalen, das zu beurtbeilen sind wir außer Stande. Wir können aber auch der „National zeitung" trotz ihrer geringeren Entfernung vom Wahlkreise keine Autorität beimcssen, da dieses Blatt seit seiner Erklärung für den „Schutzverband gegen agrarische Uebergriffe" den letzten Rest von Verständniß für das wirthschaftliche Ringen der nicht zum Handelsstande zählenden Bevölkerungskreise eingebüßt hat und das Eintreten für den volksparteilichen Eandidaten in Westhavelland mit Gründen empfiehlt, deren Unhaltbarkeit auf der Hand liegt. So kann es unmöglich die National liberalen zu Gunsten der Freisinnigen stimmen, daß das letzte Mal Freisinnige in der Stichwahl den National liberalen gewählt haben. Wäre ein Beweggrund dieser Art von Kraft, so müßten die Nationalliberalen unbedingt sür den Eandidaten der Conservativen stimmen, denn diese dabcn im Jahre 1893 unter Verzicht auf einen eigenen Eandidaten im ersten Wahlgang den Nationalliberalen gewählt. In dem sie diesmal in auch von besonnenen Parteigenossen beklagter Ucberstürzung anders handelten, haben sie sich für den etwaigen Sieg der Socialdemokratie eine Verantwortung aufgeladen, die sie jedoch mit dem Freisinn theilen, der durch die Aufstellung eines radikalen Demokraten und ManckestermanneS indessen nicht weniger als Jene zur Vermehrung der Aussichten des revolutionären Eandidaten bcigetragen hat. Man kann ja den bürgerlichen Radikalismus von der Verpflichtung, die sociale Revolution zu bekämpfen, ausnehmen, aber dann sollte man sich doch hüten, nationalliberalen Wählern die Vermehrung der Reichstagsabgeordneten dieser Richtung als etwas Selbstverständliches zu bezeichnen. Die „Nationalztg." will nicht gestatten, daß unsere Parteigenoffen in Westhavelland in dem conservativen Eandidaten etwas Anderes sehen, als einen Vertreter der „agrarisch-reactionairen Agitation". Wie weit der Lanvrath v. Loebell dies ist, vermögen wir nichtzu ermessen,jedenfalls kommen fürdieNationalliberalen noch andere Gesichtspunkte in Betracht, was man acht Tage nach dem Berliner Delegirtentag eben auch nur der „Nationalztg." bemerken muß, mit deren auf ein Cartell mit Herrn Richter gerichteter Politik die Erinnerung an nationale Bedürfnisse allerdings nicht mehr vereinbar ist. Das Blatt spricht des halb auch nur davon, daß Herr v. Loebell wahrscheinlich nicht gegen die Zwangsinnung wirken werde, verschweigt aber, daß der volksparteilicke Gegenkandidat Blell ohne Zweifel jede Forderung für Marinezwecke bekämpfen wird. Für Natio nalliberale fällt das aber ins Gewicht. Aus der Provinz Posen liegt wieder einmal eine Meldung vor, die man für unglaublich halten müßte, wenn sie dem Blatte, dem sie zugeht — den „Berl. N. Nachr." — nicht durch die Persönlichkeit des Einsenders verbürgt würde. Sie lautet nämlich: „In den Jahren 1888 und 1889 wurde eine Anzahl katho lischer Lehrer aus Westfalen nach der Provinz Pofen versetzt. Jene Maßregel entsprang der Absicht, dem deutsch en Schulunter richt in der polnischen Bevölkerung durch den Einschub von Lehrern au- rein deutschen Gegenden eine wirksame Förderung angedeihen zu lassen. Den Lehrern, cs waren etwa 70 an der Zahl, wurde damals die — freilich nur mündliche — Zusicherung gegeben, daß ihnen für ihre Pionierarbeit bei guter Führung jährliche Zuschüsse bis zu 300 gewährt werden würden. Diese Zusage ist Einigen von ihnen in den ersten Jahren auch gehalten worden. Mit der zunehmenden Nachgiebigkeit der Regierungsorgane gegenüber dem Polcnthnm hat sich die Lage jener westfälischen Lehrer aber mehr und mehr verschlechtert. Nicht