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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 30.10.1896
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1896-10-30
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18961030029
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1896103002
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1896103002
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1896
- Monat1896-10
- Tag1896-10-30
- Monat1896-10
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Di« Mvrgen-Ae'ögabe erscheint um >/,7 Ul» die Abend-Au-gab« Wochentag- am S Uhr. Nedaction vnd Erve-ittoa: Johanne-nasse 8. Die Expedition ist Wochentag- ununterbrochen ge^lnet von früh 8 bt< Abend« 7 Uhr. /klialea: ktt» Akemm's Lorrim. (Alfred Hah-X Üpiversitöt-straße 3 (Paulinum), Louis Lösche. Kotbarm^cktr. 14, pnrt. und König-vlatz L Bezugs-PreiS >> deo Hanptexpebttion oder den im Stadt» bezirk und den Borortrn errichteten Aus gabestellen abgebolt: vurtrliahrlich.Zl4.-a, bei jweimaliaer täglicher Zustellung m« dauS 5L0. Durch die Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: vierteljährlich -Zl S.—. Direkt« tägliche KreuzbandjeavuuG tu» Au-lavd: monatlich 7.Ü0. Abend-Ausgabe. KipMer TagMM Anzeiger. Amtsblatt des Äönigkichen Land- und Amtsgerichtes Leipzig, des Nalljes und Notizei-Ämtes der Ltadt Leipzig. 555. Freitag den 30. October 1896. Anzeigen,Preis di» -gespaltene Petitzeile rv Pfg. Aeclamr« unter dem Redactionsstrich (4ge- spalten) öO^z, vor Len Familienuochrichtea (6 gespalten) 40^. vrößere Schristcn laut unserem Preis- vrrzrichlliß. Tabellarischer und Liklttnsatz uacy höherem Tarif. Ertra-Vcilagcn (gesalzt), nur mit de« Morgen - Ausgabe, ohne Postbesörderung SO.—, mit Postbefürderung 70.—. Ännalsmeichluk für Iinzeigen: Abrnd-AuSgabe: Vormittag- 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittag- -Uhr. Sei den Filialen und Annahmestellen je ein» halbe Stunde früher. Anreise« sind stets au di« Expedition zu richten. Druck und Verlai »- ' Pokz in Leipzig SV. Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, 30. Oktober. Zn Preutzcn beneidet man Sachsen um die Art und Weise, wie in unserer LandcSsynoLe soeben die Freiheit ver Wissenschaft erörtert worden ist, und man hat Grund dazu. Dort kämpfen die orthodoxen Fanatiker mit immer wachsender Stärke gegen die freie Lehre an und stoßen, was das Schlimmere ist, ans immer schwächeren Widerstand bei der Regierung. Bor einiger Zeit sind, wie erinnerlich, den Vertretern der wissenschaftlichen Bibel kritik an den Universitäten Professoren der extremsten orthodoxen Richtung an die Seite gesetzt worden, um die Wirksamkeit Jener zu paralysiren. Der CultuS- minister I)r. Bosse hat zwar versichert, bei dieser Maßnahme von der Absicht geleitet gewesen zu sein, beide Richtungen an den Universitäten zu Worte kommen zu lassen. Dem wider spricht aber die Tbatsache, daß nur solche Hochschulen, an denen die freiere Richtung vorherrscht, mit „Strafprofessuren" bedacht worden, während Universitäten, wo ausschließlich orthodoxe Theologen lehren, von jener Maßregel un berührt geblieben sind. Trotz dieses Verfahrens, das durch den eben bezeichneten Widerspruch mit der ihm angeb lich zu Grunde liegenden Absicht nichts an seiner