02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 25.11.1896
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1896-11-25
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18961125026
- PURL
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- LDP: Zeitungen
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- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1896
- Monat1896-11
- Tag1896-11-25
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Man wußte eS im Voraus, daß das neue antisemitische Oberhaupt von Wien, Herr Strobach, den hohen Posten, der die Würde der kaiserlichen Residenzstadt an der blauen Donau ihm in die Hand gegeben, untadelig verwalten werde. Er war schon, als er noch auf den Oppositionsbänken saß, einer der stärksten Rufer im Streit, jetzt, seitdem er im Schmuck der Ehrenkette prangt, sieht er sich bereits drei Ehrenbeleidigungsklagen gegenüber. Die eine geht von einem Droschkenkutscher Bauer aus, der das Unglück hatte, mit der Equipage des hochmögenden Bürgermeisters zusammen zustoßen, und von diesem mit dem Ehrentitel „S..kerl" beehrt wurde, die beiden anderen Klagen von einem Schreiber beim Magistrat, Namens Sepper, der sich herauS- genommen hatte, in einer öffentlichen Versammlung die Nicht einhaltung der den Beamten gegebenen Wahlverspreckungen der Antisemiten zu rügen, deshalb sofort auS dem städtischen Dienst entlasten und bei der Disciplinarverhandlung von dem Bürgermeister als „Lügner" angeherrscht wurde. Da Herr Strobach natürlich seine Verurtheilung zu befürchten hat, lag ihm daran, die Gerichtsverhandlung binauszuschieben, weil die ihm als Landlagsabgeordnetem zustehende Immunität durch den Zusammentritt dieser Körperschaft in Kraft träte. Er wählte dazu, wie der „Allg. Ztg." geschrieben wird, ein eigenthümlicheS Mittel. Da der Kläger Sepper den Magi- stratSdirector und andere Beamte, die die ihm zugefüzte Beleidigung angehört hatten, als Zeugen namhaft machte, bestimmte Bürgermeister Strobach die Ge nannten, mit Beziehung auf die ihnen auferlegte Amts verschwiegenheit die Zeugenaussage zu verweigern. Sie erschienen auch dann nicht, als daS Gericht ihnen zu wissen that, daß diese Berufung nicht in der Straf- proceßordnung ihre Begründung habe. In Folge dessen wurde ihnen bei der Verhandlung eine Geldstrafe von je 50 Gulden auferlegt. Aber es kann Wohl sein, daß der Bürgermeister seine Absicht erreicht, denn der Richter vertagte auffalligerweise nicht bloS die Verhandlung über die Klage Sepper, sondern auch über die des Kutschers Bauer, denn auch in diesem Streitfälle waren die Zeugen auSgeblieben. Unter dessen tritt vielleicht der Landtag zusammen, der, da die Antisemiten die Mehrheit besitzen, die Auslieferung seines Mitgliedes ohne Weiteres verweigern wird. Jeden falls darf man gespannt sein, wie sich die Angelegenheit noch entwickelt. Inzwischen ist es im Gemeinderath selbst zu einem sehr heftigen Zusammenstoß zwischen dem Bürger meister und den Liberalen gekommen. Die Körperschaft ver handelte, wie uns gemeldet wird, gestern über die Vorlage, betr. die nachträgliche Genehmigung der Aufnahme einer schwebenden Schuld von 800 000 Kronen und über die Begebung von Theilbeträgen des Anlehens von 35 Mill. Kronen. Im Laufe der Verhandlung bezichtigte der Liberale Brunner den Bürgermeister der Mißachtung deS Gemeinderaths, weil derselbe bei der Vornahme deS Geschäfts weder den Gemeinderath, noch den Stadtrath befragt habe. Der Redner be antragte, dem Bürgermeister die stärkste Mißbilligung auS Politische Tagesschau. * Leipzig, 25. November. Die gestern im Reichstage von dem schwäbischen Abg. v. Gültlingen ausgesprochene Klage, daß die zweite Berathung deS Bürgerlichen Gesetzbuches nur acht Tage gedauert habe, während die zweite Berathung der doch viel weniger wichtigen Iustiznovelle nun schon neun Tage in Anspruch