nur, daß die Gewährung von Zuschüssen inzwischen gänzlich aufgehört hat, die Lehrer machen jetzt, da sie dem Dienstalter nach berufen wären, in die besser bezahlten ersten Lehrerstellen einzurücken, die schmerzliche Erfahrung, datz ihnen diese Stellen, auch in Fällen, wo sie von Landräthen und Kreisschulinspectoren dafür besonders empfohlen werden, verschlossen bleiben, und zwar aus dem einzigen Grunde, „weil sie der polnischen Sprache nicht mächtig sind"." Wenn solche Dinge geschehen, kann man sich freilich nicht wundern, wenn der polnische Uebermuth immer mehr wächst und die polnischen Herren im Schnürrock und der Soutane annehmen, die Stimmung, aus der vor zwei Jahren der Kaiser zu Thorn an mehrere ihrer Gesinnungsgenossen die Mahnung richtete: „Sie mögen es sich gesagt sein lassen, daß Sie nur dann auf meine Gnade und Theilnahme rechnen dürfen, wenn Sie sich unbedingt als preußische Unterthanen fühlen", sei längst in ihr Gegentheil umgeschlagen. Wir er warten daher bestimmt, daß in der bevorstehenden Session des preußischen Landtags an den Herrn CultuSminister die Anfrage gestellt wird, ob er glaubt, daß es zur Stärkung des monarchischen Gefühls nicht nur in der Provinz Posen, sondern in ganz Preußen und Deutschland diene, wenn die Provinzialbehörden in Posen in einer Weise verfahren, welche die polnischen Preußen- und Deutschfeinde zur Mißachtung einer kaiserlichen Mahnung förmlich herausfordert. Der angeblich weite Kreise des italienischen Volke» beherrschenden franzosenfreundlichen Stimmung hat der Zarenbesuch in Paris keinen Vorschub geleistet. Die italienischen Blätter haben lange, für ihre Raumverhältniffe ganz unglaublich lange Berichte aus Paris veröffentlicht und auch mit Leitartikeln über den Zarenbesuch nicht gekargt. Dieselbe Grundstimmung aber herrschte in allen vor. Sie waren voll Aerger und Bitterkeit. Der Vorwurf, daß sich die Franzosen, allen republikanischen Stolz ver gessend, vor dem Zar erniedrigt hätten, kehrte immer wieder. Hier nnd da floß die Bemerkung ein, eS gebe in Paris wohl noch echte alte Republikaner, welche den Enthusiasmus ihrer Landsleute mißbilligten, aber sie dürsten ihre Ansicht nickt laut werden lassen, weil sie sonst gesteinigt würden. Im Ganzen kam — von den radikalen Organen natürlich abgesehen — eine starke anti-französische Stimmung zum Ausdruck. Die Bedeutung der russisch-französischen Ver brüderung wird in Italien keineswegs unterschätzt. Man glaubt in Rom daran, daß eine wirkliche Allianz der beiden Staaten bestehe, und wenn man auch keine unmittel bare Gefahr für den Frieden befürchtet, so kann man sich doch keineswegs zu der gleichmüthigen Auffassung ausschwingen, welche in der deutschen Presse zum Ausdruck kommt. Die große Mehrheit der italienischen Publicisten sieht in dem Besuche des Zaren ein sehr wichtiges Ereigniß. Daß dadurch aber, wie der französische Chauvinismus bereits voraussetzt, der Dreibund zerrissen werden könnte — darauf hat kein italienisches Blatt, das ernst genommen sein will, auch nur die geringste Anspielung gemacht, und man wird sich nach träglich uni so weniger eine solche Tborheit zu Schulden kommen lassen, wenn man die Zukunftspläne Pariser Blätter gelesen haben wird, welche Deutschland bereits durch die franco-russischen Waffenbrüder erdrückt und den italienischen Staat gänzlich von der Karte Europas verschwunden sehen. Derartige cyniscke Anspielungen auf die Rolle, welche Italien in den französischen Zukunstsberechnungen zugewiesen ist. können nur dazu beitragen, die hier und da thörichter Weise an den tunesischen