Sonder barkeit einbüßt, sind die Orthodoxen nicht zufriedengestellt, und die brandenburgische Provinzialshnode hat dieser Tage eine Resolution beschlossen, welche fordert, daß daS Kirchenregi ment „in stärkerer Weise als bisher darauf dringe, die ge rechten Ansprüche der Kirche bei Besetzung der theologischen Lehrstühle zu befriedigen". In der Debatte war Herrn Stöcker die Führung der Mehrheit zugefallen und die Vertreter der freien Richtung batten sich gegen die mehr oder minder offen vorgetragene Auffassung zu wehren, baß die Unterweisung der protestantischen Theo logen nach dem von den katholischen Priesterseminarien gegebenen Beispiel zu geschehen habe. Die gleiche Unduldsam keit und Abneigung gegen die freie Forschung trat in den Verhandlungen über einen Antrag zu Tage, der den Ober- kirchenratb aufforderte, „hervorragend befähigte und zugleich fest im Bekenntniß stehende Geistliche zur Bewerbung um Universitätslehrerstellen zu veranlassen". Bei dieser Gelegen beit bemerkte Herr Stöcker, er würde den Grundsatz der Gleichberechtigung der Richtungen für den Tod der evan gelischen Kirche ansehen. Ter Vertreter des Cultusministers hatte in Bezug auf die Ansprüche der „Kirche", d. h. der orthodoxen Partei, nichts zu erinnern, nur bat er erzebenst, aus der angeführten Resolution die Worte „mehr als bisher" zu streichen, weil in ihnen ein unberechtigter Vorwurf gegen daS CultuSniinisterium enthalten sei. Die Bitte blieb unerfüllt. Mit den jenem Vertreter ertheilten Anweisungen bat sich daS preußische Kirchenregiment grundsätzlich auk den Standpunkt der äußersten Rechten gestellt. Herr vr. Bosse hält eS also nicht mehr für nötbig, über den Zweck, der ihm bei der Er richtung der Bonner Parallelkanzeln vorgeschwebt hat, unrichtige Vorstellungen zu erwecken. DaS preußische CultuSniinisterium, das ist unverkennbar, ist jetzt in daS Fahrwasser rückhaltloser kirchlicher Reaktion eingelenkt, und die anderen Ressorts, die hier in Betracht kommen, sind anscheinend nicht geneigt, den Stil-Charakter der Aera Mühler zu beeinträchtigen. Wenigstens hat der Berliner Polizeipräsident kürzlich eine Verordnung über die Sonntagsheiligung erlassen, aus der ein auf frei- conservativem Boden stehendes dortiges Blatt mit nur zu viel Berechtigung den Anlaß nahm, warnend an das bekannte, beim Regierungsantritt gesprochene Wort Wilhelm's I. von der Heuchelei zu erinnern. Auch die „Post" verkennt das Bedroh liche der Situation nicht. Sie bemerkt im Anschluß an eine ab fällige Beurtbeilung deS Synodalbeschlusses wegen Berufung von Theologie-Professoren: „Es darf mit Sicherheit erwartet werden, daß Herr Stöcker sich nickt die Gelegenheit entgehen lasten wird, in der näcksten Landtagssesfion die Initia tive in der Sacke zu ergreifen. Man darf daher auf ein ernstes Nachspiel der Verhandlungen der Provinzialsynode im Land tage gefaßt sein." Gewiß und jedenfalls auck auf einen neuen Ansturm gegen den staatlichen Charakter der Volks schule. Hoffentlich aber gelingt es nicht, die Erkenntniß zu verwischen, daß Herr I)r. Bosse so wenig das Land hinter sich hat, wie seiner Zeit Graf v. Zedlitz. Noch niemals ist die Größe des klerikalen Paritäts- schwinSelS in Parlament und Presse drastischer dargetban worden, als in den nachstehenden Auslassungen, durch