nehme, ohne daß ihr Ende sich absehen lasse, findet in mancher Brust lebhaften Widerhall. Die Commissionsberathung wird einfach in der Plenarberathung wiederholt, und diese macht umsomehr den Eindruck einer Eommissionsberathung, als regelmäßig dieselben Abgeordneten das Wort ergreifen und auch kaum viel mehr Abgeordnete im Sitzungssaale anwesend sind, als während einer Commissionssitzung. Gestern wurde nur über zwei Anträge eine lebhafte Debatte geführt; beide verfielen dem Schicksale der Ablehnung. Der erste Antrag war der am Schlüsse des gestrigen Berichts erwähnte Antrag der Conservativen, die durch Privatklage zu verfolgenden Delikte nicht über den Rahmen der bisher aus diese Weise verfolgten Vergehen auszudehnen. Während die Conservativen und Freiconservativen für diesen Antrag die Wabrscheinlichkeit anführten, daß aus Furcht vor den hohen Kosten im Falle des Unterliegens ärmere Personen sich von der Anstrengung der Privatklage vielfach würden abhaltcn lassen und daß da durch Raufbolde der verdienten Strafe entgehen würden, trat der Socialdemokrat Stadthagen aus einem ganz andern Grunde, nämlich weil er der Willkür der Staatsanwaltschaft nicht ein weites Feld überlassen wollte, für den Antrag ein. Die seltsame und seltene Verbindung zwischen Conserva tiven und Socialdemokraten fruchtete jedoch nichts; der Antrag wurde abgelehnt, und damit ist das Privatklage verfahren nunmehr auch auf die schwere Körperverletzung, die Bedrohung, den Hausfriedensbruch und die Sach beschädigung ausgedehnt. Der zweite Antrag ging von dem Abg. von Strom deck aus, der die Machtbefugnisse des Vorsitzenden in der Hauptverhandlung insofern einschränken wollte, als er auch den Schöffen und Geschworenen das Recht der direkten Fragestellung gewahrt wissen wollte. Der Abg. v. Strombeck wies darauf hin, daß etwas nervöse Vorsitzende den Angeklagten stutzig und befangen machen könnten und daß daS Fragerecht der Schöffen u. s. w. in dieser Beziehung Remedur schaffen würde. Er hoffte von seinem Vorschläge, daß durch ihn der ruhige Ton bei den Gerichtsverbandlungen gefördert werben würde, und hatte das Unglück, in dieser Behauptung durch den Abg. Stadthagen, der sehr für den ruhigen Ton ein genommen zu sein scheint, wenn er nur von ihm selbst nicht angewendet zu werden braucht, unterstützt zu werden. Der Rcgierungsvcrtreter wies darauf hin, daß durch das directe Fragerecht der Schöffen u. s. w. die Erforschung der Wahr heit gefährdet werden könnte, weil der Vorsitzende ja in der Regel seine Fragen nach einem gewissen Plane stelle und dieser Plan durch die Fragestellung einer nicht eingeweihten Person leicht durchkreuzt werden würde. Der Abg. Munckel hob ebenfalls hervor, daß die direkte Fragestellung durch eine Vielheit von Personen kaum eine Garantie für den ruhigen Ton einer Sitzung abgäbe. Der Antrag fiel denn auch gegen die Stimmen der Mehrheit des Centrnms und der Socialdemo kraten. Die Letzteren erhoben sich übrigens so zögernd von ihren Sitzen, als ob sie nicht wüßten, ob sie nicht eigentlich dem Abg. Munckel mehr Sachkenntniß zutrauen sollten, als ihrer juristischen Parteileuchte. In der „Cons. Corr." liegt nunmehr der Schluß des Berichtes über den konservative» Delegirtentag vor. Wir theilen an anderer Stelle die dritte und letzte der beschlossenen Resolutionen, die von dem „Schutz der nationalen ProductionSgewerbe" handelt, mit. Der Beschluß an sich giebt aber kein getreues Bild von der politischen Stim mung der Versammlung. Er könnte so verstanden werden, als ob die conservative Partei principiell und praktisch alle ihre bisherigen Forderungen in der gleichen Weise zu ver treten gedächte. Das ist jedoch, wie aus dem Vorträgen der Referenten hervorgeht, nicht der Fall. Die Reso lution z. B. hält an dem Befähigungsnachweis für alle Gewerben fest. Während aber der Referent dieses „Mittel", nach