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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 21.11.1896
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1896-11-21
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18961121018
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1896112101
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1896112101
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1896
- Monat1896-11
- Tag1896-11-21
- Monat1896-11
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Größere Schriften laut unserem Preis- verzeichuiß. Tabellarischer und Zifferusotz nach höherem Tarif. Ertra-Beilagen (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbesörderung ./lt 60.—, mit Postbesörderung ./L 70.—. Änvahmeschluß für Äuzeigen: Abend-Ausgabe: Vormittags 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittags 4Uhr. Bei den Filialen und Aunahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Truck uud Verlag von E. Polz iu Leipzig. 592. Sonnabend den 21. November 1896. so. Jahrgang. Der Parteitag -er Nationalsocialen. In diesen Tagen findet der erste Parteitag der national socialen Partei in Erfurt statt. Man wird diesen Parteitag eigentlich nur formell den ersten der neubegründeten Partei nennen können, denn bei den evangelisch-socialen Kongressen der letzten Jahre trat die Richtung, die von der neuen Partei vertreten wird, immer stärker hervor, und man wird sagen können, daß dies« Congresse die Porläufer dcS gegenwärtigen Parteitages gewesen sind, wenn natürlich damals auch Gegner ter Männer, die gczcnwärtig an der Spitze der neuen Partei stehen, an den Conaressen theilnahmen. Zn Folge der Betbeiligung an diesen Congressen und in Folge einer regen publicistischen Tätigkeit treten die Führer der neuen Partei nicht als politische Neulinge vor die Oeffcnt- lichkeit. Sie sind in weiten Kreisen als redlich denkende, um das Volkswobl besorgte Männer bekannt. Obgleich aber auch wir die meisten als solche Männer anerkennen und der vielfach verbreiteten Ansicht, daß es sich um lauter un praktische Schwärmer handle, nicht beitreten, glauben wir doch, daß die Fübrer der neuen Partei Enttäuschungen nach zwei Richtungen hin erleben werden: erstens nämlich, daß sic die von ihnen gezogenen Grenzen nicht innehalten können und zweiten», daß sie eine nennenswerthe Gefolgschaft nicht finden werden. Die Führer der Partei haben betont, daß sie durch daS Fest halten des nationalen Standpunctes sich von der Social demokratie scharf unterscheiden würden. Obwohl aber die neue Partei kaum erst besteht, so hat sie doch schon in einem Falle ein nicht richtiges Empfinden für nationale Angelegenheiten gezeigt. Als der Opalenitzaer Proceß einen ungünstigen AuSgang nahm und der preußische Districtscommissar stark cvm- promittirt war, rieth das officielle Organ der neuen Partei, »Die Zeit", allen Ernstes, in polnischen Bezirken polnische Landrälhe anzustelleu und dadurch Zwistigkeiten zu entgehen. Wir wollen nicht bervorheben, daß vieler Vorschlag den Beweis führte, daß oer Verfasser deS betreffenden Artikels von den Zuständen m den östlichen Provinzen keine richtige Vorstellung halte, wir müssen aber betonen, daß in einer Zeitung, die das nationale Princip festbalten will, auch ohne genauere Kenntniß der einschlägigen Verhältnisse nicht Vorschläge gemacht werden dürfen, von denen auch der politische Laie voraussetzen muß, daß ihre Durchführung das Deutschthum gefährden müßte. Wir führen den recht unglück lichen Vorschlag indessen nicht auf einen Mangel