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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 01.12.1896
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1896-12-01
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18961201029
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1896120102
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1896120102
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1896
- Monat1896-12
- Tag1896-12-01
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Größere Schriften laut mrserem Preis- verzcichniß. Tabellarischer und Zissernjatz nach höherem Tarif. Hxtr«-Beilage« (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbesörderung 60.—, mit Postbrsöckeruug 70.—. Ännahmeschlut für Anzeigea: Abend-Au-gab«: vormittags 10 Uhr. Morgen» Ausgabe: Nachmittags 4 Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeige« sind stets an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. SV. Jahrgang. «ll. Dienstag den 1. December 1896. Politische Tagesschau. * Leipzig, 1. December. Von linksstehender und klerikaler Seite sind die dies maligen Etatsberathungen im Reichstage mit lang- athmigen Auslassungen gegen den Martneetat, insbesondere die Vermehrung der Flotte, eröffnet worden. Dabei sind natürlich die alten Schlagworte wieder zu Ehren gekommen, daß man keine Paradeflotte wolle, sondern eine Kriegsflotte, daß die Forderungen namentlich an Schiffsneubaute» eine exorbitante Belastung de- ReichshaushaliS bedeuteten und daß somit diesem Etat gegenüber von dem NichtbewilligungSrecht ausgiebig Gebrauch gemacht werden müsse. Diese Ausführungen werden dann mit „beweiskräftigen" Zahlen versehen, wie es überhaupt sebr leicht ist, auS Zahlen der Etats dem Steuer zahler ein Schreckbild vorzusübren, wenn man dabei unter läßt, offen und ehrlich auf die thatsächlichen Bedingungen der Forderungen und die amtlichen Erläuterungen der einzelnen Posten hinzuweisen. Was zunächst den „ziellosen" Ausbau der Schlach tschiffflotte aulangt, so enthält dieser Etat eine Neuforderung: 1 Million Mark als erste Rate für einen Ersatzbau des Panzerschiffs I. Elasse „König Wilhelm", daö im Jahre 1805/96 eine durchgreifende Instandsetzung erfahren hat, aber, wie die Marineverwallung ver sichert , nur nothdürftig für die nächsten Jahre als Schlachtschiff brauchbar bleibt. Spätestens im Jahre 1901 würde es vollständig veraltet sein. In dieser Frist soll der Ersatzban fertig gestellt werden. Nun ist es richtig, daß mit jener ersten Million der Reichstag sich für eineGesainmtausgabe von 14,1 Millionen Mark für den bloßen Bau engagirt und raß somit, in Rücksicht auf die anderen Ausgaben für die Marine und die Reichsfinanzen überhaupt, eine ernstliche Prüfung angezcigt ist, ob diese Forderung überhaupt bewilligt werden kann. Soweit sich bisher vernehmen läßt, ist die Neigung dazu im Reichstag nur gering. Gerade dieser Position gegenüber wird die Rücksicht auf die Gesamml- sinanzen des Reiches und eine damit Schritt haltende Ver stärkung der Schlachtflotte ihre volle Wirkung ausüben. Die übrigen Forderungen für Schlachtschiffe gehen ebenfalls auf Ersatzbauken hinaus. Für Ersatz „Friedrich derGroße" ist es dazu die zweite Rate, für Ersatz „Leipzig" die dritte, für Ersatz „Preußen" gar die vierte. Soll hier der Schiffsbau nicht stocken, sollen die Reichs-Finanzen selbst nicht geschädigt werben, indem man kostspielige Werfl und Fabrikanlagen ungenügend arbeiten lassen will, dann müssen weitere Raten bewilligt werden, weil die ersten bewilligt sind. Anfechtbar ist vielleicht die Höhe derselben. Nach dieser Richtung hin werden in der Bubgelcommisfion sicherlich weitgehende und überzeugende Aufschlüsse gegeben werden, namentlich, daß technische Rücksichten zu der in der diesmaligen Ratenforderung sich sichtlich bekundeten