dem Bericht der „Cons. Corr.", gar nicht er wähnt hat, war als Correferent Herr IakobSkötter bestellt, der unter dem Beifall der Versammlung sich da hin aussprach, daß für gewisse Handwerker, namentlich für das Baugewerbe, der Befähigungsnachweis nicht zu entbehren sei, daß er „für alle Handwerker dock wohl nicht die er träumte Wirkung habe und man sich hüten solle, die Hand werker auf dieses Institut als auf ein Allheilmittel zu ver trösten. Viele Handwerker stellten sich unter dem Befähigungs nachweis ganz was Anderes vor, als er darstelle; man solle also nicht falsche Hoffnungen nähren, die sich nicht erfüllen könnten. Sonst würden Nackenschläge nicht ausbleiben". Das ist ganz der nationalliberale, ehrliche, nüchterne Standpunkt, und eS ist sicher nicht bedeutungslos, daß er von einem von der conser vativen Parteileitung vorher bestimmten Redner vertreten Wor ten ist. Aber noch mehr! Der andere Referent zur Handwerker frage, Herr Feh lisch, hatte von dem Glauben, der Regierung fehle das Herz für die Handwerkernoth, gesprochen. Dem gegenüber hatte Herr IakobSkötter den anerkennens- werthen Muth, dem Handwerker wenigstens „eine gewisse Schuld" an seiner Lage beizumrssen. Dabei ließ er die gewiß interessante und lehrreiche Bemerkung eiofließen, die Meinungs verschiedenheit mit Herrn Fehlisch rühre wohl daher, daß dieser als Baumeister daS Großhandwerk betreibe, er (Schneider meister IakobSkötter) mehr daS Kleinhandwerk vertrete. Diese Debatte läßt die Forderung deS allgemeinen Befähigungs nachweises in der Resolution in richtigem Lichte erscheinen, und das Gleiche gilt von anderen Auslassungen zu anderen Puncten. Der AntragKanitzist sowohl von dem Referenten Grafen Mirbach, als dem Coreferenten v. Arnim-Gülerberg über Bord geworfen worden. Der eine Herr meinte, daß der Antrag -- abgesehen von seiner inneren Schwäche — „sich gegenwärtig nicht realisiren lasse", und der andere Redner gab denselben Gedanken mit den Worten wieder, es sei mit dem Anträge „zunächst nichts zu machen". Bei der Erörterung des andern „großen" Mittels, der Doppelwährung, stellte Graf Mirbach die Unmöglichkeit der Lösung auf einseitigem Wege in den Vordergrund, und auch hier erklärte sich der Correferent mit ihm einverstanden. Der Stellungnahme zu den kleinen Mitteln kommt eine grundsätzliche und politische Bedeutung nicht zu. Wenn erklärt wird, man werde daS Verbot der Färbung der Margarine und die Vorschrift der getrennten Verkaufsräume für Margarine und Butter, sowie die Einführung eines Que- brachozolles mit der bisherigen Energie betreiben, so müssen wir wünschen, daß die Regierungen bei ihrem Widerstande verharren; aber wer eine Margarine- czesetzgebung will und auf dem Boden des Schutzzolles steht, für den sind das Specialfragen. Die zweite Sitzung des DelegirtentageS verstärkt den Eindruck, daß der Entschluß der conservativen Partei, wieder in die alten Bahnen einzulenken, Gegenwärtig behauptet wieder einmal Kreta den Vorrang in der Gesammtheit der schwierigen Einzelfragen, welche man unter dem orientalischen Problem versteht. Kreta kann gewissermaßen als Versuchsobject für die Gangbarkeit tes von den Continentalmächten zur friedlichen Austragung der schwebenden Differenzen im Orient insofern angesehen werden, als dort die Uebcrwachung der mit Durch führung der verheißenen Reformen betrauten türkischen Verwaltungsorgane europäischerseits noch am leichtesten zu ermöglichen ist und sonach sich ein zuverlässiger Anbaltspunct dafür gewinnen läßt, ob eS der Pforte mit Einhaltung der Versprechungen, die sie, der augenblicklichen vis major weichend, machte, auch wirklich Ernst ist. Denn mit Reformen, die blos auf dem Papier stehen und keine greifbaren Resultate zeitigen, ist weder den christlichen Untertbanen des Sultans, noch Europa gedient. Ersteren nicht, weil sie, von der Er- kenntniß der