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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 21.11.1896
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1896-11-21
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18961121020
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1896112102
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1896112102
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1896
- Monat1896-11
- Tag1896-11-21
- Monat1896-11
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Handelt es sich doch weniger darum, ob man in Frankreich damals einen infamen Justizmord begangen hat, als darum, ob der Angeklagte wegen verrätherischcr Beziehungen zur deutschen Botschaft verurtheilt worden ist, obwohl diese Be ziehungen deutscherseits ganz energisch in Abrede gestellt worden sind. Auf der deutschen Botschaft ist man, wie ich aus ganz zuverlässiger Quells, weiß, von der Unschuld des Hauptmanns Dreysus überzeugt, und ebenso ist man es in der deutschen Kolonie. Einige meiner College» haben deshalb einen wahren Preßfeldzug eröffnet, der die deutsche Negierung zu einer Erklärung veranlassen soll. Ich habe mich ihnen nicht angeschlossen. Nicht, daß ich mich vor ähnlichen Be schimpfungen gefürchtet hätte, wie sie einem von ihnen durch ein berüchtigte- Hetzblatt zu Tbcil geworden sind. Aber einerseits wollte ich nicht urtheilen, ohne mich ganz genau nnlerrichtet, ohne insbesondere die Broschüre des Schrift stellers Bernard Lazare eingehend studirt zu haben, und dann war doch die, wenn auch nur sehr geringe Hoffnung vorhanden, daß die Behandlung der Frage im Parlament wenigstens einen leisen Schimmer von Klarheit verbreiten würde. Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Die Sache lag kurz zusammengefaßt so: Im vergangenen Sommer wurde durch eine englische Zeitung die Nachricht verbreitet, der Hauptmann Dreyfus sei entkommen. Sie be stätigte sich nicht, aber die Angelegenheit war dadurch wieder auf die Tagesordnung gesetzt und die alten Zweisel, ob der Vcrurtheilte schuldig oder unschuldig sei, tauchten wieder auf. Um sie Zu entkräften, veröffentlichte am 15. September der „Eclair" einen langen, großes Aufsehen er regenden Artikel mit den „unumstößlichen Beweisen" für die Schuld. Diese Beweise bestanden in zwei Schrift stücken. Da» erste war ein angeblich von der eigenen Hand des BerrätherS geschriebenes, aus dem Papierkorb der deutschen Botschaft gestohlenes Verzeichniß von geheimen Aktenstücken, die er an die deutsche Negierung ausgeliefert haben sollte. Drei Sachverständige hatten es als von seiner Hand herrührend bezeichnet, zwei hatten Bedenken geäußert. Das zweite war ein aufgefangener Brief des deutschen Militairbevollmächtigten an leinen College» in Rom, in dem die Rede von einem „animal cks v. war, der zu unverschämt würde. Dieser Bries war nach der Behauptung deS „Eclair" auS politischen Gründen weder dem Angeklagten noch seinem Vertheidiger, sondern ausschließlich den Richtern vorgelegt worden, und auch dies gegen den ausdrücklichen Wunsch des Ministers des Auswärtigen. Es handelte sich also zunächst darum: Beruhten die Enthüllungen deS „Eclair" auf Wahrheit oder nicht? Waren sie falsch, so war das Mindeste, waS man erwarten durfte, ein formelles Dementi der Regierung, waren sie richtig, so mußte gegen den Urheber dieses beispiellosen Vertrauensbruches vorgegangen werden, den man ohne Schwierigkeiten hätte ausfindig machen können. KeknS von beiden geschah. Danach blieben nur noch zwei Möglich keiten: Entweder die Enthüllungen waren mit Wissen und Willen der Regierung geschehen, oder aber die Negierung konnte nicht einschreiten. Letzteres war nur zu wahr scheinlich. Denn nach der osficiellen Erklärung, die man seiner Zeit auf Drängen deS deutschen Botschafters, Grafen Münster, hatte veröffentlichen müsse», daß keine fremde