an patriotischer Gesinnung zurück, sondern auf ein übertriebenes Maß eines politischen Idealismus, der im Gegensätze steht zu gewissen Härten, die einem Staate immer werden anbasten müssen, wenn er nicht der Anarchie anheimfallen will. Wer den Gedanken des absoluten gleichen Rechtes, mag es nun in nationaler Hinsicht, wie in dem angegebenen Falle, oder in politischer Hinsicht, oder in socialer Hinsicht durchführen will, übersieht, daß der Staat als ein Correlat zu den Wohlthaten, die er dem einzelnen Staatsbürger durch seine Existenz bietet, von dem Einzelnen Opfer verlangen muß, die ihm oft als Härte, manchmal sogar als Ungerechtigkeit erscheinen werden. Gewisse Härten wird der nationale Staat immer für die jenigen Personen enthalten müssen, die der durch ihr nume rische» Uebergewicht im Staate maßgebenden Nationalität nicht angebören. Deshalb werden die Nationalsocialisten, wie n diesem Falle, so noch öfters, ihren nationalen Standpunkt nicht festhallen können, wenigstens nicht in der Weise festhalten können, wie eS für den nationalen Staat eine Nothwendig- keit ist. Sie werden es um ihrer Ideale willen nicht thun können, sie werden es aber auch um der Gefolgschaft willen nicht tbun können, die sie bekommen werden. Tenn diese Gefolgschaft wird ja nicht aus einer Partei sich recrutiren, sondern aus solchen Anhängern der verschiedenen Parteien, die mit ihrer Partei nicht mehr zufrieden sind und dem Pro gramm der nationalsocialen Partei im Großen und Ganzen zustimmen. Darin aber liegt eben die Gefahr für die neue Partei, daß sie durch ihre verschiedenartige Anhänger schaft gezwungen sein wird, zu laviren und Concessioncn nach den verschiedensten Richtungen hin zu machen. Denn wer auch immer aus einer Partei, der er lange Zeil angehört hat, austritt, behält doch gewisse Auffassungen aus seiner frühere» Partei zurück und sucht diesen Auffassungen, so weit es möglich ist, in der neuen Partei Geltung zu verschaffen. Und wenn eS auf der einen Seite, wie zugegeben werden soll, ein Vorzug der neuen Partei sein mag, daß ihr Programm Männern verschiedener Richtungen Zugang gewährt, so liegt darin, wie Wohl aus unseren obigen Ausführungen erhellt, auch ein Moment der Schwäche. Freilich glauben wir nicht, daß die Partei vorerst einen erheblichen Zugang aus de» verschiedenen bestehenden Parteien erhalten wird. Sie selbst rechnet bekanntlich am meisten auf Zuzug aus der conservativen Partei einerseits, der socialdemokratischeu Partei andererseits. Gerade diese Parteien haben aber, abgesehen vielleicht von der Centrums- partei, die am festesten bei der Partei verbleibende Gefolgschaft. Die socialdemokratische Partei hat bisher überhaupt aus ihren Reihen an andere Parteien eine erhebliche Zahl von Ueberläufern noch niemals abgegeben. Die konservative Partei hat von ihrem Besitzstände auf dem platten Lande lediglich an die antisemitische Partei Anhänger verloren. Es ist kaum zu vermuthen, daß sie daneben noch an die neue Partei Terrain verlieren wird. Den übrigen Parteien steht die nationalsociale Partei in ihrem Programm und in den Beziehungen ibrer Führer fern und es wird ihr deshalb wohl nur gelingen, einzelne mit ih-'er Partei unzufriedene Personen zu gewinnen. So glauben wir, daß einem Generalstabe von unbestreitbar großer Intelligenz und lauterer Absicht eine erhebliche Gefolg schaft nicht Zuströmen wird. Was wir jedenfalls aber auf richtig wünschen, ist, daß die Führer durch ihr Bemühen, der Partei Anhänger zuzusühren, nicht auf eine Bahn geleitet werden, von der ihnen eine Rückkehr