Bedeutung des gegenwärtigen Wendepunktes der Oriententwicklung durchdrungen, entschlossen sind, Alles an Alles zu wagen und eine abermalige Täuschung ihrer Hoffnungen mit dem erneuten Appell an die Gewalt der Waffen zu beantworten, und Letzterem nicht, weil eS ja eben im Interesse einer friedlichen Aus tragung der schwebenden Conflicte keinen neuen Ausbruch der Leidenschaften dulden will. Denn ein solcher würde aller Voraussicht nach mit den bisher angewandten Mitteln schwerlich mehr zu localisiren sein, andere, kräftigere Mittel anzuwenden aber hätte eine vorherige Verständigung der Mächte auf ganz neuen Grundlagen zur unerläßlichen Voraussetzung. Gelingt eS Europa, auf Kreta seine Absichten ohne Erschütterung des ottomanischen Status czuo zur Ver wirklichung zu bringen, so erwächst seinem moralischen Prestige bei der orientalischen Welt eine nicht hock genug zu veranschlagende Steigerung. Die Ausflucht, derartige Reformen seien in der Türkei überhaupt un durchführbar, fällt dann hinweg, und die auS dem unmittelbaren Augenschein geschöpfte Lehre, daß auf die Un einigkeit der Mächte nicht mehr zu zählen ist, dürfte Anlaß genug sein, die Einführung der Reformen auch in den übrigen Provinzen deS Reichs zu beschleunigen. Ob freilich der in Kreta genommene Anlauf anö Ziel führt oder ob das Reform werk nicht schon in seinen ersten Anfängen inS Stocken geräth, steht dahin, muß sich aber baldigst zeigen. Uns wird aus Konstantinopel unterm 24. November gemeldet: In der heutigen Sitzung der Commission zur Reorganisation der Gendarmerie auf Kreta protestirten die türkischen Lele- girten gegen die Anwerbung fremder Elemente. Die Militair. AttachSS beharrten jedoch darauf. Ein unterzeichnetes Protokoll wird morgen dem Ministerrathe vorgelegt. Morgen findet auch eine Conferenz der Botschafter wegen des strittigen Punctes statt. Die Abreise der Commission nach Kreta wird am 1. December erfolgen. Vertrauenerweckend klingt diese Meldung nicht. zusprechen, und forderte ihn auf, seine Würde nieder zulegen. Es kam zu erregten Auftritten und heftigen gegenseitigen Zurufen zwischen den Liberalen und den Christlich-Socialen, worauf die Liberalen denSitzungs- saal verließen. Man kann mit Bestimmtheit Voraussagen, daß eS in der Wiener Stadtvertretung in diesem Tone, aber ereseenäo, weitergehen wird, denn der SiegeShochmuth der antiliberalen Mehrheit kennt keine Grenzen. Wo dabei freilich daS Wohl und Gedeihen der Stadt bleibt, ist eine andere Frage. i7, Hans Jürgen. Roman von Hedda v. Schmid. Nachdruck verlöten. „Mein Himmel, Irma, ich denke, Du bist verständig genug, daß man mit Dir Dinge besprechen kann, welche unsere Familie berührt. Du willst eS nicht glauben, daß HanS Jürgen v. Lommerd möglicherweise die Absicht bat, Dir um Deines Besitzes willen, der ja mit Deiner Person, wenn Du vor der im Testament anberaunnen Frist eine Wahl triffst. Deinem Gatten zusällt, seinen Namen und seine Hand zu bieten, damit er auf keine Weise deS ErbeS ver lustig ginge, Du meinst, man könne sich nicht binden ohne Liebe? Du vergißt, daß Dein Vater, mein Obeim, ebenso gebandelt, er beirathete Deine Mutter nm ihres Geldes willen. Jedenfalls kann ich Dir die Versicherung geben, daß man in den weitesten Kreisen der Ansicht ist, daß Hans Jürgen in Dir nur die zukünftige reiche Erbin sieht. Viel leicht hat er sich selbst in diesem Sinne geäußert." Und Irma hatte ihrer Cousine nochmals die zornige Er widerung: „DaS ist nicht wahr", ins Antlitz gefchleudert, aber konnte sie denn Hortense wirklich Lügen strafen? AuS den vergilbten Briefen, welche ihre Mutter einst geschrieben, klang sie ihr ja entgegen, die traurige Wahrbeit, daß Hildegart v. Beversdorff, die während ihrer kurzen Ebe ein Märtyrer- thum voller Enttäuschungen und voller Reue erduldet, ein Opfer der berechnendsten Spekulation und Geldgier gewesen. Irma