deren — jedenfalls erzwungene — Aufnahme die „Germania" sich selbst der schlimmsten Volksbelhörung zeiht. Das führende Centrumsorgan schreibt: „Die Förderung der Wissenschaft ist in der Gegenwart die wichtigste Ausgabe des katholischen Deutschlands" — mit diesem Mahn- ruie schloß Freiherr von Hertling seine nunmehr im Druck vor liegende Rede zur Eröffnung der diesjährigen Gencral-Versammlung der Görresgesellschaft. Seine Mittbeilungen über den Bildungs- mangel der deutschen Katholiken, der von Jahr zu Jahr ärger wird, sind erschreckend. An der Spitze der kaiholischen Forderungen steht seit zwei oder drei Jahren das Wort: Parität. Wir werden zugeben müssen, daß dieses Wort nicht blos von uns dem Staate, sondern auch von dem Staate uns entgegengehalten werden kann und muß, daß, wenn wir Gleichstellung ver langen, wir sie nicht in in der zu gewähren haben. Der Staat hat gewiß die Pflicht, alle tüchtigen Bürger gleichmäßig zurMiiarbeit an den großen vaterländischen Ausgaben heranzuziehen, aber wir haben nicht minder die Pflicht, ihm tüchtige Bürger in der uns zu- kommenden Anzahl zu stellen — ja nicht blos in der uns zukommenden Anzahl, sondern über sie hinaus. Der deutsche Kaiser ist Protestant, protestantisch sind fast überall die Bundesfürsten, die Hochschullehrer, die große Mehrheit des Bocket — da ist eS einfach menschlich, daß man selbst dort, wo man gerecht sein will, un- bewußt die vorhandenen protestantischen Kräfte eher heranzieht alS die katholischen; denn persönliche Beziehungen, religiöse Neigungen werden in protestantischen Herzen keine geringere Rolle spielen als in unseren. Daher müssen wir um so Tüchtigeres leisten und in um so größerer Anzahl uns zur Stelle melden, um das, was unS an perlönlichen Beziehungen abgeht, auszugleichen. Die Paritätssrage einseitig fassen, heißt den katholischen Volks- theil ins Verderben stürzen, unser Volk, wie Frhr. v. Hertling treffend bemerkt hat, in zwei Clafjen scheiden, in die herrschende der gebildeten Protestanten und in die beherrschte der katholischen Bauern und Handwerker. Rusen wir nur: der Staat stellt unsere Söhne doch nicht an, duldet sie nicht in seiner Verwaltung und nicht an seinen Schulen, befördert sie unter keinen Umständen — dann bringen wir unsere Kalholiken allmählich dahin, ihre Söhne überhaupt nicht mehr studiren zu taffen; dann bringen wir vor allein die Söhne dazu, überhaupt nicht mehr zu studiren, weil es ja doch keinen Zweck hat. Darum muß es regelmäßig nach dem Rufe: „Staat, gieb uns Parität", sofort heißen: „Aber Katholiken, gebet auch ihr Gott, was Gottes ist, und dem Kaiser, was deS Kaisers ist!" Wie sehr doch in unserem Falle einmal Gott und Kaiser dasselbe verlangen: begabte, tüchtige Männer, die in den Versuchungen der weit- licken Wissenschaft und angesichts einer Laufbahn, die blendender Aussichten voll ist, sich bewährt haben. Wir haben sie in dcmüthigem Gehorsam zu stellen: Gott wird sich ihrer sicher bedienen; und wenn der Staat sich ihrer nicht bedient, ist das nicht unsere Sache, der Heiland hat sein Gebot ohne Wenn und Aber ausaesprochen. Das Widerwort, daß bei der Berufswahl auch Geldrücksichten mitzu- svrechen hätten, ist ohne Kraft: Richter, Rechtsanwalt, Gymnasial lehrer, Ingenieur, Arzt zu werden und damit