01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 23.11.1896
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1896-11-23
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18961123012
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1896112301
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1896112301
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1896
- Monat1896-11
- Tag1896-11-23
- Monat1896-11
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Die Morgen-Au? gäbe erscheint um '/r? Uhr. die Abend-Ausgabe Wochentags um 5 Uhr. Re-action und Expedition: JohanneSgafle 8. Die Expedition ist Wochentags ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis Abends 7 Uhr. " Filialen: ktto Klemm'- Gortim. (Alfred Hahn), UniversitStsstraße 3 (Paulinum), Louis Lösche, Katharinenstr. 14, Part, und Königsplatz 7. VezugS-PreiS I» der Hauptexpedition oder den im Stadt- bezirk mrd den Vororten errichteten Aus gabestellen ab geholt: vierteljährlich 4.50, bet zweimaliger täglicher Zustellung ins HanS 5.50. Durch die Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: vierteljährlich ^l 6.—. Direkte tägliche Kreuzbandiendung ins Ausland: monatlich 7.50. Morgen-Ausgabe. K'tiWgcr TagrblM Anzeiger. ÄmlsUatt -es Königlichen Land- im- Amtsgerichtes Leipzig, -es Ruthes und Volizei-Ämtes -er Lta-t Leipzig. StuzergeuPreW Lgespattme Petitzeile SS Pfg. Reklamen unter dem RedactionSstrich (-ge spalten) 50 zH, vor den Familiennachrichten (8 gespalten) 40 z^. Größere Schriften laut unserem Preis- verzeichniß. Tabellarischer und Zifferniatz nach höherem Tarif. Gxtra-Beilagen (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbesörderung 60.—, mit Postbesörderung 70.—. ^anahmeschlnß für Anzeigen: Abend-AuSgabe: vormittags 10 Uhr. Morge n-AuSgabe: Nachmittags 4 Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde froher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Truck und Verlag von E. Polz kn Leipzig. 595. Montag den 23. November 1896. 9V. Jahrgang. Amtliche^Thell. Bekanntmachung. In dem Konkursverfahren über den Nachlaß des Klempner meisters Carl Adolf Rudolph in Leipzig soll die Schlußvertheilung vorgenommen werden. Der verfügbare Massebestand beträgt — ungerechnet die Zinsen der Hinterlegungsstelle — 1697 56 zH. Hiervon sind die Kosten und die bevorrechtigten Forderungen im Betrage von 6 ./L 68 zH zu decken. Der Rest ist auf die nichtbevorrechtigten Forderungen im Gesammtbetrage von 9360 95 zg zu Vertheilen. Leipzig, den 21. November 1896. Der Konkursverwalter. Rechtsanwalt vr. Conrad Junck. Episoden aus der Völkerschlacht bei Leipzig. Nach Berichten von Augenzeugen. VII. Reichliche und zuverlässige Nachrichten über die Einzel heiten des großen Völkerkampfes im Nordwesten und Norden Leipzigs haben auch die Einwohner dieser Ortschaften hinter lassen. Besonders interessant ist der Bericht deö Schmiede meisters zu Wahren. Wir geben diese Berichte in der Sprache des einfachen Mannes wieder, ungeschminkt, aber naturwabr. Ueber Aork's und Blücher'S Anwesenheit in Wahren läßt er sich folgender maßen vernehmen: „Dork vor der Schmiede zu Wahren ist zu Pferde, als er hat eben absteigen wollen, in größter Lebensgefahr gewesen, indem eine Kanonenkugel neben ihm vorüber in die Schmiede geschlagen ist. Der alte General Feldmarschall Blücher, das weiß ich, hat mit ihm vor der Schmiede gehalten und Beiden hat die Kugel gegolten. Die Kugel hat man noch lange unten am Fenster in der starken massiven Mauer gesehen. Es regnete aber auch Kugeln! Die