war noch zu jung und unerfahren, zu unbekannt noch mit den Menschen und dem Treiben in der Welt, um den leisen Stimmen, welche sie mahnten, dem Gefühl deS eigenen Herzen- mehr zu trauen, als diesem tausendzungigen, gistgefchwollenen „on clit", welches bereits manches Lebens- und Liebesglück in Nacht und Verzweiflung gewandelt. Die Baronin war mit ihrem eigenen Gram zu sehr be schäftigt, um auf Irma'S veränderte» Wesen Acht zu geben; und nach dem Tode des BaronS war es ja selbstverständlich, daß da» junge Mädchen seinen gütigen Pflegevater von ganzem Herzen betrauerte. Niemand konnte von ihr eine fröhliche Miene erwarten. Irma stand an zwei Gräbern, und als am Rande des einen ihre Thränen versiegten und sich in milde Trauer aus lösten, da strömten sie im verborgensten Grunde ihres Herzens noch unaufhaltsam um ihr todteS Lieben, das sie ebenfalls hatte zu Grabe tragen müssen. Wie eine Erlösung begrüßte sie den Entschluß der Baronin, aus Reisen zu gehen. Nun waren sie im Harz, in der schönsten Sommerfrische, und doch wollten die Rosen auf Irma'S Wangen nicht erblühen. Alle Schönheit in der Natur ließ sie theilnahmloS; oft saß sie stundenlang mit lässig verschlungenen Händen, und wenn sie HanS Joachim küßte, so geschah es mit einer heftigen Innigkeit, und manche heiße Thrane siel auf daS lockige Blondhaar des Kleinen. „Vielleicht habe ich ihm Unrecht gethan?" flüsterte Irma zuweilen vor sich hin, und manche Nacht hindurch lag sie schlaflos und durchlebte in Gedanken immer und immer wieder jene Augenblicke, in denen sie HanS Jürgen so schroff abgewiesen. Wie liebevoll, wie innig hatte er sie angeblickt, konnten seine Augen wirklich so lügen? Eben noch, ehe die Baronin eingetreten, halte sie sich wieder diese Frage vorgelegt. „DaS hätte ich nickt erwartet", tönte die Stimme der Baronin an Irma'» Obr, „Du wirst ebenfalls erstaunt sein, mein Kind; HanS Jürgen theilt mir seine Ver lobung mit." Die Baronin hielt inne und blickte ihre Pflegetochter erwartungsvoll an. Sie glaubte, daß letztere in einen Aus ruf deS Erstaunens auSbrechen würde, allein Irma sagte nichts, sondern beugte sich noch tiefer über den Knaben, der von ihrem Schooß geglitten war und nun seiner Großmutter zustrebte. „Hortense sprach die Wahrheit, er hat mich nie geliebt"; dieser Gedanke schnürte Irma die Kehle zu und ließ sie kein Wort hervorbringen. Jeder leise Hoffnungsstrahl, der ihr noch geleuchtet, die Möglichkeit, daß sie ungerechter Weise HanS Jürgen im Verdacht veS GlückjägerkhumS gehabt, Alles war nun verloren. Er liebte sie nicht, sonst wäre er nicht im Stande gewesen, sich so schnell einer Anderen zuzuwendeu. „Nun, und Du fragst gar nickt, von wem HanS Jürgen Bräutigam ist", sagte, durch Irma'» Schweigen befremdet, die Baronin. „Und doch tritt er fortan in verwandtschaft liche Beziehung zu Dir — Deine Cousine Hortense ist seine Braut. „Hortense!" Irma schnellte von ihrem Sitz empor, „un möglich — wie kann HanS Jürgen Hortense lieben? Freilich", setzte sie unsäglich bitter hinzu, „Hortense ist sehr reich, da durch gewinnt die Sachlage gleich eine andere Färbung." „Ich kann mich Deiner Annahme, daß HanS Jürgen diese Verbindung aus pecuniärem Interesse eingeht, ebenfalls nicht verschließen", stimmte die Baronin bei, „allein in unserer Zeit und besonders in unseren Gesellschaftskreisen gehören solche Fälle zu keinen Seltenheiten. Daß Hans Jürgen, nach dem er an Margaret's Seite ein so reiches Glück genossen, eine Hortense lieben könnte, ist ja ausgeschlossen. Und", setzte sie bekümmert hinzu, „wie mir Frau von Ingersheim heute schreibt, sollen seine VermögenSverhältnisse ziemlich stark zerrüttet fein. Hätte er sich doch mir anvertraut, ich hätte ihm gern eine rettende Hand geboten. Doch ich kenne HanS Jürgen — er ist viel zu stolz dazu, meine Hilfe in Anspruch zu nehmen oder daS Vermögen feines