Be schleunigung deS Flottenbaues nölhigen und baß die Rücksichten auf die Finanzkraft des Reiches dabei keineswegs zurückgelrrlen sind. Aehnlich steht es um die K r e u z e rf i o t t e. Neu gefordert werden lediglich zwei Kreuzer 2. Elasse, 0 und k, entsprechend dem Plan bezüglich der Vermehrung der Kreuzer, der bisher ini Wesentlichen auch bereits vom Reichstag durch seine Beschlüsse praktisch gebilligt worben ist, wenn auch unter allgemein gehaltenen, so doch deutlichen Verwahrungen gegen übermäßige Engagements für die Zukunft. Die übrigen Bauten an Kreuzern sind alle bereits in erster oder mehreren Raten vom Reichstag genehmigt. Gefor dert wird die dritt e Rate für „Ersatz Freya", ferner für die Kreuzer 2. Elasse li. und 8., die zweite Rate sodann für die Kreuzer 2. Elasse Ll. und X. und für den Kreuzer 4. Elasse 6. Dann sind an Neubauten noch gefordert ein Aviso „Ersatz Falke", weil, wie die Marineverwaltung agt, das Bedürfniß für Aufklärungsschiffe, namentlich solcher, die auch den Kreuzerdienst im Auslände versehen, immer fühlbarer wirb; ferner einen Ersatz für die Kanonenboote „Hyäne" und „Iltis", für de» letzteren gleich die ganze Forderung im Betrage von 1 Million und für den ersteren Ersatzbau die Hälfte als erste Rate. Dann sind noch neugefordert «m Divisions boot für die im vorjährigen Etat bereits bewilligte Torpedo division und eine erste Nate für die Herstellung von neuen Torpedobooten. Auch bezüglich der Forderungen des Aviso und der Kanonenboote wird sich die Marineverwallung, soweit sich vor der Hand übersehen läßt, einige Abstriche gefallen lassen müssen. Immerhin sind die Forderungen, wenn sie auch stellenweise zu Einschränkungen zwingen werden, nicht so ge artet, um mit dem Schlagwort von einer „uferlosen Flotten vermehrung" aufs Neue ins Land hinaus Agitalionöpolitik zu treiben. Um so weniger sollte mau sich dort dazu verleiten lassen, wo weniger die Rücksicht auf Flottcnpläne und Reichs finanzen den Ausschlag geben, als Nebenabsichten. Besonders durchsichtig sind in dieser Beziehung die Auslassungen der klerikalen Presse, welche merkwürdiger Weise gerade seil jenem Tage, an dem die bekannte Action im Reichstag so wenig ergiebig für die klerikalen Absichten abschnitt, eine be sonders große Energie gegen die Flotlenpolitik entwickelt. Daß der Hamburger Hqfcnarbciterstreik von der eng lischen Concurrenz angestiftet worden ist, unterliegt keinem Zweifel. Er kann deshalb nicht als ein Lohukamp) angesehen werden, in dem Arbeiter von ihrem Reckte, den Preis für ihre Waare, den Lohn, so hoch als möglich zu bringen, Gebrauch machen. Da aber in Hamburg der Vorschlag einer schiedsgerichtlichen Vermittelung gemacht worden ist und von den Arbeitgebern und Arbeitnehmern in Erwägung gezogen wird, so ist eS in diesem Augenblicke noch nicht die Aufgabe der vom Schauplätze des Ausstandes entfernten Presse, selbstständig zwischen den Streitenden Stellung zu nehmen, und gegenüber einer Erscheinung, auf dir wir aufmerksam zu machen unS verpflichtet halten, kann vorerst auch daö Moment der englischen Urheberschaft außer Betracht bleiben. Für uns handelt eS sich um AtlgemeingiltigeS. Es ist eine regelmäßig gemachte Beobachtung, daß die Berliner freisinnige Presse bei Ausständen, die die Interessen der von ibnen mehr oder minder freiwillig vertretenen Elemente nicht oder nur wenig berühren, allsogleich die Partei der Streitenden nimmt,bei Arbeitseinstellungen inGewerben aber, bei denen ihre „Leute" überwiegend belheikHt sind, die entgegen - gesetzte Haltung beobachtet. Das laßt sich an Beispielen darthun. Zwei dürften jedoch genügen. Nachdem bei dem zweiten Grubenstreik in Rheinland-Westfalen, dem frivolsten und folgenschwersten Ausstande, zu dem je social demokratische Agitatoren deutsche Arbeiter verführt haben, Berliner freisinnige