Kanonen donnerten wie ein Erdbeben und stampfen ohne Pausen, wie die großen Oelstampfen in der Mühle stampfen — anders nicht! Hier in der Gasse auf der Morgenseite nach dem Möckernschen Schlachfelde hin, vor der Häujerreihe frei stunden die Schwarzen — die Todtenköpfe — schöne junge Leute, schwarz von Kopf bis zu den Füßen und alle feierlich ernsthaft, daß man wohl sähe, es ging in die Schlacht. Was machten sie sich aber auö dem Tode — sie fürchteten sich vor dem Teufel nicht, geschweige denn vor die Kanonen und die Franzosen, die sie wie die Hasen über die Felber geggten. Die Blessirten brachten sie herein in die Häuser — und nun lagen sie da, daß einem die Sinne vergingen und das Herz hätte im Leibe verzagen können! Und doch — eS war lustig mit anzuhören, wenn man die preußischen Frei willigen unter einander sprechen hörte, wie sie Tod und Sterben höhnten und über ihre Wunden scherzten! Nie ver gesse ich einen, der in unserer Stube lag, dem zwei Kugeln ins Bein das Bein zerschmettert hatten, das nun dick an geschwollen war. Er war immer heiter und scherzte dabei und rief einem anderen Blessirten zu: „Bruder, mein Bem da! Die Weißen Blasen da, die woll'n mir gar nicht ge fallen!" Ich sagte ihm, er solle sich doch lieber legen, da erwiderte er: „O nein! wenn ich mich lege, so schwillt mir der Leib und ich komme nicht auf!" Die oben erwähnte Kugel haben die Kinder nach und nach aus der Wand geklopft, doch war sie im Jahre 18-16 noch vorhanden, und wollte sie in diesem Jahre der Nach folger des alten Schmiedemeisters wieder befestigen lassen und eine Tafel darüber, auf der sollte der Wanderer folgende Verse deö Schmiedes lesen: Dork und Blücher den 16. October 1813. „Hier vor der Thür — Stund Dork allhier — Dort stunden die Franzosen — Und haben nach ihm geschossen. — Die Kugel sagt es klar und frei — Daß Dork und Blücher hier gewesen sei. — Auch hat der Dork die ganze Nacht — Allhier geschlafen und gewacht — Wär' nicht die Nacht da zwischen kommen, — Ich muß die Wahrheit sagen, — Er hätte sie alle erschlagen — Sie alle gefangen genommen." Ein anderer Einwohner von Wahren, mit Namen Anton, der die Schlacht in Wahren erlebte, berichtet über seine Er lebnisse am 16. October wie folgt: „Am 16. October fällten die Franzosen Bäume und Weiden, fuhren und schoben die Wagen zusammen, bauetcn eine ordentliche Wagenburg und versperrten die Wege. Nichts als Himmel und Menschen, wohin man sah, als wir den Thurm bestiegen und nachsahen. Drei verschanzte französische Batterien standen nach Linden thal bin, zwölf Kanonen in dem Buschwerk an der Rietzschke und feuerten auf Lindenthal und Lützschena. Die Franzosen gaben uns den Rath: „Leute! Ihr thut am Besten, ihr macht euch davon!" Vor dem Möckern'schen Gasthofe, wo etwa 200 Schritte von der Straße der Franzosen ihre Hauptbatterie stand, welche die Preußen genommen, lag eine erschreckliche Menge Menschen. Den Meisten, die dort gefallen waren, waren die Kugeln durch die Köpfe gegangen. Das waren Preußen; denn die Franzosen schossen auf der Höhe! —Und dennoch — ungeheuer schnell gingen die Preußen vorwärts. In aller Angst, in welcher wir waren, vergesse ich meine Frau nicht. Ein beherztes Weib, wie sie war, hatte sie noch am Sonnabend Morgen Brod zu Markte getragen rind kam auS der Stadt Nachmittags drei Uhr in währender Schlacht zu uns ins Holz, im währenden völligen Feuer und gräß lichstem Kanonendonner. Mit tausend Schrecken sah ich sie kommen! Es war ihr um die Kinder! Sie konnte nicht in der Stadt