Handelsvertrag geknüpften Hoffnungen auf eine Annäherung an die französische Republik als völlig trügerische und einen nur noch festeren Anschluß an die beiden anderen Dreibundmächte als den einzig gewiesenen Weg für Italien erscheinen zu lassen. Wenn irgendwie, so ist Italien seine Selbstständigkeit in der festen Anlehnung an die beiden mächtigen Kaiserslaaten Deutschland und Oesterreich-Ungarn gewährleistet, deren treues Zusammenbalten auch nach den Pariser Zarentaaen und der Proklamation der russisch französischen Waffenbrüderschaft imponirend genug ist, um Frankreich die Lust zu Uebergriffen gegen einen der Ver bündeten vergehen zu machen. Die französische Presse ist voller Begeisterung über das farbenprächtige Bild, das die Truppenschau in Chalons geboten hat, und als böckste Bestätigung und Bekräftigung wird überall die Äeußerung des Zaren gegenüber dem Präsidenten Faure angeführt: „Ich habe das größte Heer der Welt, Sie aber haben das prächtigste". Die Kritik wagt sich gegenüber der allgemeinen Begeisterung noch nicht bervor, und doch wäre sie, wenn nicht gegenüber den Truppen selbst, so doch hinsichtlich der Truppen beförderung, die, wie Frankreich im Krieg 1870/71 erfahren hat, zu den wichtigsten Aufgaben der modernen Heeres leitung gehört, durchaus am Platze. Die französischen Eisen bahnen haben sich auch in den Tagen von Chalons als völlig unfäbig erwiesen, den gesteigerten Anforderungen, welche die Beförderung von 70 000 Mann an sie stellten, zu genügen, und doch waren Tag und Stunde der Truppenschau seit Wochen bekannt. Was über die Rückbeförderung der Truppen ge meldet wird, scheint dem deutschen Leser beinahe unglaublich. I Der Kriegsminister mußte mehrere Stunden auf Beförderung warten — die Strecke war gesperrt; Generale saßen, weil nickt genügend für Wagen gesorgt war, in drangvoller Enge zu- sammengepferckt in Wagen 3. Classe. Zur Fortschaffung der langen Militairzüge mangelte es an Maschinen. Und auch diese mangelhafte Beförderung war nur möglich unter rücksichts losester Einschränkung des gewöbnlicken Verkehrs. Von den nöthig gewordenen Abänderungen der Fahrpläne hatte man dem Publicum keine Mittbeilung gemacht, und nm den An drang der Fahrgäste abzulenken, schloß man, nachdem wenige Sonderzüge abgelassen waren, einfach alle Schalter. Auf den von dem wichtigen Lager von Cbalons führenden Bahn strecken kam es wiederholt zu Verkehrsstauungen, da selbst die nach dem ersten Kricgshafen, Cherbourg, führende West bahn nur eingleisig ausgebaut ist. Welche unüberwindlichen Schwierigkeiten würden der Verwaltung erst erwachsen, wenn eS im Fall einer Mobilmachung darauf ankäme, ungleich größere Waffen mit Kriegsausrüstung, Bagage und Proviant eilig und plötzlich an die Grenze zu schaffen! Es ist also nur eine hoble Phrase, wenn ein Pariser Blatt den Zaren apostrophirt: „Wir sind bereit, Sire, Sie brauchen nur zu winken." Auch 1870 war man „erzbcreit" und — In der Ernennung des bisherigen Präsidenten des russischen evangelisch-lutherischen Generalconsi- stornlinS, BaronS Uexküll-Gy llenband, zum Adlatus des Ministers des Innern erblicken die Zeitungen der russischen Ostseeprovinzen ein neues Symptom dafür, daß es mit dem Einfluß des Herrn Pobjedonoszew auf die innere russische Politik zur Neige geht. Baron Gyllenband, der einem der ältesten baltischen AdelSgescklechter entstammt, ist ein Zögling der Petersburger RechtSschule. Nack Absolvirung derselben wurde er dem Hofe der Groß fürstin Helene Pawlowna zugetheilt, dieser kunstsinnigen und freidenkenden russischen Prinzessin, deren