zu ersprießlicher Arbeit für das Vaterland nicht möglich sein würde. Deutsches Reich. Berlin, 20. November. Wie von polnischer Seite offen angeküudigt wird, ist für die bevorstehende Landtags session eine polnische Action in großem Stil zu er warten. Sowohl wegen der Veränderung der Farben der Provinz Pofen, wie wegen des „Opalenitza-Skandals" soll die Negierung angegangen werden. Es hat stets zu dem Inventar der Führer der „preußischen Unterthauen polnischer I Nationalität" gehört, unter dem Schutz der Immunität des preußischen Abgeordnetenhauses mit eiserner Stirn die Existenz grvßpolnischer Bestrebungen gerade daun ab- zulengnen, wenn diese sich besonders unvorsichtig der Kenntniß breitester Oesfentlichkeit aufgedrängt halten. Die jetzige Zuversicht wird aber dann erst vollkommen verständlich, wenn mau in Rücksicht zieht, daß bezüglich des Farbenerlasses die deutsche klerikale Presse, bezeichnender Weise zum Theil gestützt auf erkennbar polnisches Material, für die polnische Agitation in die Bresche gesprungen ist, und daß bezüglich des Opalenitzaer Vorkommnisses die Gcrichtöverbaudlung vor dem Schwurgericht in Meseritz weit weniger Licht in den polnisch-agitatorischen Bestand- theil des Vorfalles als in das Vorleben des DislrictS- commissars warf, daö doch mit dem eigentlichen Vorkommnis; wenig zu thun hatte. Auch hierhin hat dann die „deutsche" klerikale Presse, indem sie daS polnische Schlagwort vom „Carnapismus" willig auffiug, das Ihrige gcthan, um die polnischen Hoffnungen auf die Action im Landtag zu verstärken. Die Aussicht aber, beim Ccntrum Unter stützung zu finden, kann nickt die sachliche Schwäche der polnischen Position decken. Soeben wird auf Grund eingehenden Materials in der „Post" bezüglich des Opalenitzaer Vorganges schlagend nachgcwiesen, wie sehr dieser ausschließlich der Ausfluß durch äußere Mittel verhetzter, gegen das Deutschthum als solches zum Aus bruch gelangter grvßpolnischer Stimmungen war. Die Bei bringung von einwandfreiem, positivem Material ist in der That das einzige Mittel, nm die Grenze zwischen den deutschen und den polnischen Interessen so scharf zu zieben, daß sie auch der deutsche Klerikalismus vor der Oeffentlickkeit anerkennen muß. Und solches Material muß die Regierung in Hülle und Fülle besitzen. So tonnen wir beispielsweise nicht annehmen, daß die Erfahrungen be züglich der polnischen Loyalität, welche im verflossenen Winter sehr zu seiner Ueberraschung der Cnltusminister 1)r. Bosse mit demPropst v.ZazdzewSki im „FallBrandenburger" gemacht hat, nur auf dieses Reffort und diesen polnischen Führer beschränkt geblieben sind. Nach unserer Kenntniß der Verhältnisse wäre das Ministerium des Innern wohl auch in der Lage, vielleicht sogar bezüglich des Herrn v. Stablewski nöthigenfalls mit ähnlichem Material zu dienen. Wenn dies bei der Vor sicht des Posener Erzbischofs auch nicht so augenfällig ist, wie die Unvorsichtigkeit des Herrn IazdzewSki, welcher mit actenmäßigen Belägen so gröblich compromittirt ist, daß, wie wir wissen, selbst im Centrum nicht wenige Mit glieder damals stutzig geworden sind, so wird es doch vielleicht so viel nützen, daß die Leiter der polnischen Agitation in eigenem Interesse bescheidener werden. Und dieser Erfolg wäre nicht zu unterschätzen. Denn die polnische Bevölkerung taxirt die Autorität ihrer Führer vorwiegend nach der Dreistigkeit, mit welcher diese der preußischen Re gierung gegenüber im Parlament aufzutreten verstehen. * Berlin, 20. November. Hosprediger a. D. Stöcker bat sich am Bußtage veranlaßt gesehen, daS gegen ihn in Sachen Witte ergangene schösfengerichtliche Urtheil in seine Predigt hineinznzieben. Die „Post" berichtet hierüber: „Die Berliner Stadtmissionskirche war von mehr als zwei tausend Personen besucht. Nachdem der dritte Vers des Hauptliedes „Ich will von meiner Missethat zum Herren mich bekehren" verklungen war, bestieg Hofprediger Stöcker die Kanzel, um über den Text zu sprechen: Klagelied Ieremia 3, 3!)