Bot schaft bei der Angelegenheit betheiligt sei, befand sie sich in einer höchst unangenehmen Lage. Jedenfalls wurden fortan die Enthüllungen als authentisch betrachtet und von allen Seiten als Grundlage für die weiteren Erörterungen benutzt. Allein nun hat Bernard Lazare in seiner Broschüre dargelegt, daß bezüglich des ersten Schriftstückes die Verfasserschaft des Capitains Dreyfus nicht nur höchst unwahrscheinlich, sondern aus verschiedenen Gründen direct unmöglich und daß die Auffindun^sgeshickte gänzlich unglaubhaft fei; sowie daß zweitens die csache mit dem nur den Richtern, nicht auch dem Vertheidiger vorgeleglen Briefe, wenn sie wirklich wahr sei, nichts beweise und überdies allen Begriffen von Recht und Gerechtigkeit Hohn spräche. Nach der Broschüre Lazare's ist für jeden unbefangen Urtheilenden der angebliche Verräther unschuldig, unschuldig mindestens, wenn wirklich keine weiteren Beweise vorgelegen haben. Die gestrige Kammersitzung hat an dieser Lage der Dinge nicht das Geringste geändert. Sie war von Anfang bis zu Ende eine einzige große Komödie. Nicht ein Abgeordneter hat es gewagt, auch nur den leisesten Zweifel an der Schuld des Verurlheilten zu äußern, keiner war tapfer genug, gegen den Strom der öffentlichen Meinung zu schwimmen. Im Gegentheil: Zeder beeilte sich, zu Beginn seiner Rede zu ver sichern, daß er voll und ganz von der Rechtmäßigkeit des Urtbeilssprnches überzeugt sei und daß kein Mensch eine Revision deS Processes herbeiführen könne. Es war wirklich rührend, Regierung, Rechte und Linke in so inniger Uebereinstimmung zu sehen. Angeblich handelte es sich bei der Interpellation des Herrn Castelin darum, die Regierung zu energischem Einschreiten gegen die Complicen und Vertheidiger von Dreysus zu veranlassen und „somit dem schändlichen Feldzüge zu Gunsten eines Verräthers ein Ende zu macken". Nun, eine Kammersitzung über einen Gegenstand abzubalten, den nian aus der Welt schaffen will, das ist doch beinahe so wie ins Wasser springen, um sich vor dem Regen zu schützen. Zn Wirklichkeit war das auch gewiß nicht die Absicht der Inter pellanten und seiner Freunde. Warum auch! Ueber die Affaire DrcyfuS lassen sich noch so viele hübsche und einträg liche Artikel schreiben. Nein. Vor Allem wollte man dem Lande wieder einmal eine hübsche Vorstellung in Patriotismus geben. Dann hatte man Las Gefühl gehabt, daß im Volke doch nach und nach Zweifel an der Schuld deS Verurlheilten sich verbreiten könnten,und dagegen warein einmüthigerKammer- beschlnß ein czuteS Vorbeugungsmittel. Und endlich wollte man die Minister ärgern. Das Letzte ist trefflich gelungen. Die Minister haben gestern eine klägliche Rolle gespielt. Noch bevor Herr Castelin die Rednertribüne betreten hatte, verlas der Kriegs minister, der übrigens in den Gesichtszügen eine gewisse Aehn- lichkeit mit dem Grafen Caprivi hat, eine Erklärung, worin die Kammer gebeten wurde, von der Debatte abzustehen wegen der unangenehmen Folgen, die daraus entstehen könnten. Was man darunter zu verstehen batte, war klar. Aber die Angst war gänzlich unbegründet. Die Leute sind so gut dressirt, daß auch nicht die leiseste Andeutung über Deutschland fiel. Bei jeder anderen Angelegenheit hätte man dem Ministerium in nicht mißzuverstehender Weise seine Unzufriedenheit zu er kennen gegeben, aber dann wäre doch eine Disharmonie in so. Jahrgang Sonnabend den 21. November 1896. Die in dem Stande Zurückgebliebenen sind wohl sammt und sonders überzeugt, daß durch sein Ausscheiden das Ansehen des Standes nickt gelitten habe. Nack Annahme deS An trages auf daS ZeugnißderweigerungSrecht in den Fällen, in denen der verantwortliche Rebacleur als Thäter bestraft wird, trat das HauS noch in die Berathung über die Möglichkeit, die Meineide durch Nichtvereidigung unglaubwürdiger und unerheblicher Zeugen zu verringern, ein. Da aber in