für ernste, wissen schaftliche Leistungen die genügenden Bedingungen sich zu verschaffen, kann der Staat Niemandem wehren, nur das Befördern liegt in seiner Macht. Wir klagen über die Erziehung auf den Gymnasien: in West falen ist es bereits dahin gekommen, daß die etat-mäßig katholischen Stellen nicht mehr durch Katholiken besetzt werdenkönnen.ohneZweiselnurinFolgederJahrehin- durchvonmanchenkatholischenBlätternfortgeseytenWar» nungen vor dem philologischen Studium. Die Universität München hat kürzlich einen katholischen Professor berufen wollen, aber keinen ouftrriben können. So kann man geradezu behaupten: Die Klage über den allzu großen An drang zu den wissenschaftlichen Fächern trifft aus schließlich für die Protestanten, nicht für unS zu. Also die Parität hat zwei Seiten; gestehen wir es offen zu. „Das erste und nolhwendigfte", sagte Hertling, „ist die Erkenntniß eines Uebels unter Beseitigung jeder Selbsttäuschung und jeden Versuches zur Abschwächung." Aebnlichcs ist von staatlicher Seite den klerikalen Klagen über Imparität oft genug entgegengesetzt worben, u. A. von dem bayerischen Minister v. Lutz, und eS wird trotz der An wandlung von Wahrheitsliebe, welche die „Germania" über kommen bat, auch künftig gesagt werden müssen. Denn wenn das Centrum nicht die Lüge von der ungerechten Behandlung katholischer StaalSvienstbcwerber aufrecht erhält, waS bleibt ihm für seine Agitation übrig? Der indischen Politik England- steht, so scheint es, eine Prüfung ernstester Art bevor. Der schon seit geraumer Zeit gefürchtete Notbstand in Folge von Mißwachs und Tbeuerung ist tbatsächlich eingetreten und hat Dimensionen angenommen, welcke zu schlimmen Besorgnissen Anlaß geben. Indien steht am Vorabend einer allgemeinen HungerSnoth, wenn nicht schon mitten darin. Am meisten sind bi« jetzt die nordwest lichen, die mittleren Provinzen und daS Pendschab beimgesucht, aber eS ist kaum zu bezweifeln, daß die Calamität dort nicht Halt machen wird. WaS der Telegraph von der „erwarteten starken Getreideeinfuhr", sowie von dem Beginne der Arbeiten zur Linderung der Nolh spricht, vermag die anglo-indische Regierung nicht von dem Vorwürfe zu entlasten, daß sie sich einer schweren Unterlassungssünde schuldig gemacht hat, indem sie die Dinge überhaupt so weit kommen ließ. An der Dürre, welche das Mißralhen der Getreideernte zur Folge batte, ist das anglo-indische Regime natürlich unschuldig, dennoch darf es sich nicht hinter die Ausrede der höheren Gewalt verschanzen, weil es vollkommen in seiuer Hand gelegen hätte, rechtzeitig genügende Vorräthe vom AuSlande heranzuziehen. Statt dessen hoffte und hoffte man auf einen Witterungs umschlag, bis der durch das Ausbleiben deS befrucktenden Regens entstandene Schaden uneinbringlich geworden war und der Hunger an die Thüren der Bevölkerung pochte. Jetzt soll nun da« Versäumte über Hals und Kopf nach geholt werden, und es ist im eigensten Interesse der anglo indischen Regierung zu wünschen, daß die Hilfsaktion so rasch und ausgiebig als nur irgend möglich sich vollziehe, da andernfalls das moralische Prestige der herrschenden Raffe in kaum zu verwindender Weise geschädigt werden müßte. Englands indische Machtstellung beruht ohnehin mehr auf moralischen denn auf materiellen Faktoren, und