—1l: „Wie murren denn die Leute im Leben also'? Ein Jeglicher murre wider seine Sünde! Und lasset uns sorscken und suchen unser Wesen und uns zum Herrn bekehren. Laßt uns unser Herz sammt den Händen aufheben zu Gott im Himmel!" — „Liebe Gemeinte!" so begann Hosprediger a. D. Stöcker, „Du kannst Dir wohl denken, daß ich beute nock mehr, als sonst, in tiefem Ernst und heiliger Selbstprüfung vor Dir stehe. Wenn ich das für wahr hielte, was in den letzten Tagen aus dem Gerichtsspruch über mich durch die Blätter gegangen ist, dann könnte ich Dir keine Bußtagspredigt halten. Dann würde ich cs als meine Pflicht ansehcu, hier von der Kanzel zu steigen und nie wieder hinaufzugeben. Aber ich habe heute, weil ich ein gutes Gewissen habe, die selbe Freudigkeit wie immer. Dir und mir zu predigen. Und was ich in meiner Seele fühle, das steht in der Heiligen Schrift und lautet: Herr, ich danke Dir, daß Du mich demüthigest und hilfst mir! — Und nun will ich Buße predigen, wie schon so manches Mal, Dir und mir. Ich will zur Einkehr und zur Umkehr und zum Gebet rufen und will ringen, so innerlich ich kann. Ich thue cs mit den Worten des Propheten Jeremias in seinen Klageliedern. Als dieser große Prophet die Klagelieder sang, war auch schwere Zeit. Wir leben iu einer großen glänzenden Zeit, doch der Tag der Bnße ist überall nölhig. Denn auch eine große, glänzende Zeit kann in die Tiefe, in den Abgrund gehen, wenn es ibr an Buße fehlt und an Glauben. Was uns Noth thut, ist Gründlich keit im innere» Lebe», Gründlichkeit iu der Buße, im Glauben, in der Bekehrung, im Beten!" . . , * Berlin, 20. November. Von Deutschen, die in Brasilien ansässig sind, geht der „Nat.-Ztg." eine Anzahl von Ausschnitten aus brasilianischen Blättern mit Pariser und angeblichen Berliner Telegrammen zu, aus denen erhellt, in welch verlogener Weise dort die öffentliche Meinung über Deutschland und deutsche Interessen berührende Angelegen heiten -.insormirt" wird. Einige Proben mögen dies illustriren: Unter Frankreich berichtet das in Rio de Janeiro er scheinende „Iornal do Brasil" in der Nummer vom 19. Ok tober d. 2. in einem Telegramm ans Paris: „Der Kaiser von Deutschland in Paris. Paris, 18. (Lclober.) „Le Soir" und andere Zeitungen ver sichern, Laß der Kaiser von Denljchlaud in Paris wahrend Les Be suches deS Zaren unter dem Namen von Ehrenbaut war. Tie Zeitungen fügen hinzu, daß der deutsche Souverän! in einem Hotel dritten Ranges (!) nahe dem Lpernplatze Wohnung genommen hatte." In der Nummer vom l9. Oktober veröffentlicht das „Iornal de Commereio" folgendes Telegramm aus Berlin vom 18. Oktober: „Der Zar und die Zarin kamen Henle Morgen in Wiesbaden an, indeni sie während dec Reise ein Zusammentreffen init den im Aufstand (!) befindlichen elsässischen Recrulen zu vermeiden suchten. Während der Ucberfahrt mit der Eisenbahn, bei der Ankunft in Darmstadt, wohnten die königlichen (!) Reisenden verschiedenen Excessen bei, welche durch die Ausrührer verübt wurden. Auf Len Bahnhöfen in Rastatt und Heidelberg stießen die Elsässer Hochrufe auf Frankreich ans. Nach Darmstadt ging sofort eine