Organe den Bergwerksbesitzern Nach- g'ebigkeit gepredigt hatten, hat in dem nicht lange darauf ausgebrochenen Berliner Setzerstreik, der keineswegs nachträglich gebilligt werben soll, die „Freis. Zeitung" den Kampf gegen die Arbeiter in einer Weise geführt, die ganz allgemein als unschicklich empfunden worden ist. Noch weit bezeichnender war das Benehmen der freisinnigen Presse Berlins, als die Lage der dortigen Eonfectionsarbeiter die Kopie und Gemüther erregte. Wenn jemals die Lohn- und Lebensverbältnisse von Arbeitern und Arbeiterinnen daS Mitleid heraussorderlen nnd nach Besserung schrieen, so waren eS die in der Eonsections- und Wäschebranche. Die ge ¬ jammte Presse in und außerhalb Berlins hat damals auch die Partei der Gebrückten genommen, die ge summte niil Ausnahme der freisinnigen Berliner Presse. Diese verrieth zuerst gegenüber den im eigenen Wohnorte zu Tage getretenen Ungeheuerlichkeiten eine Virtuosität des Schweigens, die bis dahin in Deutschland unerhört war. Und als sie nun durch nationalliberale, conservative und antisemitische Blätter zum Reben gezwungen worden war, da vernahm man eine zuerst verlegene und, von einigen Floskeln abgesehen, den Confectionsfirmen günstige Sprache, die alsbald in offene Parteinahme für die Unternehmer dieser Branche überschlug. Im Con- fectionSgeschäft waren Wochen löhne von 6 und 8 Uebervortheilungen bei der Lieferung von Zutbaten und viel fach eine in der Tbat menschenunwürdige Lebenshaltung zu beklagen. Was soll man nun dazu sagen, wenn beute ein freisinniges Berliner Blatt beweglich aus- einandcrsetzt, daß der TageSlobn der Hamburger Schauer leute in der Hohe von 4 20 ein unauskvmmlicher sei? Man kann ja dieser, uns allerdings nicht obnc Weiteres ein leuchtenden Meinung sein; wer aber an einem Tageseinkommen von 1 50 1 -L und weniger — in einer Stadt wie Berlin, wohlgemerkl — nichts zu tadeln findet, der muß einen ganz bestimmten Gruppenstandpunct einnehmen, wenn er Arbeitern mit einem TageSeinkommen von 4 20 — zumeist stellt es sich thatsächlich auf 4 50 -j — das Recht auf besondere Unzufriedenheit zubilligt. Die Differenz zwischen den Löhnen der Hamburger Schauerleute und denen der Berliner Eonfectionsarbeiter ist denn doch viel zu groß, als daß sie durch die Verichirbenheit der Anforderungen in den beiden Branchen ehrlicher Weise erklärt werden könnte. Man hat es bei diesem Messen mit zweierlei Maße unseres Erachtens mit einem sehr frivolen Spiele zu thun, daö übrigens auch seinen Urhebern bezw. deren Hintermännern lheuer zu stehen kommen kann. Denn nicht nur die Berliner Eonfectionsarbeiter und -Arbeiterinnen, sondern auch andere werden es sich merken, daß der Freisinn ein Tageseinkommen von 4 -E 50 für zu gering erklärt. Wenn bann im Frühjahr in allen Branchen eine gewaltige Streikbewegung cintritt und den deutschen Arbeitsmarkt in schweren Nachthcil gegenüber dem concurrirenden Auslände bringt, so wirb der Freisinn in Vie Verantwortung mit den „national socialen" Freunden der Hamburger Streikenden sich zu theilen haben. Der Streik -er Hamburger Hafenarbeiter geht auch in Frankreich nicht unbemerkt vorüber. Während der „Figaro" sich von sittlicher Entrüstung gegen jene englischen Rheder und Finanzleute erfüllt zeigt, welche socialistische Aufwiegler bezahlten, um durch diese in den contineotalen Häsen Arbeits einstellungen und Unruhen anzuzettcln, spricht der „Soleil" den Wunsch und die Hoffnung au-, der Handelshab brr britischen Industriellen und Kaufleute werde über kur; oder lang zum politischen Haß erstarken und zu einem be waffneten deutsch-englischen Conflict führen oder mindestens England in die Arme des Zweibundes treiben. Aehn- l>che Auslassungen finden sich vielfach in den franzö sischen Zeitungen. Natürlich reagirt die englische Presse sofort, und der „Standard" giebt den Franzosen zu ver stehen, es sei niemals zu spät, weise zu sein, sie sollten daher reu Weg, den sie bereits nach 1870 hätten betreten müssen, endlich einschlagen und herzliche und freundschaftliche Be ziehungen mit England anknüpfen, an England werde eS nicht fehlen. Die Rechnung der französischen Revanche politiker und der englischen Neider gegen Deutschland Hal indeß, wie die „Hamb. Nachr." sehr zutreffend hervor- !reben, einen Fehler, der ihr politisches Urtheil stark com- promittirt. Der englisch-russische Interessengegensatz ist ein sehr viel stärkerer Factor der europäischen Politik, als die Liebe der Russen zu den Franzosen, und die Bekämpfung Englands in Asien ist für die russische Politik ehr viel wichtiger, als die Garantiruug der Stellung, Li- Frankreich jetzt durch Rußlands Gnaden wieder im euro päischen Eoncert einnimmt. Wir sind überzeugt, daß von russischer Seite die Freundschaft mit Frankreich sofort gekündigt werden würbe, sobald Frankreich Miene machte, sich mit Eng land zu verbinden und damit die Stellung dieser Macht in ihren, Jnteressenkampf gegen Rußland zu stärken. Eine gleichzeitige Freundschaft nach der englischen und nach der russischen Leite hin ist für Frankreich unmöglich; eS muß zwischen beiden Mächten optiren, und da wäre es doch von sranzö sischem Staudpuncte aus der Gipfel der Thorheit, wenn man sich für England, also gegen Rußland entscheiden wollte. DaS wäre der definitive Verzicht auf Elsaß-Lothringen, das mittels der englischen Flotte doch nicht zurück zuerobern ist. Es ist verwunderlich, daß ernsthafte Poli tiker, Minister außer Dienst und Senatoren in ParlS, sich mit dem Gedanken einer solchen An näherung an England tragen können, ohne sich nur einen Augenblick lang durch das Bedenken stören zu lassen, daß Frankreich, wenn eS überhaupt noch eine Wahl hat, England nur unter Verzicht auf Rußland wählen könnte. Uebrigens wäre die Sache auch hinsichtlich Englands kaum durchzuführen, und der „Standard" schränkt demgemäß feine oben erwähnte Bereitwilligkeits-Erklärung ganz im englischen Sinne sofort wie folgt ein: „Natürlich würde unsere Freundschaft mit Frankreich nicht Feind seligkeit gegen einen andern Staat bedeuten. Wir wollen nut der ganzen Welt auf gutem Fuße leben, so lange die Welt uns das erlaubt." Außerdem ist die Freundschaft Englands insofern von sehr problematischem Werthe, als England bekanntlich überhaupt keine Kriegsbündnifse abschließen und die englische Politik sich von heute auf morgen in daS Gegentheil ihrer bisherigen Stellung umkehren kann, wenn der Gang der Ereignisse ein derartiger ist, daß daS englisch« Interesse seine Rechnung bei der Abkehr von den bisherigen Freunden findet. Die Ansicht einer Berliner Zeitung, man werde in Ruf; l««Ü den hundertjährigen Todestag der Kaiserin Katharina II. (den 6./17. November), weil aiigeblick nicht in die gegenwärtigen Tendenzen Passend, mit Stillschweigen über gehen, haben die Thatsachen widerlegt. Ofsiciell sind "zur Feier des Tage- in allen Äircken des Reichs Panichiven (Seelenmessen' veranstaltet worden. Einige Zeitungen haben Festnummern herauszegeben mit Illustrationen und Artikeln, die die Thäligkeit Katharinens auf den verschiedensten Gebieten des russischen Lebens beleuchteten und feierten. Das Resultat dieser Betrachtungen fassen die „Ruff. Wjedom." in folgenden Sätzen zusammen: „In der ganzen Reihe der gesetzgeberischen und administrativen Maßregeln Katharina's ist der wohlthütige Einfluß derjenigen Richtung bemerkbar, als deren Ausdruck sie selbst bei ihrer Thron besteigung erscheint. Wir Nachkommen können den mächtigen Einfluß nicht verkennen, den die aufklärende Richtung der Regierung katharina's auf das russische Leben aus grübt hat. Und um so klarer liegt für uns die Kraft Lieser Richtung vor, als, obgleich