dieser Hinsicht verschiedene Anträge vorliegen und die Debatte auch über diesen Punct umfangreich zu werden verspricht, wurde die Debatte bald vertagt. Wenn Alles gut geht, hofft man etwa am Dienstag die zweite Lesung der Iustiznovelle zu Ende führen zu können. Daß der VundeSrath eine eifrige Thätigkeit entfaltet, um den Reichstag nicht auf neues Arbeitsmaterial warten zu lassen, muß anerkannt werden; gleichwohl kann man nickt umhin, die Erwartung auszusprechen, daß er baldigst Zeit finden werde, die ibm infolge früherer Reichstagsbeschlüsse noch obliegende Verpflichtung zu erfüllen, sich über diejenigen Geschäfts- und Gewerbezweige zu einigen, denen auch nach dem 1. Januar 1897 das Besuchen von Privatleuten durch Reisende zum Zwecke der Auf forderung zu Bestellungen gestattet sein soll. Es ist, wie die „Köln. Ztg." mit Recht bemerkt, höchst wünsckenS- wertb, daß mit der Veröffentlichung der betreffenden Ver ordnungen nicht länger gezögert werde, da viele Personen ihre geschäftlichen Entschließungen von dem Inhalte derselben abhängig macken müssen. So ist es für Kaufleute Un möglich, den Reisenden rechtzeitig zu kündigen, wenn der Bundesrath mit der Bekanntmachung noch länger zögert. Die Kündigungsfrist beträgt sechs Wochen, sofern nicht durch Vereinbarung eine kürzere festgesetzt ist, sie könnte noch knapp gewährt werden, wenn die Veröffent lichung in den nächsten Tagen erfolgt. Soweit der BundrS- rath keine Ausnahme von dem Verbote des Aussuchens von Bestellungen und des Detailreisens genehmigt, werden zahl reiche Personeu nicht mehr beschäftigt werden können, sie müssen sich nach anderweitiger Anstellung Umsehen, und je kürzer die ihnen hierfür zur Verfügung gestellte Zeit, um so schwieriger die Aufgabe. Man sollte dies doch in Betracht ziehen und die Härten der UebergangSzeit zwischen dem bis herigen und dem künftigen Recht nicht ohne Noth noch verschärfen. Schon jetzt stehl fest, daß daS Inkrafttreten der Novelle zu der Gewerbe-Ordnung für manche Geschäftszweige den Ueber- gang zu andern Verkehrs- und Betriebsformen notbwendig macht; um denselben rechtzeitig und ohne empfindliche Störung ihres Geschäftsgangs bewirken zu können, müssen sie doch vor Allem wissen, woran sie eigentlich sind. Es ist begreiflich, daß die betbeiligten Geschäftskreise über die Verzögerung recht ungehalten sind und darin einen gewissen Mangel an Rücksicht erblicken. Die Verzögerung ist um so auffallender, al« sie mit den Erklärungen nicht in Einklang steht, welche bei der Berathung der Novelle zu der Gewerbe-Ordnung im Reichstage abgegeben wurden. die schöne patriotische Feier gekommen. So kam man sich denn entgegen. Herr Castelin änderte e,n,ge Worte mZe.ner nickt aggressiven aber doch cm wenig, unbequemen Lages ordnung, das Ministerium verzichtete aus die einfache ^ages- ordnung, und die Sache endete mit einer Art sauersüßen "^Und^so^blech^ denn Alles beim Alten. Bernard Lazare wird auf Kosten der Familie Dreyfus weitere Broschüren veröffentlichen, die Minister werden sich weiter interviewen lassen und die bei dem Proccß Betbeiligten weitere Ver- lrancnSbrüchc begeben. Und der Gefangene von der TenfelS- insel bleibt ein elender Verräther in den Augen der „Patrioten , ein Märtyrer in den Augen lcö Auslandes. Das Eine ist aus den gestrigen Verhandlungen klar hervorgegangen, daß man in Frankreich gewillt ist, diese geheimnißvolle «Sache m immer tieferes Dunkel zu hüllen. Politische Tagesschau. * Lei-jig, 2l. November. Die gestrige Sitzung des Reichstages bat wieder eine jener Sckeinniederlageu der Negierung gebracht, an denen die zweite Lesnng der Iustiznovelle so reich ist. Es handelte sich um die Frage des Zeugnißzwanges der Ne dacteure und anderer im Zeitungswesen beschäftigter Personen, um eine Frage also, deren Lösung schon in den siebziger Jahren hin und her geschwankt hat und auch jetzt wieder