Batterie Artillerie ab, welche sich aus dem Bahnhöfe der Eisenbahn aufstellte und den Aufstand schnell unterdrückte. Die Ruhe ist vollständig wiederhergestellt." Die „Ageuce Havas", die auch den telegraphischen Dienst für die brasilianische Presse versieht, hat sich jetzt darüber l zu äußern, ob sie mit diesen Lügeudepeschen, deren auS FruiHrton. Sanct Martin. Ein Bild aus dem 4. Jahrhundert. Bon vr. Eugen Arndt. Nachdruck «erböte«. „Es ist zuweilen viel gutes Dings drinnen, als in der Historia von St. Martino stehet." Martin Luther. Im 4. Jahrhundert, jener Scheide der Epochen, war das ganze römische Reich in ungeheuerer Bewegung. Schrankenlos lag die Welt der Tbatkraft des Einzelnen offen. Da bestiegen Bauernsöhne den Thron der Imperatoren, und ein Kriegsknecht wurde Bischof und Heiliger. DaS war daS Schicksal Sanct Martin'». Aber weit darüber hinaus hat er sich eine dauernde Unsterblichkeit er worben. Al» Bischof und Heiligen feiert ihn die Kirchen geschichte; die Culturgrschichte kennt ihn als den Gründer des ersten Kloster» im Abendlande; der von Kirchen- und Cultur- geschickte wenig belastete C'nzelne aber freut sich de« guten Heiligen al» deS Patron» der leckeren MartinSganS und so mancher mit seinem Namenstage verbundenen unschuldigen Freuden. Da mögen wir Wohl bei der Wiederkehr diese» Tage» gern und dankbar einmal unseren Blick zurücklenken zu dem anmuthigen Bilde Sanct Martin'S, das aus dem wilden Getümmel des Jahrhunderts der Völkerwanderung wie auf Goldgrund gemalt uns freundlich anblickt. Unter seinen Kameraden erregte der Runden-Officier (cireltor) MartinuS viel Aufsehen. Nicht, daß der kräftige hübsche Burscke seinen Dienst nicht ordentlich versehen und verstanden hätte: hatte er doch vom Vater der Soldatenblut im Leibe! Aber unter den übermüthigen Legionären ging er still und fremd, al» seien seine Gedanken auf etwa» Andere» gerichtet, al» auf Krieg und KrieaSgeschrei. DaS Sonder barste aber war de» Martin»« Berbältniß zu seinem Burschen. Waren sie im Zelte oder Quartiere, dann übernahm der Eircitor seinerseit« die Rolle de« Diener», zog dem Burschen die Stiefeln au», putzte sie und bediente ihn wohl beim ge meinsamen Essen. Daß er trotzdem den dienstlichen Respect bei dem Bursche» sich zu erhalten vermochte, daß ließ auf eine eigenthümlichr Kraft seiner Persönlichkeit schließen. Der junge MartinuS war ein Pannonier. Zu Stein-am- Augrr al» der Sohn eine» Osficier« geboren, war auch er vom Vater für den Kriegsdienst bestimmt; aber ihn ergriff daS Feuer, das dazumal die noch heidnische Welt durchlief, und schon als Knabe lief er zur Christengemeinde. Wohl um ihn diesen Neigungen zu entfremden, ließ ibn sein Vater vor dem dienstpflichtigen Alter ins Heer eintreten. Aber die Absicht mißlang. In dieser schlichten Seele war der Keim deS ChristenthumS voll aufgegangen. MartinuS hatte wenig gelernt, und doch batte er da« Wesen der neuen Religion im Tiefsten erfaßt. Schlicht und einfältig überlrug er die Lehre der Liebe ins Leben, und gerade sein unverbildeter Geist und seine volkSthümliche Art, verbunden mit natürlichem Humor und natürlicher Liebenswürdigkeit, machten ihn so recht geeignet, die christliche Lehre dem gemeinen Mann glaublich und lieblich zu machen. Das war der Zauber seiner Persönlichkeit, der sich schon in dem Verhältnisse zu seinem Burschen kundgab. Nicht lange daraus war eS, als sich jene Scene abspielte, die MartinuS für alle Zeiten dem Volke lieb machen sollte. Sie spielt am Stadtibore der alten Stadt Amiens. Im Winter istS. Durchs Thor will