Sohnes anzugreifen." „Nein", versetzte Irma mit höhnisch zuckenden Lippen, „lieber verkauft er sich, sein Leben, sein Herz an ein un geliebtes Wesen. Solch eine Handlungsweise müßte den Stolz eines Mannes erst recht bi« in den Staub hinab drücken." „Du urtheilst zu streng; Du sprichst so, als beginge HanS Jürgen eine Todsünde." „Und tbut er dies etwa nicht? Betrügt er nicht sich selbst und ein anderes Geschöpf, daS gewiß glaubt, von ihm aus Liebe gewählt worden zu sein. Denkt er nicht daran, daß er seinem Kinde eine neue Mutter giebt, ist er auck dessen ge wiß, daß Hortense Hans Joachim ein liebevolle Mutter sein wird?" „Er läßt seinen Sohn mir", rief die Baronin, ihren Enkel mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit an ihre Brust pressend, „er bittet mich, auch fernerhin dem Kinde die verlorene Mutter zu ersetzen." „Und dann, Tante Annemarie", sagte Irma langsam und schmerzlich, „und dann noch billigst Du gewissermaßen HanS Iürgen's Wahl? Wenn ein Mann, die Frau, die er sich erwählt, für unfähig hält, seinem verwaisten Kinde die Mutter zu ersetzen, wenn sie trotzdem seiner Werbung Gehör schenkt, dann ist sie nicht Werth, eine Frau zu fein, und der Mann, der in seine zukünftige Lebensgefährtin ein so geringes Vertrauen setzt, ist der Verachtung würdig." „Inna", rief die Baronin, woraus schöpfst Du ein solch scharst» Urtbeil?" ' „Woraus?" versetzte Irma, „ich habe viel nachqedacht in der letzten Zeit und finde, daß nur die wenigsten Menschen von wirklich edlem Bestreben beseelt sind." „Du denkst an Ideale, Irma, die giebt es nicht im wirk lichen Leben." „Nein — ich habe keine Ideale mehr", ranz es sich von Irma'S Lippen. Seit den letzten Minuten war es ihr, als habe sie jeden Glauben an das Gute und Wahre in der Welt verloren. „Hortense, die ihr gegenüber als Warnerin aufgetreten, die von Hans Iürgen's spekulativen Absichten gesprochen, sie ließ sich nun selbst, um ihres Geldes willen, beiralhen. Und konnte wohl HanS Jürgen mit ihr, dem haltlosen, häßlichen, auch was ihre geistigen Gaben anbetrüf, von der Natur vernachlässigten Geschöpf, glücklich werden? „O stände cS in meiner Macht, ihn vor diesem unseligen Schritt zu bewahren", dachte Irma. „Hätte er doch noch gewartet", rief sie auS, „noch anderthalb Jahre, und der Besitz von Salisfer hätte ihn auS seiner mißlichen Lage befreit." „Salisfer?" fragte die Baronin erstaunt, „ick gebe mich der festen Hoffnung hi», Dir noch vor Ablauf der von Deinem seligen Großvater festgesetzten Frist den Brautkranz flechten zu können. In meinen Augen bist und bleibst Du die Erbin von Salisfer." „Niemals", rief Irma ungestüm, „niemals werde ick dieses unselige Erbe antreten; soll ich denn ebenfalls meiner Mitgift halber geheirathet werden? Ich strebe nicht darnach, um solch einen Preis in den Besitz des Gutes zu gelangen, ich verkaufe meine Freiheit und mich selbst nicht." „Irma, Du bist exaltirt .... Wer spricht denn von verkaufen? Heirathen sollst Du und einen ehrenhaften liebenswürdigen Mann, der Dich in uneigennütziger Weise lieb hat. Einem solchen Bewerber kannst Du getrost Deine Neigung schenken." „Nein, Tante, verzeih' mir, aber Deinen Wunsch, mich verheirathet zu sehen, kann ich nicht erfüllen. Laß mich mein mir von Gott verliehenes Talent ausbilden, laß mich Dir leben, Tante, meiner Kunst und" — Irma beugte sich plötzlich zu dem kleinen HanS Joachim hinab und küßte ihn heftig — „und diesem Kinde hier, das nun seinen Vater so gut wie verloren hat. Gottlob, daß es Hortense nicht Mutter zu nennen braucht, sie hat keine Liebe und kein Berständniß für solch kleine hilflose Wesen." „Ja, Gottlob, daß ich mein Kleinod nicht herzugeben brauche", sagte die Baronin. > Sie söhnte sich mit HanS Jürgens zweiter Heiratb schneller auS beim Gedanken, daß HanS Joachim, trotz des
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