bleiben. ES wußte ja auch Niemand in der Welt, daß die Preußen so schnell da waren. In währendem völligen Kleingewehrfeuer war sie von Leipzig bis an den Gohliser Teich mitten durch die Franzosen gegangen, und die hatten sie sammt ihrem Brode und Gelde bin und her dnrckgelassen, ohne sie anznrühren, und vom Gohliser Teicke war sie mitten im völligen Feuer, daß die Kugeln in die Bäume einschlugcn und klatschten, durch sie hindurch gegangen, den richtigen Fuß steig am Möckernfchen Kirschberge die Wiesen hin, durch Oberländer's Garten durch. — Auch die schlesische Landwehr und die preußischen Freiwilligen hatten sie dnrchgelassen, ob sie gleich mitten durch sie mußte, gerade durch die Schußlinie und das Feuer — und obgleich die Bäume in Stücken flogen von den Kartätschen und die Leute um sie her stürzten. Sie blieb aber freilich auch nicht stehen, noch sähe sie sich um, wie Lotb'S Weib, sondern lief, was sie konnte, nach ihren Kindern. Des Abends mußten wir wieder ins Dorf und die Todten begraben auf dem blutigen Schlacht- und SiegeS- selde. Der alle Blücher kam selbigen Abends noch spät ins Dorf. Hartmann, Walther und ich mußten vor ihn kommen und wurden beordert, für die Blessirten zu sorgen und die Todten zu begraben. Blücker war in der mittleren Etage von Heinrich's Hause in Wahren. Unten lagen schwer blessirte Preußen, die Dielen voll Blut. Mir wurde ganz übel, nnd ich verlangte ein Stück Brod. Ich mußte vor den alten Blücher kommen. Er schnauzte mich derb an: „Ihr Leute! wo soll jetzt Brod Herkommen?" Die Antwort ver stand sich von selber und ich schwieg stille. Blücher: „Da hast Tu Gelv!" Anton: „Das kann mir nichts helfen!" So kriegt ich denn ein Stück Brod nnd war froh, daß ich cs hatte!" Die Schreckeustage von Stahmeln bat der damalige Ortsrichter unter dem Titel „Nachrichten im Tagebuche der Gemeine Stahmeln vom Jahre Dreizehn" geschildert und so zuverlässige Nachrichten der Nachwelt über liefert. Das Tagebuch beginnt: „Das Jahr 1813 war für die hiesige Gemeine eines der merkwürdigsten, weil in diesen Tagen durch die große Völkerschlacht bei Leipzig auch schon einige Jahre vorher, durch die immerwährende Einquartierung, Lieferungen, Coulributionen und anderer Kriegslasten, wir Nachbarn inSgesammt, diesen Druck auch noch späterhin fühlen werden." Ueber den 16. October speciell berichtet er: „Es war schon ziemlich Abend um die fünfte Stunde, da es dunkel wird, als etliche Brandenburger Husaren aus der Schlacht versprengt hierher kamen. Ueber und über voll Blut, wischten sie ihre Säbel und Pelze ab, an welchen dicht und fett die dicken Klunkern hingen und ihre Rosse troffen vom Blut, als kämen sie auS der Schwemme oder hätten die Kelter getreten. Sie waren kaum nur gekommen, als von Dorf zu Dörf und von Haus zu Haus starke Stimmen riefen: „Brandenburger Husaren! rauS!" — Und wie der Wind jagten, was Branden burger Husaren waren, auf und davon. Sie waren durch das allzustarke Feuer der Franzosen versprengt worden und sammelten sich wieder zur Schlacht. Auch andere leicht Blessirte von der Infanterie wurven aufgefordert und gingen wer irgend konnte. Sie rissen sich in den Tod und drängten sich, zu siegen oder zu sterben, — Blessuren waren ihnen zu gering und zu wenig!" Eines merkwürdigen Umstandes gedenkt auch des Ferneren der Ortsrichter von Stahmeln in seinem Berichte. Er er zählt: „Als die Franzosen mit Macht zurückgeworfen waren und weichen mußten, sprangen hier vor unseren Augen der preußische und französische commandirende Obrist oder General