der damals achtzehnjährige Soldat schreiten. Am Stadtthor lungern wie gewöhnlich die Armen, und Einer von ihnen, der, halbnackt, vor Kälte zittert, fleht Martin'S Erbarmen an. Kurr entschlossen zieht er sein Schwert, schneidet den zu seiner Uniform gebörigen Mantel mitten durch und reicht die eine Hälfte dem Frierenden. ES mag drollig auSgesehen haben, wie er die übrig gebliebene Hälfte zu befestigen suchte, und die Um stehenden lachten, der heitere Martin lacht« gewiß am fröhlichsten mit. Aber in der Nacht hatte er «inen schönen Traum. Da sah er Christum inmitten der glorreichen Schaar der Engel mit einem halben Mantel bekleidet, und es sprach der Herr, auf den Fetzen zeigend: „Martinus, noch Katechumen, bat mich mit diesem Gewände bekleidet" . . . Wir kennen de« Martinus Leben im Wesentlichen nur aus einer schnörkelhaften Biographie, die Alles in Wunder und Legende zu hüllen bestrebt ist. Doch unverkennbar geht auch auS ihr daS Reale hervor: der frische Sinn, daS schlichte Grmütb, die herzliche Seele deS jungen Pannonier», der ins Kriegsgewand gekleidet, nach den Werken der Liebe und de« Frieden« Sehnsucht hat. Lange hielt er'S im Soldatenstande nicht mehr au», er nahm seinen Abschied, ließ sich nun taufen und trat beim frommen Bischof Hilariu« von Poitiers in den geistlichen Dienst über. Manche Kreuz- und Quer fahrt folgte. Er besuchte die Eltern und e« gelang ihm, die Mutter zu seinem Glauben zu bekehren. Er lebte eine Zeit lang auf einer einsamen Insel bei Genua, endlich kehrte er nach Poitier« zurück. Der regelrechte Dienst der Kirche war für ihn, den Ungebildeten, nichts, und so gründete er nicht weit von Poitiers ein Kloster, daS noch heute besteht, daS Kloster Ligug«. Es war das erste Kloster deß Abendlandes. Zum ersten Male tbaten sich hier fromme Männer zusammen, um ganz bedürsnißloS allein dem heiligen Wandel zu leben. Noch gab es viel Heidenthum im Gallierlande. Welch' einen Eindruck mußte es auf die Heiden machen, daß diese Kloster leute nichts begehrten an Irdischem, daß sie sich nur der Wohlthätigkeit, der Hilfe, dem Leben in Gott weihten. Und dazu dieser stille, milde Mann als Haupt deS Kloster«, dieser MartinuS, der eine so naive und schlagende Art batte, die Lehren deS ChristenthumS all oculos zu demonstriren. Eines Tages sah er ein Schaf, das eben geschoren worden war. „Ei, seht da," sprach er, „ein Schäflein, das das Gebot des Evangeliums erfüllt hat. Zwei Röckchen hatte eS, da schenkte eS einen dem, der keinen besaß. So sollt Ihr eS auch machen!" — Ein anderes Mal erblickte er bei rauhem Wetter einen Sauhirten, der nur nothdürftig mit einen« Tbiersellr bekleidet war und vor Frost zitterte. „Da habt Ihr den Adam," ruft er auS, „wie er auS dem Paradiese gestoßen, mit Thierhaut bekleidet, die Schweine weidet, doch wir wollen jenen alten, der in diesem sich uns so anschaulich zeigt, ablegen und lieber den neuen Adam anziehen." Kein Wunder, daß sich von Ligug« aus Martin'S Ruf sehr schnell verbreitet. Er wird zum Bischof von TourS erwählt. Ein großer Wirkungskreis öffnete sich ihm, da daS Heidenthum in seinem Sprengel noch viel Macht batte und er begann fleißig und rüstia das Bekehrungswrrk. Wir brauchen alb die überlieferten Wunder nicht zu prüfen und werden doch glauben, daß er große Erfolge dabei hatte. Denn er verstand, mit dem Volke umzugeben, sprach zu ihm in an schaulichen Vergleichen, setzte Drohungen die stille Heiterkeit entgegen, die ihn auszeichnete und siegte überall durch seine volkSthümliche Art. Und es wurde bald bekannt, daß er sie aucb im