schwankt. Wie cs aber damals der Regierung gelang, die Festsetzung einer Ausnahmebestimmung für die im Zeitungswesen beschäftigten Personen zu Verbindern, und wie eS ibr kürzlich in der Commission glückte, so wird es ihr ebenso im Plenum bei der dritten Lesung und auch in Zukunft gelingen, so lange dem Unwesen der „Sitzredactcure" nicht ein Ende bereitet ist. Nach den Er klärungen, die gestern die Abgg. Rintelcn und Förster ab gaben, ist es zweifellos, daß der größte Theil des Centrums und die Antisemiten in der dritten Lesung dem festen Willen der Negierung, die Zeugnißverweigerung der Redakteure nicht zuzulassen, sich fügen werden. Auch von den Nationalliberalen dürften nur wenige dem Abg. v. Marquardsen folgen, weil sie nickt wie er auf dem Standpunkte stehen, daß eS nur ein Vortheil wäre,wenn die ganze Iustiznovelle scheitern würde. Nur die linke Seile des HauseS trat gestern mit voller Entschiedenheit für das Zeuanißverweigerungsrecht der Redacteure ein, weil eS für einen Mann von Edre nicht möglich sei, zu verratben, wer ihm vertrauliche Mittheilungen gemacht habe. Es müßten daher entweder Unschuldige büßen, oder die Presse würde nicht mehr ihrer Aufgabe gerecht werden können, weil man ihr nicht mehr wichtige Miltbeilungen machen würde, bei denen man Gefahr liefe, bestraft zu werden. Die Regierungsvertreter und mit ihnen der Abg. v. Buchka stellten sich auf den Stand- punct, daß die Bewilligung eines AusnahmerechteS für die Presse eine zweckentsprechende Verfolgung strafbarer Hand lungen zur Unmöglichkeit machen würde. Das Recht der Aerzte, Geistlichen und Anwälte, ihr Zeugniß zu verweigern, beruhe auf ihrem Berufe und könne nicht zur Gewährung eines gleichen Rechtes für die Presse herangezogen werden. Es muß anerkannt werden, daß die Berathung in dem wiederum recht schwach besetzten Hause im Allgemeinen recht ruhig und sachlich geführt wurde, ausgenommen natürlich den Abg. Stadthagen, der sich keine Gelegenheit entgehen läßt, den Zuristenstand, dem er früher angehört hat, herabzusetzen. In Oesterreich vollzieht sich unter den Auspicien des polnisch-klerikalen Ministerpräsidenten Badeni eine neue Parteigruppirung, welche geeignet ist, der ohnehin schon er- l stärkten Reaction weiteren Vorschub zu leisten und das ! Teutschtbum noch fester an die Wand zu drücken: I der Zusammenschluß der aus der Curie der Groß- Fenrllstsir. i4) Hans Jürgen. Roman von Hedda v. Schmid. Nachdruck vndotni. Das Lied hatte stets trübe Erinnerungen in ihm wack- gerufen, darum hatte sie eS vermieden, aber heute es zu singen, lagen ihr die Worte desselben auf den Lippen unv bald anschwellend, bald leise yerballend, schwebten die glocken hellen Töne des prachtvollen Soprans durch den Saal. Als Irma daS Lied beendet, erhob sie sich schnell und schloß den Flügel. Diesmal vergaß HanS Jürgen nicht, ihr zu danken. „Wo haben Sie diese Melodie her, wo die Worte zu derselben?" fragte er dann. „Es ist ein sehr altes Lied", erwiderte Irma träumerisch. HanS Jürgen verbrachte den Abend in Hohenort, spielte mit dem Baron Schach und war von einer so hinreißenden Liebenswürdiakeit, daß seine Schwiegermutter ihm bereitwillig das Steckenpferd verzieh. „Er ist und bleibt doch ein prächtiger Mensch", äußerte sie nachher zu Irma, „warum nur war Margaret eia so kurzes Glück an seiner Seite beschieven." Hortense war während der Heimfahrt nach Allersberg wieder einsilbig wie gewöhnlich, aber eine gewiße nervös« Unruhe schien sie zu beherrschen; bald zerrte sie an ihren Hanvschuhen, bald nestelte sie an ihrem Schleier oder zog ihren kostbaren Pelz fester um sich. Ellen zweifelte nicht im Geringsten daran, daß sie in Hortense eine Nebenbuhlerin besaß, doch — Ellen lächelte spöttisch bei dem Gedanken — Hortense mit ihrem nichts sagenden Aeußeren konnte ihren Plänen nicht gefährlich werden, HanS Jürgen besaß einen