auf einander und sprechen eine lange Zeit mit einander sehr freundlich, umarmen sich brüderlich znm Ab schied und sprengt der französische Ossicier en eari-im-v zu feinem Regimente zurück, wahrend der preußische Ossicier noch lange stehen bleibt und dann wieder hinauf auf die Höhe zu seinen Leuten reitet." „Unser Dorf hatte nach einer allgemeinen Berechnung und officieller Eingabe 10 Stück Pferde, 28 Kühe, 38 Stück Schweine, 68 Stück Schafe, in Summa 234 Stück Vieh ver loren. Di» Kosaken, welche in den Hölzern herumschweiften, fanden Alles auf. Die Scheunen und Böden wurden völlig aus- und abgeleert und Wenige hatten das Glück, noch etwas ausweisen zn können. Endlich kam hierzu auch noch die Viehseuche, welche das Wahrener Rindvieh am meisten betraf. Unter den Einwohnern wüthete das Nervenfieber, es riß manchen unserer Freunde dahin, worunter auch unser Pastor Hammer." Ueber die Kriegsnoth, Plünderung, die blutige Wahl statt des gräßlicken Schlachtfeldes, die Todtenbegrabung und andere Einzelheiten berichtet der Ortsrichter Bergmann, der zur Zeit der Völkerschlacht seines Amtes als Richter in Linvcnthal waltete, Folgendes: „Wenn ihr morgen eure Häuser noch habt, könnt ihr froh sein", schrie mich ein Deutsch-Franzos an, als sich hier bei unserm Linkelwalde das Cavalleriegefechl erhob; trotzdem waren unsere Weiber, beherzt, wie sie waren, Sonnabend, den 16. October, früh noch zu Markte nach Leipzig gegangen, weil wir sicher waren, unsere Häuser zu behalten; denn die Franzosen hakten uns ganz erstaunlich ost belogen. Nun hörten wir bald mit unseren zwei Ohren, daß cs immer näher kam und donnerte und sollte bald losgehen. So rannten und liefen wir unseren Weibern entgegen und erfuhren unterwegs, daß sie in Möckern wären und sich nicht herüber getrauten. Die jubelten einmal, als wir kamen! Eine Jede nahm ihren Mann beim Kopse, als wäre, ich wüßte nicht was passirt, und hätten wir uns heute zum ersten Male. Viele Male wurden wir unterwegs angehalten, doch auf Fürsprache unseres Pastors Hammer kamen wir glücklich nach Lindenthal." Ein anderer Lindenthaler, mit Namen Milch, der schon die Schlacht bei Jena unter Blücher mitgemacht hatte und diesen auf dem Thurme zu Lindenthal, als er die Schlacht observirte, aufsuchte, berichtet über die Ereignisse um Linden thal her noch Folgendes: „Schon etliche Tage vor der Schlackt kam Napoleon auf seinem Schimmel in die „Ruhe" an der Tannenwald-Ecke zwischen Breitenfeld und Lindenthal und hielt Revue. Er konnte sich aber nicht lange halten; denn die Kosaken machten die Gegend schon unsicher und vor den „0o82gue8" batten die Franzosen Respect. Sie waren blitz schnell da und im Nu verschwunden. Am 16. stunden wir im Hofe und auf dem Hofraume deö Grunert'sckes Gutes in Breitenfeld und wollten eben Bier abladen, das ganze Dorf lag voll Franzosen, als ein Kosake mit einem mächtigen Hurrah en earriöro durch den Hof fetzt. Auch in der Gefangenschaft wußten sich die Kosaken zu helfen. Die Franzosen brachten einen Kosakenofficier gefangen geführt und dachten, sie hätten was Rechts, ließen ihm auch sein Pferd am Arme, weil er abgesessen war und zu Fuße ging. Eben deliberirten sie, was sie mit dem Ossicier wohl machen wollten, und eS schien nichts Gutes, als der Ossicier sich aufs Pferd schwang und hast du nicht gesehen: auf und davon. Einen anderen aber steckten sie schnell ein, oben in Die Kunst, zu sprechen. Bon vr. Anton Westphal. Nachdruck verboten. Nur ein Dichter, ein echter Dichter vermöchte das Glück zu beschreiben, das