Name mit der Wirksamkeit der bedeutendsten Staatsmänner aus den ersten Regierungsjahren Alexander'» II. eng verknüpft ist. Hier machte Baron Gyllenband die Bekanntschaft jener russischen Staats männer, welche später an dem Werke der Wiedergeburt Rußlands hervorragenden Antbeil nahmen, und von diesen Traditionen ist der nunmehrige Nachfolger Nektjudow's nie abgewicken. Als Gouverneur von Livland, später von PleSkau und Charkow bekundete Baron Gyllenband überall strenge Rechtlichkeit und Gerechtigkeit. Unter ihm nabm die Provinzpresse sowie auch die Volksschule einen großen Aufschwung. Aber auch als Mit glied des Petersburger Senats stand Baron Gyllenband stets in den Reihen jener Senatoren, die für Recht und Fort schritt eintraten. Vor ungefähr fünf Jahren wurde Baron Gyllenband rum Präsidenten des evangelisch-lutherischen General-EonsistoriumS ernannt. In dieser schwierigen Stellung, wo es galt, das Deutschthum in den baltischen Provinzen vor den ungerechten Gelüsten der Panslawisten zu schützen, erwies sich Baron Gyllenband als kluger und umsichtiger Staatsmann, der eS verstand, den Ansturm der Petersburger und Moskauer Deutschenseinde zurück- zudrängen. Bei Nicolaus II. steht Baron Gyllenband in hohem Ansehen; unmittelbar nach der Krönung verlieb ihm der Kaiser den Alexander-Newsky-Orden und ernannte ihn zum Director des vierten Departements de- Senats. Bleibt der neue AdlatuS seinem Ursprung als protestantischer Balte und seiner Vergangenheit treu, so dürste die inner russische Politik sich wenigsten» in etwa- liberaler gestalten. Die Schuld des Fürsten Romanskoi. 14j Roman von Tonr. Fifchrr-Sallstein. Nachdruck verboten. „Ich möckte Dich beinahe um Deine Rübe und Deine Gleich giltigkeit beneiden, die Du gerade heute an den Tag legst. Mein Gott, leben wir denn wirklich in einer verkehrten Welt? Die Jugend zeichnet sich durch Greisenhaftigkeit au», und bei der Welt, die an der Grenze des Greiscnalters steht, pulsirt daS Temperament der Jugend. Wenn ich bedenke, wie eS mich durchzuckte, wie e» in mir prickelte, als ich zum ersten Male den Grafen Stroganowna begegnen sollte. Ich war damals in Deinem Alter. Und Du sollst heute Deinem zukünftigen Gatten, dem stattlichen Ilija Andrej Matscberskoff begegnen, also ein Ereigniß, daß doch gerade für Dich so ganz besonders bedeutungsvoll sein muß, uud Du bist so gleichgiltig, so kalt, nicht die Spur aufregender Erwartung kann ich in Dir entdecken! Wie kommt da»?" Im schönen Gefickt der schwermütbigen Lidia stand für die Großmama zu lesen: Madame Gramont schmeichelte Dir einmal, daß ich ein Juwel sei an Deiner Hand. Juwelen verschenkt man, verkauft oder verliert sie. Du wirst mich beute oder morgen verschenken oder verkaufen, dann wird vielleicht ein junger Mann meine Großmama sein, ich werde mich für ibn schmücken, er wird mit mir prahlen vor den Augen der Welt, oder er wird mich einsperren, damit ich ihm nicht gestohlen werde, je nach seinen Charaktereigenschaften. Ich war immer nur Eigentbum, und werde Eigentbum bleiben. Ein Juwel regt sich nicht auf, wenn e» au» dem Besitz des Einen in den de- Andern übergeht. Wa» liegt auch an mir? Ein obskurer Student beantwortet mir nicht einmal meine Briefe, so innig und herzlich sie auch gehalten waren. „Genau betrachtet, bist Du wie Deine Mama, meine liebe Lidia. Al» Tschierwaneff um sie freite, — die erste Begegnung fand in Neapel statt — lachte sie so viel, so, daß ich ihr zuletzt Vorhaltungen machen mußte. Und eS ist merkwürdig, sie benabm sich gerade so, al» sie starb. Ein wirkliches Temperament