sie nicht anhirlt, nicht einheitlich durchgeführt wurde, doch ihre Resultate bedeutend waren. Dem 18. Jahrhundert, den Zeiten katharina's, sind wir für die allgemeinen humanenPrin» cipien verpflichtet, die in unserem politisch-socialen Leben eine so große Rolle spielten. Dank der Kaiserin Katharina II. hat die ns Hans Jürgen. Roman von Hedda v. Schmid. RaLdruck verboten. Irgendwo, fern von Esthland, wollte er ein anderer Mensch werden. In den Tagen seiner einsamen Haft batte sich diese Wandlung in ihm vollzogen, er wollte arbeiten, aber nicht hier in seiner Heimath, er konnte eS nicht er tragen, in Jrma'S Nähe zu leben. LommerdSboff zu er halten, war er nicht im Stande, mochte die Baronin eS au« den Händen der Gläubiger für HanS Joachim retten, er selbst hatte den Besitz seiner Ahnen nicht für seinen Sohn zu erhalten gewußt. Seine kurze Ebe mit Hortense erschien ihm jetzt wie ein schrecklicher Traum, wie ein furchtbarer Alp, der sich im Schlafen auf seine Brust gelegt und auS dem er dann mit einem Schrei erwacht. Er hatte seine Scheidung beantragt, und wider sein Er warten war er bei Hortense aus keinen Widerstand gestoßen. Hortense war nach ihrer Genesung wieder vollkommen ihrer Bigotterie verfallen, sie nannte jetzt ihre Leidenschaft für HanS Jürgen eine „Verirrung deS HerzenS". Ihre frühere Gesellschafterin, die alle Französin, war eifriges Mitglied eines katholischen WohltbätigkeitS- und MissionSvercin», sie war mit Hortense im Bnefwechsrl ge blieben und hatte daraufhin zu wirken versucht, daß die junge Frau dieser frommen Gesellschaft beitrete. Hortense war zu den größten Opfern entschlossen. Ihre unglückliche Ebe mit HanS Jürgen betrachtet» sie al- «ine gereckte Strafe dafür, daß sie ibrem bei ihrem Au-tritt au- dcm Kloster gefaßten Vorsatz, ein» Braut des Himmel- zu werden und ihr ganzes Vermögen der Kirche zuzuwenden, untreu geworden. Und einem Menschen wie HanS Jürgen, der seine Waffe gegen seinen Nächsten erhoben, konnte sie nicht mehr angehören, sagte sie sich. Noch während sie sich in der Genesung befand, eilte auf ihre Bitte die frühere Gesellschafterin herbei, und einige Wochen später verließ sie in deren Begleitung Esthland für immer, um nach ihrer vollzogenen Scheidung von HanS Jürgen in einem der Klöster Südfrankreichs den Schleier zu nehmen. Bald darauf fand Herrn v. Saliday'S Trauung mit Ellen in aller Stille statt. Ellen war eine bleiche Braut, Herr v. Saliday rin strahlender Bräutigam. Tante Susanne, welche sich von Frau Tröming und Netti in die Kirche, in welcher die Trauung im Beisein einiger Geladenen stattfand, geleiten ließ, fchluckzte und betete abwechselnd. Sie meinte es aufrichtig gut mit Ellen, diese Heirath erschien ihr für dieselbe als ein Gipfel des Glückes. Ellen wurde nun «ine in der Gesellschaft hochgestellte Dame. Man nahm sie dort in sehr verschiedener Weise auf. Einige spöttelten darüber, daß eS der ehemaligen simplen Gesellschafterin gelungen, sich einen so reichen und angesehenen Mann zu „kapern"; daß sie mit Herrn v. Saliday gründlich coquettirt, so lange, bi« er in die Falle gegangen, setzte man al« selbstverständlich voraus. Ellen lächelte über die Kälte, mit der man ihr hier und da begegnete, sie schritt auf ihrem Weg« weiter, ruhig und stolz wie ein« Königin. Für ihren Gatten schien sie «ine ruhige Zuneigung zu hegen, welche er ihr nut leidenschaftlicher Anbetung vergalt. Nack und nach begann sie in der Gesellschaft festen Fuß zu fassen; die Gastfreundschaft und der solide Reichthum, welche auf Schloß Allersberg herrschten, trugen viel dazu bei, daß man anfing, Ellen sehr liebenswürdig zu finden. Es gab Biele, welche sie um ihre glänzende, gesicherte Lebensstellung beneideten. Wenn Letztere gewußt bätten, welch ein brennende- Web sich unter der Ma«k«, welche Ellen auch jetzt