die Eltern empfinden, wenn das geliebte Kind zum ersten Male bestimmt articulirte Laute von sich giebt und „Pa—pa" oder „Ma—ma" stammelt. Und wenn cs dann allmählich fähig wird, seine jungen Gedanken in Worte zu kleiden, mit welchem Stolze werden die Freunde des HaufeS dann darauf aufmerksam gemacht, wie gut Lieschen oder HänSchen schon spreche! Und doch muß ich auf die Gefahr hin, den Unwillen der beglückten Mutter zu erregen, die Bcsorgniß ausdrücken, daß das Kind wahrscheinlich doch nicht gut sprechen wird. Ja, ich muß hinzufügen, daß die Eltern ihm voraussichtlich hierin nicht viel werden helfen können, weil auch sie der Kunst, zu sprechen, kaum mächtig sein dürften. Mit einem Worte: eS bandelt sich um einen bei unS weit verbreiteten und tief ein gewurzelten Mangel. Um Mißverständnisse zu vermeiden, möchte ich daran erinnern, daß ich nicht die grammatische Behandlung der Rede im Auge habe. Ich spreche vielmehr von der lautlichen Sprackbildung. Man kann grammatisch sehr correct und ganz dialektfrei reden und doch zugleich den Fehler haben, daß man nicht deutlich, nicht bygieinisch und nicht schön spricht. Wir thrilen diesen Mangel mit manchen anderen Nationen, z. B. den Engländern, während andere, wie die Franzosen und Italiener, uns in dieser Hinsicht wohl als Vorbilder dienen könnten. Von welcher Bedeutung aber die Kunst, zu sprechen, ist, da- erfährt ausnahmslos jeder Einzelne in seinem Leben, Biele leider zu spät und unter großen Nachtheilen. Ob Jemand deutlich oder verschwommen spricht, daö erleichtert oder erschwert den Verkehr mit ihm außerordentlich. Eine undeutliche Sprechweise erfordert ein viel größeres Maß an gespannter Aufmerksamkeit vom Zuhörer und erschöpft daher seine geistige und physische Kraft schneller. Davon wissen Leute, die berufsmäßig Versammlungen, Parlamente und dergl. mehr zu befuchen haben, ein Lied zu singen; das Zuhören und Verstehen ist für sie der schwerste Theil ihrer Arbeit. Für die Sprechenden aber ist eine mangelhafte Sprachausbildung erst recht vom Uebel. In zahlreichen Be rufen ist sie geradezu rin schweres Hinderniß des Fort kommen«; so in dem de- Prediger«, des RechtSanwaltS, deS WauderrednerS, de« Schauspieler« u. s. w. Ueberdie« ist diel hänfigrr, al« man anzunehmen geneigt ist, Schädigung der Gesundheit die Folge schlechten Sprechens. Die Laryn- gologen stimmen darin überein, daß auö dieser Quelle nicht allein eine große Anzahl acuter und chronischer Hals- und Kehlkopfkrankheiien, sondern auch die überaus weit verbreitete Empfindlichkeit und allgemein schlechte Disposition der er wähnten Organe stammen. Und worin besteht nun das Gebeimniß der Kunst, zu sprechen? Beobachten wir einen Italiener, wenn er mit fast unglaublicher Geschwindigkeit und trotzdem mit großer Deutlich keit spricht, so werden wir wahrnehmen, daß sein Mund viel mehr und viel intensivere Bewegungen macht, als der Deutsche in solchem Falle zu thun pflegt. Bald schiebt er die Lippen vor, bald zieht er sie in die Breite; bald rundet sich sein Mund, bald nimmt er die Form eines Rüssels an. Der Deutsche hingegen scheint es geradezu als besonders vornehm und correct anzusehen, Lippen und Mund möglichst wenig ru bewegen. Die Worte scheinen bei ihm förmlich widerwillig berauszufallen, während sie bei dem Welschen leicht und flüssig hrrvorquellen. Hierin liegt der ganze Unter- fchied zwischen deutlichem, gesundem, schönem und undeutlichem, ungesundem, häßlichem Sprechen. Die Eigenart jedes VocalS beruht darauf, daß er nur in einer