es wäre bedenklich um ihre Aussichten bestellt, wenn in Indien die Vorstellung land läufig würde, daß England sich der Verantwortlichkeit, die ihm sein indischer Besitz auferlegt, nicht voll bewußt bezw. zur Erfüllung seiner elementarsten Pflichten gegenüber dem von ihm ausgebeuteten indischen Volke unfähig sei. Die von der indischen Volksseele mehr instinctiv empfundene als zum klaren Bewußtsein" durchgedrungene Abneigung gegen das fremde Erobererthum gehört mit zu den Imponderabilien, die der englischen Herrschaft in einem unbewachten Augenblick desto verhängnißvoller werden könnten, je weniger man, wie die concrete Entwickelung der indischen Zustände dartbut, in Kalkutta bezw. in London auf diesen Factor Rücksicht nimmt. Die Frage einer durchgreifenden Modernisirung deS türkischen Staatswesens drängt sich gebi terisch allen denkenden Unterthanen Les SultanS auf. Nicht nur die Christen verlangen eine Umgestaltung, sondern auch die Muselmänner erkennen die Nothwendigkeit einer Ver jüngung ihres Reiches und halten mit ihren Ideen nicht mehr zurück. „Ich hatte, so wird der „Post" aus Konstantinopel geschrieben, oft Gelegenheit, mit angesehenen Türken Uber die Verhältnisse zu sprechen, und alle diese Herren, die weit davon entfernt sind, juugtürkischen Principien zu huldigen, machen kein Hehl daraus, daß es so nickt mehr weiter geht; sie erklären frank und frei, daß die armenische Bewegung nicht allein den revolutionären Comit^s zugeschrieben werden darf, sondern auch den unleugbaren Fortschritten, welcke die Armenier, Vie Moslim überflügelnd, in kultureller Beziehung gemacht haben. „Bildung macht reich" ist ihre Devise, und so wenden sie ihre Aufmerksamkeit in erster Linie dem Schulwesen zu; ihr reiches Wissen verhilft ihnen dann auch in wirthschaftlicher Hinsicht zum Siege. Dieses gilt uicht nur von den Armeniern der Türkei, sondern, wie mir das von russischer Seite bestätigt wird, ebenso für die Ar menier Georgiens und des Kaukasus, wo die übrige Be völkerung gleichfalls einen schweren wirthschaftlichen Kampf mit ihnen zu bestehen hat. Hierbei kommt noch ganz be sonders in Betracht, daß der armenische Handel, vermöge der in den großen kommerziellen Handelscentralen der Welt an sässigen armenischen Kaufleute, leichrer ein Absatzgebiet findet. So lange die muselmännische Bevölkerung sich nicht, dem Beispiel der Armenier folgend, europäische Bildung aneignet und sich nicht bestrebt, ihren Handel und Wandel aus die Höhe der Zeit zu bringen, muß sie nothwendig Zurückbleiben. Sogar muselmännische Zeitungen, die außerhalb der Macht sphäre des Sultans erscheinen (ganz abgesehen in diesem Falle von den jungtürkischen Organen, welche in Paris, London, Alexandrien u. s. w. herausgegeben werden) öffnen derartigen Betrachtungen ihre Spalten. An nothwendigsten Reformen forderte kürzlich ein solches Blatt: Die Ausstellung eines einheitlichen Budgets und Schaffung einer finanziellen Ueberwachung; Auswahl der Minister nicht nach Gunst, sondern nach Fädigkeiten; Aus dehnung des Militärdienste- auch aus die Nichtmohamedaner; eine beschränkte Preßfreiheit; die Reorganisation der Körper- FeiriHston. Die Schuld des Fürsten Romanskoi. 