hatte Deine Mama auch nicht. Ich glaube indessen, daß sie ihren Gatten geliebt hat. Nur habe ich es immer an ihr tadeln müssen, daß eS ihr so unendlich gleichgiltig war, ob der Herr Gemahl allein inS Ausland reiste oder nickt. Sie hat sich nie Mühe gegeben, auch nur den geringsten Einfluß auf ihn auSzuüben, und daS war nickt gut, Tschierwaneff würde kein so schreckliche- Ende ge nommen haben." „Die arme Mama," seufzte Lidia. „Du gleichst ihr in vielen Dingen. In Deinem Herzen werden sich niemals Stürme regen. Du wirst niemals darnach streben, Deinen Gatten so zu fesseln, daß er nur auf denjenigen Wegen wandelt und wandeln kann, die Dir angenehm sind. In Liesen Punkten seid Ihr mir so außer ordentlich unähnlich. Mein Gemahl tbat zu seinen Lebzeiten nur daS, WaS ich wünschte; er nahm sich nur solche Frei heiten, die ich ihm gewährte, und ist dabei recht glücklich gewesen. Ich selber aber, mein IheureS Kind, war eS nie." Nun beginnt sie wieder das alte Klagelied von ihrer unglücklichen Liebe, sagte sich Lidia und empfand da» Ver langen, davon zu laufen, sie hat die Geschichte dieser Liebe sogar schon dem Fibinitineffkoff erzählt, ganz Rußland weiß davon! „Ich trug eine unglückliche Liebe mit mir im Herzen herum. Du hast leider zu wenig Temparement, um mir nachsühlen zu können, was daS bedeutet. Ich war aber auch immer bestrebt. Dich sowohl al» Deine Mama vor einem solchen Unglück, daS da» Herz nie zur Rübe kommen läßt, zu bewahren. Welch' ein Verdienst da» ist, da« wirst Du erst später würdigen lernen." Uud wieder blickte Lidia die Großmama an, al» wolle sie ihr srgen: Beruhige Dich, gieb Dir keine Mühe, mich zu belehren, mein Herz ist ja doch nur ein Kirchhof, auf dem Michael Jasmorin begraben liegt. Hat Graf Matscherskoff Lust, Zeit seines Leben« auf diesem Kirchhof herum zu wandeln, dann soll ihm das gestattet sein. „Ich werde Dir sür Alle«, wa« Du an mir gethan haft, immer recht dankbar sein", sagte nun Lidia, nur um etwa« zu sagen. Dabei dachte sic an Ia»morin und quält« sich mit der Frage, ob am Ende Bruder Michael die beiden Zuschriften nicht erhalte» habe? Briefe gehen ja öfter ver loren, oder gerathen in unrecht« Hände, „Nun, da» wird sich ja Alles zeigen. Ilija Andrej Matscherskoff soll «in sehr scdöner Mann sein. Er besitzt Geist, Gemutb, wie alle Matscberkoff'S und ist der Universal erbe des Fürsten RomanSkoi, Stepan Wassilitsch. Du wirst eine sehr gute Partie machen, wa» um so angenehmer ist, als Du und ich kein so großes Vermögen besitzen, als es Wünschenswerth wäre." „Ich weiß, Papa hat mir gar nicht» hinterlassen," ver setzte Lidia und dabei fiel ihr jetzt erst die Tbatsache auf, daß der Bankier der Großmama diese sehr wenig achtungs voll behandelte als er zum letzten Male da war und daß die Großmama sich das ruhig gefallen ließ. Und wie ängstlich sie sich um sein Wohlwollen bemühte, solle sie eS müssen? In diesem Falle fände sie eS begreiflich, daß sie ihre Juwelen, die sie am leichtesten entbehren kann, zu verkaufen trachtet, und WaS konnte sie auch am leichtesten entbehren als sie, die Lidia? „Du solltest Dick darüber nickt beklagen, meine Tbeure. Kinder haben kein Recht, ihre Eltern zur Rechenschaft zu fordern. Aber lassen wir diesen unglücklichen Punkt, ich bin jetzt wirklich nicht in der Stimmung, auf eine Vergangenheit zurückzublicken, die so trostlos sür mich ist. Mein Gott", schalt sie auf einmal und sah die trauernde Lidia beinahe vorwurfsvoll an, „kannst Du denn nickt begreifen, wie es in meinem Herzen und in meinem Gemülhe aussiebt, in einem Augenblick, wo ich