bestimmten Stellung des Mundes klar gebildet werden kann. So bedarf das » eines offenen Mundes, der sich beim L noch erweitern muß. Ein u wird nur dann deutlich, wenn die tönende Luft durch den rüsseläbnlich geformten Mund gedrängt wird. Die Voraussetzung des i ist, daß die Lippen wie zum Lachen auSeinandergezogen werden, so daß die Zähne sichtbar sind. So einfach dies Gesetz ist, so rücksichtslos wird es bei unS in der Praxis mißachtet. Ta sich nämlich die Vocale so, daß sie allenfalls verständlich werden, auch bilden lassen, wenn man die zu ihrer Bildung erforderlichen Be wegungen nur andeutungsweise, sozusagen rudimentär macht, so begnügt man sich mit diesem Minimum. Der Rachtheil ist aber, daß die Verständlichkeit darunter unendlich leidet, was .sich am deutlichsten zeigt, wenn es sich um ähnlich lautende Worte handelt; Worte, wie Rock und Ruck, Obr und Uhr, sind in der Aussprache vieler Menschen kaum auseinander- zuhalten. Dazu kommen nun noch die Schwierigkeiten, die die Consonanten bereiten, Schwierigkeiten, die gerade bei unserer consonantenrcichen Sprache sehr i»S Gewicht fallen. und cd (wie in Lickt) werden oft kaum unterschieden. DaS r bat ein ganzes Sündenregister. Der Schlesier sprickt es fast gar nicht au«, so daß „Wurst" etwa ebenso wie „Wust" klingt; der Ost- und Norddeutsche giebt es durch das gutturale cb aus und spricht daher „warte" und „wachte" gleich aus, und nur ein Bruchtheil der Deutschen versucht auch nur ein deutliches und gesunde« r zu sprechen. Aehnlich geht e« mit d und v. Obwohl beide Laute auf ganz verschiedenen Vor aussetzungen beruhen — denn d wird von den beiden Lippen, v aber von der Oberlippe und den Unterzähuen gebildet —, so werden sie doch im Munde Vieler zu einem und dem selben verschwommenen Laute, jenem Laute, der als eine besondere Eigentbümlichkeit der spanischen Sprache angehört (Habana—Havana). Nimmt man zu diesen nnd zahlreichen ähnlichen Fehlern noch die Verschleifung der Worte ineinander, so ergiebt sich natürlich eine sehr störende Undeutlichkeit, während doch durch verbältnißmäßig einfache Mittel ein rationelles Sprechen erzielt werden kann. Die Voraussetzung hierfür freilich, die Voraussetzung für alles gute Sprechen überhaupt ist, daß man dem Laute erst die Möglichkeit giebt, aus dem Munde hinaus zu gelangen. Nichts scheint natürlicher, als daß man beim Sprechen Lippen und Zäbne so weit öffnet, daß Ton und Laut ihren natürlichen Weg finden; aber obwohl nur wenige Laute (b, p, I, «) bei ganz oder thcilweise geschlossenem Munde gebildet werben, so ist doch bei unS die ebenso un zweckmäßige, als meines Erachtens unhöfliche Sitte sehr weit verbreitet, den Mund beim Sprechen möglichst zu schließen. Dieser Fehler hat aber auch noch den Nachtbeil im Gefolge, daß er die Arbeit der Sprachbildung zum großen Theile nach „hinten" schiebt, d. h. dem Kehlkopf zumuthet, wodurch dies Organ überlastet, reizbar, trocken und schließlich entzündet oder wenigstens für Entzündungen leicht empfänglich wird, Gefahren, denen man entgeht, wenn man die Laute „vorn" bildet, also der Mundhöhle, den Lippen und Zähnen die ihnen natürliche Arbeit überläßt. ES macht dies bekannt lich den geradezu grundlegenden Unterschied zwischen guter und schlechter GcsangSschule auS; und so tief ist schleckte Sprechweise bei uns leider eingewurzelt, daß viele deutsche Gesangslehrer — im Gegensätze zur italienischen und fran zösischen Schule — den Ton nickt nach vorn zu ziehen ver stehen. Einzelne Künstler, wie Gura oder Amalie Joachim, bilden