28j Roman von Tour. Fischer-Sallstein. Nachdruck verboten. Wider seinen Willen klang etwa« Weiche-, WchmüthigeS durch seine Stimme. Er wandte das Gesicht zur Seite, weil er den fragenven Blick Michael'« nicht ertragen konnte. „Du willst zu Deiner Frau," sagte jetzt Michael Jasmorin, „ich finde es ganz natürlich, daß Du bestrebst bist, sie den Händen des Doktors zu entreißen, aber warum kann ich bei dieser Aufgabe nicht Dein Genosse sein?" Wie diese Worte den Grafen peinigten! Er zuckte schmerz lich betroffen zusammen und bäumte dann mißmutbig auf. „Warum berührst Du eine so todte Sache? Weißt Du nicht, wie ich darüber denke? — Ich habe sie aus meinem Herzen geworfen; mag sie ruhig dahin zurückkehren, wo sie herkam! — Hätte ich sie und Indien nie gesehen!" Und wieder verlor er sich in Sinnen und Brüten, wieder stand er da wie verloren, trotzdem der Freund an seiner Seite stand. „Dann sage mir wenigsten-, wie ich Dir helfen kann!" stieß Michael hervor. „Für mich sind di« Würfel gefallen, mir kann Niemand helfen al- nur ich selbst. Denke nach, wir viele Tage wir hier verträumt? WaS ist damit gewonnen? Nicht«, sie sind verloren für Dich und für mich. Ich habe Dir Sorgen gemacht, ich habe Dich um die Nachtruhe gebracht, und mit welchem Recht that ich da«? Laß mich endlich ziehen, mein Weg ist kurz und klar. Bor Dir liegt da- Leben wie eine sonnig« Landschaft, an Dein«n Wrgrn blühen Rosen, Du wirst gelirbt, ich bin nie geliebt worden. Lidia wirb Dich glück licher machen, als Du begreifen kannst, ich ahne e«. Du bist «in Mrusch, drr r« auch vtrstehen wird, glücklich zu wrrdrn." Er ging mit g«s«nkt«m Haupte nach der Thür, und letzt ließ ibn Michael zum ersten Mal seit all den Tagen gehen. „Ich kann ihn doch nicht halten", flüsterte Jasmorin iu sich hinein, „ich hab« gethan, wa< ich kann!" „An der Thür blieb Jlija Andrej stehen und sah nach dem Freunde zurück. „Der Abschied wird mir schwerer al- ich dachte", rief er JaSmorin zu, „aber ich werde schreiben, Du sollst von mir hören." „Wann sehen wir un« wieder?" ,^Da- weiß nur der liebe Gott, lebe Wohl, Michae Jasmorin!" Er stürzte fort und seine vor Erregung bebende Hand warf dröhnend hinter sich die Tbür ins Schloß. Wie betäubt stand der junge Graf vor der Thür und auschte. Ein wildes grenzenloses Weh zerriß ihm die Brust. Er körte, wie der Freund im Zimmer auf und abging, dann wieder stille stand und Jlija Andrej errieth, daß er mit dem Verlangen rang, ihm zu folgen. Jetzt glaubte er, daß Michael Jasmorin sich der Tbür von innen nähere, und wie ein auf- gescheuchteS Wild stürzte er auf die Treppe zu und eilte so lautlos wie möglich hinab. Aber schon auf dem ersten Treppenabsatz blieb er stehen, klammerte sich am Treppengeländer fest, blickt» mit verhaltenem Alhem nach oben und war enttäuscht, al« Michael JaSmorin nicht vor seine Tbür trat. „Ach könnte ich bleiben", stöhnte er und schleppte sich wie ein Mensch die Treppen hinab, der jeden Halt an Leib und Seele verloren hat. Ja, der Abschied vom Freunde wurde ihm schwerer, al« er dachte, ein Michael JaSmorin ist für ihn schwerer zu vergessen al« seine Frau au- Indien. Erst im Hausflur angekommen raffte er sich auf, schob den Hut in die Stirn und mit finsterem Gesicht wollte er binaustreten auf den mit Menschen gerade jetzt überflutheteu kleinen Boulevard. Ehe er den Au-gang erreichen kann, eilt der