ausgeprägten Schönheits sinn, davon war sie überzeugt. Vor zwei Jahren hatte sie um HanS Jürgen geschluchzt mit der Verzweiflung eines jungen Herzens, das seine erste Liebe ins Grab sinken sieht. Diese Liebe jedoch war nicht gestorben, sie war mit den Jahren gereift und jetzt liebte Ellen mit der zähen Beharrlichkeit, deren ein Frauen herz, da» sein Ziel erreichen will — um jeden Preis — fähig ist. * * * Schloß Allersberg besaß in hobem Maße die geeigneten Räumlichkeiten zur Veranstaltung eines großen Festes. Ellen batte die Dekoration des Tanzsaales unter ihrer specicllen Leitung Herstellen lassen, sie überwachte auch das Arrangement der Buffets im Speisesaal und wählte mit dem Koch zusammen das Menu. Herr v. Saliday, der in all' diesen Angelegenheiten um seine, den Ausschlag gebende Meinung befragt wurde, zeigte sich von Ellen's Gesckmack und Geschick hoch entzückt. „Sie besitzen in der Tbat ein bedeutendes Organisations talent, Fräulein Ellen", sagte er bewundernd, und in Ge danken bedauerte er, daß das Schicksal diese in jeder Hinsicht so vollkommene junge Dame auf eine so niedrige Staffel im gesellschaftlichen Leben gestellt. Als Ellen am Ballabend durch die zum Empfang der Gäste zum Tbeil schon festlich erleuchteten Räume schritt, als vor ihren Blicken die edlen Weine in den geschliffenen Caraffen auf den kostbaren Credenzen im Speisesaal schimmerten und auS den silbernen Cbampagnerkühlern die schlanken Hälse der Sectflaschen hervorsahen, als in den beiden kleinen Gesell schaftszimmern die rosa Ampeln ihren geheimnißvolle» ver schleierten Schimmer auf die mattgraue und blaßrosa Seide der Möbelüberzüge warfen, als in dem mit Pflanrengruppen auf daS Geschmackvollste decorirten Tanzsaal ein Lichtermeer an den Wänden ausflammte und die beiden rosigen Kron leuchter ihre Strahlen verschwenderisch herabsandten, da hob ein stolze» Gefühl Ellen'S Brust. Diese überaus geschickt« Zusammenstellung der Pracht, welche sie umgab, war ihr Werk, und doch mußte sie heute am Festabend bescheiden im Hintergründe stehen, sie, die dazu geschaffen schien, als Ballkönigin zu glänzen. Sie fühlte sich dazu berufen, sich auS ihrer jetzigen Stellung auf eine höhere Stufe empor zuschwingen. Sie besaß eine Feuerseele, einen rastlos arbeitenden Geist, sie vertraute ihrer Klugheit und ihrem Geschick. Wenn sie einst an HanS Jürgen'« Seite stände, was könnte sie dann, vereint mit ihm, nicht erreichen? HanS Jürgen brauchte eine Gefährtin wie sie. Damals in Nüsternboff batte er ibr, dem eben erblühenden Mädchen, gehuldigt, nun, da ihre Schönheit sich voll entfaltet, mußte dieselbe seinen Blick dauernd auf sich lenken. Und wenn Han» Jürgen sie, Ellen, liebte, so würde ihm der Umstand, daß sie eine Bürgerliche war, kein Hindrrniß sein, sie zu seiner Frau zu machen. Er war nicht der Mann, der sich durch kleinliche Vorurtheile beeinflussrn ließ, er nahm sich sein Glück mit rascher Hand, da, wo er eS zu finden glaubte, er trotzte sicherlich allen StandcSvorurtheilen. Ellen blieb vor einem der hohen Pfeilerspiegel, welcher ihre Gestalt in ihrer vollen Größe wiedergab, stehen. Der weiche feine Stoff ihres weißen Wollkleides schmiegte sich tadellos um ihre herrlichen Formen; in ihrer ganzen Er- ckeinung lag etwas Frauenhaftes, waS ibr einen besonderen Reiz verlieh. DaS elfenbeinschimmernde Weiß ihrer Toilette contrastirte vortheilhaft mit dem tiefen Schwarz ihrer Augen und ihres Haares und ihre Lippen batten dieselbe Farbe wie die Rosen, welche in lässiger, graziöser Weise am Halsaus schnitt ihres KleiteS befestigt waren. Mit einem sich steigernden Gefühl der Befriedigung und Genugtbuung seyte Ellen ihren Rundgang durch die Gesell- schaftSräume fort, hier und da der Dienerschaft noch einige Instructionen ertbeilend. Kurre Zeit darauf begannen die Schlitten der Gäste vorzufahren, die Damen begaben stch in die zu ebener