hierin allerdings glänzende Ausnahmen. Zu dieser obersten Regel tritt als zweiter Grundsatz: jeden Laut in der Stellung deS Mundes, der Zähne und Lippen zu formen, die ikm nöthig ist. Wer zum ersten Mal die Laute in dieser Weise zu bilden versucht, der kann gar komische Erfahrungen machen. Er kann entdecken, daß sein anscheinend unheilbares Lispeln nichts als eine Sprachlässig keit ist; er kann zu seiner Ueberrasckung wahrnehmen, daß er das schöne Land China nur niit einem 8ck am Anfänge zu sprechen im Stande ist. Diese und andere Fehler können aber überraschend schnell abgelegt werden, wenn mau die Laut- Hebungen eine Zeit lang in der Weise fortsetzt, daß man die Mundstellungen peinlich'beobachtet. Doch etwa« Weiteres ist noch zu erreichen. Die Einübung der einzelnen Laute kann nur zur Correctheit in ihrer Wiedergabe führen; die Kunst, zn sprechen, aber erfordert noch Geläufigkeit und Leichtigkeit in der Verbindung der Laute. Stellt man zu diesem Zwecke Hebungen in der Art an, daß man mehrere Vocale oder mehrere Consonanten zu einem Gebilde zusammenstellt und dies Gebilde schnell, wie ein Wort, zu sprechen versucht, so kommt man voraussichtlich zu der weiteren Entdeckung, daß die die Lippen in Bewegung setzenden Muskeln in sehr ge ringem Grade bewegungSsäbig sind. Woher sollten sie auch daS sein, da man sich um ihre Ausbildung nie bemüht bat! Ist man aber so weit, so befindet man sich auf gutem Wege. Bei fleißiger Fortsetzung der erwähnten Uebungcn werden die Muskeln geschmeidig; Mund und Lippen, die anfangs die Laute nur in forcirter Weise richtig bilden konnten, werden bald fähig, sie mit geringer Anstrengung zu formen, und so nähert man sich mehr und mehr dem Ergebniß, daß die Laute, ohne daß die verschiedenen Theile deS Mundes erheblich angestrengt werde», sich mühelos bilden und zu Worten zusammensügen, so daß sie leicht verständlich sind und doch kein Organ angreifcn. Dabei erreicht man zugleich den Vortbeil, daß man selbst bei geringem Stimmauswande auf weitere Entfernung ver stündlich wird, als ein schlechter Sprecher, selbst wenn er seine Stimmkraft cyklopisch gebraucht. So ermöglicht cs die Kunst, zu sprechen, mit weniger Kraft mehr zu erreichen und zugleich die Rede für den Zuhörer ungleich angenehmer zu machen. Bei unS wird leider die einfache, hier natürlich nur in den gröbsten Umrissen skizrirte Methode noch sehr wenig an gewandt. Wie überaus schlecht es selbst mit der Sprache unserer Schauspieler steht, daS ist ja seit lange eine bittere Klage der einsichtigen Kritik. Vollends von einem Prediger, der, wie jener englische, zur Verbesserung seiner Sprache bei einem Schauspieler in die Lehre ginge, haben wir in unserem Vaterlande noch nicht« gehört. Den Anfang aber kann und muß die Schult machen; und der Vorschlag, daß zu der althergebrachten Dreiheit von Lesen, Schreiben, Rechnen auf den untersten Stufen de« Unterrichtes noch das Sprechen trete, verdient nachdrückliche Unterstützung. Zugleich ist den Eltern, die für gutes und gesundes Sprechen ihrer Kinder ein Herz haben, dringend anzuratben, daß sie ihnen anstatt de« üblichen leidigen ClavierdrillS einen verständigen Ge sangsunterricht angedeihen lassen, der in erster Linie freilich die rationelle Lautbildung und erst in zweiter den Kunst grsang zum Zwecke haben müßte. Sie werden dann mit Freude erkennen, um wie viel schöner unsere theure, ost miß handelte Muttersprache zu klingen vermag, — wenn man überhaupt sprechen kann.
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