stet« gr- schästige HauSmann vorüber und pflanzt sich unter den offenstebendrn Flügel der Hau-tbür. Dort draußen war eine Kutsche vorgefahren, die offenbar die Aufmerksamkeit diese« HülerS de« Hause« erregt hatte. Jlija Andrej sah, wie der Mann die Pelzmütze vom Kopfe nahm, und trat darum scheu zur Seite, weil er am liebsten Niemandem begegnen wollte. Auf einmal zuckte Graf MatscherSkoff zusammen und wurde leichenblaß. Ja, er halte die Stimme der Petuschkiwna ver nommen! Bon einer furchtbaren Unruh« gepeinigt, suchte er mit den Augen nach einem Bersteck, er möchte sich in die Erde verkrieche», nur um nicht gesehen zu werden! Aber da weicht der HauSmann, sich bi« über den Gürtel verbeugend, schon zurück und die hohe, ganz in tiefe Trauer gekleidete Gestalt drr Sofia Andrejewna trat in den Haus flur herein. Ihre Blicke begegneten sich. Die Petuschkiwna weiß sich vor Erstaunen nicht zu fassen. Jbre Augen schienen eS ihm auf den Kopf zuzusagen, daß er bei Michael JaSmorin ge wesen sein müsse, und eine wahre Angst beschlich sie. Warum erwartete sie von ihm nur Böse«? Die Gestalt Lidia'S schwebte vor ihren Augen, aber sie wagte den Gedanken nicht auszubenken, der sie in Aufruhr versetzte. Und wie verschlossen, wie in sich gekehrt, starrte sie Jlija Andrej an. Ein trotzige-, ja ironische« Lächeln kräuselte seine Lippen, und dabei stand er gebeugt vor ihr, wie ein Panther, der zum Sprunge ansetzt. Noch niemals kam der Sofia Andrejewna Jlija Andrej so abstoßend, ja so unheimlich vor wie heute. Sie hätte ihm zuschreien mögen: „Jetzt weiß ich, warum unser armer treuer Michael nickt kam, — Du hast ihm ein Leid gethan, weil Lidia ihn mit ihrer Liebe verfolgte!" Im Begriffe, nach dem Hute zu greifen, um sich schweigend an ihr vorüber zu schleichen, denn die Zeiten sind vorüber, wo er der Sofia Andrejewna Rechenschaft über sein Thun und Treiben ablegen mußte, was er schon als Knabe mit Zähneknirschen getban, streift sein Blick eine ärmlich gekleidete Frau, die sich auf einen rohen abgegriffenen Stock stützte. Er sieht nickt, daß diese Frau den Stock fallen läßt und die Hände erhebt, er vernimnit nickt einmal den Aufschrei, der sich den welken Lippen dieser Frau entwindet, sondern mit dem Ausdruck des Entsetzen« starrt er ibr iu die dunklen Augen. Ja, da- waren die Augen Stepan Wassilitsch RomanS- koi'Sl — Selbst die kleinen weißen Flammen, vor denen er sich immer duckte, züngeln dort auf. DaS sind die Augen, die sich auf ihn richteten, al« er mit dem Bulgarenmesser vor dem Bette erschien. — Geh' Knabe — au« Deinen Augen spricht der Wahnsinn! — gellt es ihm in den Ohren. Und dieselbe Angst und Furcht wie damals beschleicht ihn, gerade so erhebt er mit zusammcngekrallten Fingern die Hand und wieder empfindet er einen Druck auf seinem Hinter kopf, gleichsam als stoße ihm eine unsichtbare Riesenfaust in die Knie. Aber er will nickt zum zweiten Mal zusammenbrecken und vor dem Bettrand niedersinken, sondern mit über- menschlischer Kraft hält er sich aufrecht, taumelt rückwärts nach der Thür und hält sich an der Klinke fest. Aber da« Weib mit den schrecklichen Augen folgt ihm nach. Er fühlt, wie sie seine Hand umklammert und das Blut in den Adern will iym gerinnen. Ein Brausen ent steht in seinem Gehirn, ein blutrother Nebel