Kaiserpalaste nicht verleugnete. Einst saß er beim Mahle am kaiserlichen Tische. Um ihn zu ehren, reichte ihm der Imperator MaximuS den für ihn selbst bestimmten Becher. Martinus nahm und trank und reichte ihn dann nicht dem Kaiser, wie es das Ceremoniell verlangte, sondern einem an der Tafel theiluehmcnden schlichten Presbyter, in dem er so die Kirche ehrte. Solche Züge mußten seine Popularität noch erhöben. Auch als Bischof entwickelte er oft einen ungemein glücklichen Humor. Es wird erzäklt, daß er einst, während er die Stunde des Gottesdienstes erwartete, einem Bedürftigen die Tunika gab, die er unter seinem Mantel trug. Al« ihn der Archidiakon zum Gottesdienste abholte, sagte MartinuS: »Zuerst muß der Arme bekleidet werden; ich kann nicht in die Kirche gehen, bevor der Arme sein Kleid erhalten hat." Aergerlich eilt der Geistliche, der keinen bedürftigen Armen zur Stelle sieht, fort und kauft schnell eine schleckte Tunika: „da hast Du das Kleid, aber der Arme ist nickt hier." Aber al« der Bischof in die Kirche trat, da sah ibn die stauncndc Gemeinde selbst mit dem rauhen Mantel bekleidet. Sein Wandel hatte ihm schon bei Lebzeiten den Nus eines Heiligen und Wundertbäters verschafft, und als sein Leben zur Neige ging, erhob sich um ibn „lauter unermeßlicher Jammer." Aber Martinus blieb sich auch in TodeSnötben gleich in seiner Heiterkeit und seiner stillen Milde. Er saö beständig zum Himmel auf. Die Brüder wollten, um ihm Erleichterung zu schaffen, seine Lage verändern; er aber bat sie, ihn dock in den Himmel blicken zu lassen, wohin sein Geist eingehen sollte. In seinen letzten Phantasien sah er den Teufel am Fußende seines Bettes stehen. Da sprach er: „Was stehst Du hier, Du Unthier? Du hast keinen Tbcil an mir." Dies kräftige Wörtlei» bat seinem Namensgenosscn, Martin Luther, stets besonders gefallen. lieber seinem Grabe aber erhob sich unermeßlicher Ruhm. In Tours errichtete man ihm ein schönes Mal, zu dem bald die Frommen in Hellen Schaaren pilgerten. Er wurde der Schutzpatron von ganz Frankreich. Seine c-aps (Kutte hingen die fränkischen Könige als größtes Heiligtbum in ihrem Palaste auf und ließen sie im Kriege voranlragen; sie gab allen „Capellen" fortab den Namen. Einen Beleidiger seines Grabmals erschlug König Chlodwig, weil er ihm den Sieg verscherze. Noch König Ludwig XI. ließ sein Grab mit einem silbernen Gitter im Werthe von 6778 umgeben. Aber seinen schönsten Rubm gewann er im Volke, dem er ent stammte. Es fühlte instinctiv in diesem Heiligen seinen echt en Sohn, seine schlichte Art, seinen fröhlichen Sinn, und eS machte ihn darum zu seinem Lieblingsheiligen. Der Fähr mann, der zu Epiphanias keinen Schluck zu trinken hatte, rief ihn an, und Sanct Martin warf ihm einen Fisch ins Boot, aus dessen Verkauf er Geld zu Wein löste. Der Reitersmanu sah in dem frommen Kriegsknecht aus Panno < nien seinen eigentlichen Patron. Die Bettler beteten zu dem freundlichsten aller Spender. Und als im Volksgcmntb die heidnische» Gewohnheiten allmählich abstarben und das alt aermamsche Winter Ernte-Opfer keine rechte Wurzel mehr im Volksleben hatte, da bot sich Sanct Marlin als willkommener Ersatz. Und sie weihten ihm den Tag und machten ibn zum freundlichen Schützer der Genüsse und volksthümlichen Freuden, die sich an da« Ernteopfer anschloffen. So kam Sanct Martin aus Pannonien zu seinem Tage und die GanS wird fröhlich verspeist zum Angedenken an den, der der Bedürfr.iß- losigkeit im Abendlande die erste Stätte weihte.
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