Erde im linken Sckloßflügel befindlichen Gastzimmer, um dort ihre Winterhüllen avzulegcn und ihre Toiletten und Fri suren in Ordnung zu bringen. Dann stiegen sie an der Seite ihrer Gatten, Väter, Brüder oder Söhne die breite blumengeschmückte Treppe hinan, welche in die Gesellschafts raume führte. Hortense, in hellblauer Seide, mit Maßliebchen an der ^rust und im Haar, begrüßte, neben ihrem Vater stebend, die Ankommenden. Ellen hielt sich, ihrer Stellung gemäß, im Hintergründe und widmete sich den Ballmüttern, welche sie in Folge dessen für eine „ganz nette, bescheidene Person" erklärten. Ellen vernahm einen dieser ihr herablassend gezollten Lobsprüche und ein Blitz auS ihren nachtsckwarzen Augen zuckte zu der Sprecherin hinüber. „Wartet nur, die „nette, bescheidene Person" wird Euch noch Manches zu rathen aufaeben und Ihr werdet eS Euch noch einmal al» Ehre anrechnen, von ihr empfangen zu werden", schwoll eS in ibr auf. Die Damen behandelten Ellen mit herablassendem Wohl- wollen, aber die Herren würden diese seltene Blume nicht übersehen, wenn sie auch im Verborgenen blüthe. Jetzt trat die Baronin Hobenort mit Irma rin. Es war zum ersten Mal seit Margaret'« Tode, daß sie eine größere Gesellschaft besuchte, sie glaubte eS Irma schuldig zu sein, diese in die Welt einzusühren. Es war die höchste Zeit, daß Irma da« GesellschaftSleben kennen lernte, besonders deshalb, da für sie viel davon ab- bing, sich vor ihrem einundzwanzigsten Iabr zu verheiratbcn. Die Baronin war zu gerecht, um etwa zum Vortheil Hans Iürgen'S gegen eine Heiratb Irma's zu conspiriren. Hans Jürgen war allerdings der Vater ihres Enkels, aber letzterer erhielt ja dereinst Hohenort und Lommerdshoff und Irma war ihre, ihr so tbeuer gewordene Pflegetochter; ihr, der Waise, mußte daS Erbe gesichert werden. Besonders günstig erschien der Baronin der Umstand, daß Irma's Eintritt in die Gesellschaft im Hause Ihres OheimS geschah. Man wußte natürlich bereits allgemein, daß Irma zu den Saliday in verwandtschaftlichen Beziehungen stand, dieses verlieh ihrem Auftreten in der Welt einen gewissen Halt. Sie schien eine» solchen übrigens gar nicht zu bedürfen, denn man näherte sich ihr tbeils auS Neugierde, theils weil sie die Pflegetochter der allgemein hochgeschätzten Hoben- orts war, oder auch, da man in ihr eine zukünftige Erbin erblickte. Die Wenigen, welche sie bereits näber kannten, waren ihr um ihrer selbst willen freundlich gesinnt. Zu diesen letzteren gekörten in erster Linie die Ingcr? Heims. Frau v. Zngersheim drückte einen mütterlichen Kuß auf Irma's Stirn, Herr v. IngerSbeim begrüßte sie mir einem Scherzwort und Harald bat um den Cotillon. Die Baronin, als sie das junge Paar betrachtete, hatte ihre be sonderen Gedanken dabei, sie lächelte befriedigt und tauschte einen vrrständnißinnigen Blick mit Frau v. IngerSbeim. „Ach, wenn mein Harald nur etwas mehr Tonrnüre be säße", seufzte diese innerlich, als sie sah, wie ungeschickt ibr Sohn Walzer tanzte. „Und er war doch ein so reizend graciöseS Kind." In Wirklichkeit war Harald stets ein kleiner nngeleckter Bär gewesen, allein die Mutterliebe pflegt gewöhnlich blind zu sein. Doch mit seinen ehrlichen blauen Augen und seinem hübschen offenen GesichtSauSdruck war er trotz seiner Unge- scklachtheit und trotz jeglichen AbhandenseinS von Gracie eine sympathische Erscheinung, die sick allerdings in der Iagdjoppe vortheilhafter auSuahm als im Frack. Franz Lenningen tanzte reu Cotillon mit Hortense, er hätte freilich viel lieber Emmi Stramin engagiert, allein es schmeichelte seiner Eigenliebe, überall Vorlänzer zu sein, und deshalb wählte er aus HauSbäüen stets dir Haustochter zu seiner Partnerin im Cotillon. Er sand übrigen«, daß Hortense heute wider Erwarten nicht so abschreckend häßlich auSsah; da« Helle Blau kleidete
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