im Begriffe stehe, den Besuch des Mannes zu empfangen, dem all mein Fühlen und Hoffen gegolten hat in dieser Welt?" „Ich begreife und sehe, daß Du sehr aufgeregt bist, Groß mama." Ein glückliches Lächeln umspielte jetzt die schmalen Lippen der alten Dame, eine schöne Idee oder glückselige Ahnungen verklärten sie. „Man hat Fälle", fuhr sie fort, und wagte «» gerade jetzt nickt, den Blick zu Lidia emporzuschlagen, „Fälle, in denen Menschen erst im hoben Alter da- erreichen, wa» sie in der Jugend erstrebt und ersehnt haben. Stepan Wassilitsch ist ledig geblieben um meinetwillen, r» gab kein Gescköpf in dieser Welt, da- mich ihm ersetzen konnte. Ich bin nun frei, die Ketten, die ich seil meiner Hochzeit ohne Murren getragen, sind gefallen, und wenn Stepan Wassilitsch mir jetzt die Hand reichen wollte zum Bunde für« Leben, ich würde natürlich keinen Augenblick zögern." Lidia hielt den Atbem an. Ia, bei Gott, sie wäre r» im Stande! Dann würde ja die Großmama ihr noch zur Schwiegermama werden! — Diese Möglichkeit machte sie erbleichen. „Aber der Fürst ist ja ein ganz alter Herr ohne Beine!" „Der Unterschied der Jahre kommt hier nicht in Betracht", versetzte die alte Dame geschmeichelt und blickte beinahe zärt- lick zu Lidia auf, „ich würde stolz darauf sein, einen so be rühmten und vortrefflichen Heloen bis ans Grab zu begleiten. Stepan Wassilitsch war ein schöner Mann, einer von denen, die man, einmal gesehen, nie wieder vergißt. Welch ein Bild, wenn er zu Pferd saß! Und was ritt er für Pferde! Haft Du noch niemals etwas von seinem „Kolrik" gekört? Die be deutendsten Literaten haben über dieses Pferd geschrieben!" Lidia hatte von dem berühmten,^?olzik" nichts gehört, sie schwärmte überhaupt nicht für Pferde. „Es sind gewiß schon viele Jahre her, liebe Großmama, daß Du den Fürsten nicht mehr gesehen? Könnte er jich nicht sehr verändert haben?" „Brieflick standen wir uns ja immer nabe, aber Du hast recht, eS ist schon manches Jahr dahingezangen, seitdem wir Abschied nahmen. Er steht mir immer noch vor Augen, wie er da, betrübt bi» ins Herz hinein, davon ritt." Und nun begann die Stroganowna an den Fingern die Jahre abzuzählen, die seit jener verhängnißvollen'Stunde vergangen und zerronnen sind. Sie bekam aber zu ihrem Er staunen «in so gewichtiges Häufchen Jahre zusammen, daß sie erschrak und sich ini Spiegel betrachtete. In diesem Augenblicke rollte draußen am Gitter des Vorgartens ein Wagen vor. Zu gleicher Zeit stürmte Natascha, blitzroth vor Aufregung, in- Zimmer. „Herrin, der Fürst!" Die^altr Dame zuckte zusammen und in ihren Augen lag etwas Scheues und Aengstliches. „Deinen Arm, Lidia ! Jean soll ihm rntgegengrhen. Aber so binde Dir doch Deine Haare fest. Du siebst ja auS wie eine Wahnsinnige!" Sie nahm hier den Arm Lidia'S und ging nach dem Vor zimmer hinaus. „Sie hetzt mich ab, daß mir die Knochen im Leibe zittern, und da soll ich auch noch geschniegelt und geleckt erscheinen! Wenn der Tag vorüber ist, dann lege ich mich bin und sterbe!" Mürrisch und geärgert Uber die Unzufriedenheit ihrer Herrin, schlich sich Natascha hinaus. WaS würde die Frau Gräfin auch anfangen ohne den Jean? Nein, welch ein vielbewährter, prächtiger Mensch er ist! Nun steht er draußen auf der Terrasse, setzt mit einer ergebenen Verbeugung den einen Fuß aus die Freitreppe und begrüßt einen alteren Herrn mit schneeweißem Bart und Haupthaar, der sich auf den Arm eines jungen scklanken Mannes stützt. Hinter den Beiden folgt ein Mensch ohne Ohren, der einen Pelz trägt.
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