steigt vor seinen Augen auf und eine Stimme ruft au« diesem Nebel hervor: Nicht Nahim, den sie verscharrt, sondern Du bist der Mörder! Jlija Andrej ist einer Ohnmacht nahe. „Herr Graf MatscherSkoff", beginnt nun Sofia Andrejewna mit ihrer sanften beruhigend wirkenden Stimme, „da- ist Ihre Mutter, di« Gräfin MatscherSkoff, Maria Feodorowna JaSmorin." „Also doch! sein« Mutter, meine Mutter", keucht Jlija Andrej und blickt um sich wie ein Trunkener, „e- giebt eine Stimme der Natur, aber sie ist schrecklich! —" Er reißt sich jetzt von der armen Wittwe, deren Augen in Thränen schwimmen, loS und stürzt fort auö dem Hause hinaus. „Ich habe ihn verloren, für immer verloren", ringt die Wittwe hervor und schlägt sich mit beiden Händen vor das Gesicht, „oh, Stepan Wassilitsch, gieb mir mein Kind wieder!" Erst nach und nach gelang eS der guten Sofia Andrejewna, die unglückliche Mutter, welche ihrem flüchtigen Sohne folgen wollte, zu beruhigen. Dann begaben sie sich beide binauf zu Michael. Ein eisiger Wind strich durch die Straßen; dir ersten Schneeflocken tanzten durch die Luft, der Himmel war mit einem harten Grau bedeckt, der nordische Winter trat auf mit seiner eisigen Majestät. Mit ungestümer Hast eilt Jlija Andrej auf dem Trottoir dabin, die Augen seiner Mutter, die Augen Stepan Wassilitsch's verfolgen ihn, und er will diesen schrecklichen Augen entfliehen. Jetzt steht er auf einer Brücke und blickt in da« schmutzig graue Wasser hinab. Er beugt sich über die Brüstung und scheint mit einem Entschluß zu ringen, um im nächsten Augen blick, wie ein Mensch, der sich noch zu rechter Zeit auf eine wichtige Sache besonnen, fortzustürmen. Diese Hetzjagd wäbrt Stunden lang. Wohin er will, er weiß es selber nicht. Zuletzt versagt ihm der Athem, und er wird so müde, daß ibn die Füße nicht mehr tragen wollen. Er verläßt da« schmutzige, schlüpfrige Holzpflaster einer kleinen Gasse und tritt in eine elegante Straße hinaus. Wo er sich befindet, weiß er nicht, eS ist ihm da« auch sehr gleich- giltig. Er steht unter dem Eindruck, etwa- Wichtige« thun zu wollen, aber er weiß nicht, wa«. Auf einmal stebt er vor dem Palast de- Bankiers seines Onkels Stepan Wassilitsch Romanskoi. Kurz entschlossen betritt er die Bureau«. Sein Erscheinen erregt unter den Beamten der Bank einen wahren Aufrukr. Wie lange schon hatte man auf den Erben de« ungeheuere» Vermögen« ge wartet ! Der Bankier selbst, «in älterer hagerer Herr, mit beinahe aristokratischen Allureu, eilt aus seinem Privatcomptoir her bei und macht dem jungen Herrn seine Auswartung. Der viel« Respekt, den man ibm zoll», die Bewunderung, die ihm di« jungen Leute «ntgegenbringrn, al- ob e« eine Heldcnthat wäre, Millionen zu erben, widern Jlija Andrej an. Warum behandelt man ihn nicht wie jeden Andern? Wa- gaffen ihn die Menschen an? „Ich bin sehr glücklich. Sie begrüßen zu können, Herr Graf, und noch mehr erfreut eS mich, zu sehen, daß Sie den schweren Verlust Jbre« fürstlichen Onkel- nun doch mit Gotte- Hilf« überwunden, wa- sage ich überwunde», zu über winden wird dieser Verlust niemals sein, aber in Anbetracht dessen, daß man allgemein, besonder« bei der Beisetzung, der ich natürlich mit angewohnt, — glaubt« anzunehmen, oder
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