vornabm, ver- barg, wie viel ungeweiute Thränen sich oft, während sie anscheinend sehr erregt mit ihren Gästen plauderte, sich zu einer Centnrrlast in ihrem Herzen anbäuften, wie sie immer und immer nur einen Gedanken batte an den Mann, der einsam auf der fernen Festung weilte, von dem sie getrennt war auf ewig und den zu liebe« sie doch niemals auf hören konnte! Ich kleb« dich, welk ich dich lieben mutz, Ich liebe dich, weil ich nicht ander« kann, Ich liebe dich durch einen Himmelsschluß, Ich liebe dich durch einen Zauberbann. Diese Dickterworte zogen oft durck Ellen'S Sinn, sie be- zeickneten treffend ihre Gefühle für HanS Jürgen. War es ein Verhängniß, welches auf ihr ruhte? Sie gekörte nun durch heilige Bande einem Andern, einem Manne, dem sie ibre Acktung nickt versagen konnte, ja der ihr, obwohl ein so großer Jabre-untersckied sie trennte, nicht unsympathisch war al« Gatte. Aber jede Fiber in ihr zitterte noch immer, wenn sie an Hans Jürgen dachte. Die schöne große Revaler Börsenballe, in welcher da« Concert staltfanv, war bis auf den letzten Platz gefüllt. Han- Jürgen und der Annofersche erhielten, wie Letzterer ricktiz vorausgesagt, nur Stehplätze. Han« Jürgen war die Zielscheibe vieler Blicke, und manche Bemerkung wurde über ihn geflüstert. In den Mienen de« Annoferscken zeigte sich nach jeder Nummer deS Programm« eine immer gesteigerte Ungeduld. „Sollte sie am Ende ihre Absicht geändert haben?" dachte er ärgerlich „Aber Frau v. Inger-Heim versickerte e« mir doch gestern, und die sitzt ja auch in der ersten Reihe, ah — endlich." Der Annofersche warf nach diesem Seufzer der Befriedi gung einen forschenden Seitenblick auf Han« Jürgen. Dieser wechselte plötzlich die Farbe — sein Auge richtete sich starr auf daS Podium, welche« eben eine junge Dame betreten hatte. E« war eine schlanke, distinguirte Erscheinung; die «in fache, Weiße Toilette, welche die junge Sängerin trug, war an und für sich schmucklo«, dennoch von vollendeter Eleganz. Der Name dieser jungen Dilettantin war den wenigsten der im Eoncert Anwesenden bekannt, nur hier und da raunte man einander zu: „DaS ist Irma Monfort", oder: „Da- ist ja die Erbin von SaliSfer." Hans Jürgen glaubte zu träumen. Nun begann Irma nach einem kurzen Vorspiel, welch,- der sie auf dem Flügel begleitend« Herr, ein ausgezeichneter junger Musiker, voller Zartheit ausführte, zu sinaen. Alle Zuhörer befanden sich sofort unter dem Eindruck der wundervollen Stimme und des eigenartig ansprechenden LiedeS, welche- Irma zu ihrem Vortrag gewählt. HanS Jürgen hatte diese Melodie bereits einmal von Jrma'S Lippen vernommen; damals, er entsann sich dessen genau, in jener seligen Zeit, als er noch gehofft, ein glück licher Mensch zu werden, hatte Irma ihm da« alte Lied vorgesungen. Als die Strophen: „Es schütteln nieder vom Lindenbaum Die zarten Blütheu manch' schönen Traum" so weich und innig von Jrma'S Lippen quollen, da erschien sie selbst in ihrem weißen Kleid«, ihrer unsagbar lieblicken Anmuth wie eine Verkörperung des schönsten Traumes, der je in ein Mcnzenherz gelächelt. HanS Jürgen hätte seine Arme au-breiten und daS schöne Mädchen an seine Brust reißen mögen. Konnte, sollte er wirklich jede Hoffnung, Irma zu besitzen, aufgeben ? Mußte er eS nickt? Sie galt ja für die Braut Harald Inger-Heim'«. Er war überzeugt, daß die Baronin, welche den Sohn ihrer alten GutSnachdarn immer protegirt, diese Partie für Irma wünsche. Und mußte Letztere ibn jetzt nach seiner kurzen unglück lichen Ehe mit Hortense nicht doppelt verachten? Er kam sich ja selbst so verächtlich vor. Könnte er doch ein neues Leben beginnen! Aber dazu schien eS für ihn zu spät. „Lommerd, lieber Freund, gehen wir! Mein« Tante hat mir huldvoll zugrläckel», ich bin beglückt dadurch und kann nun getrost mich in dem Bewußtsein, mein« Pflicht erfüllt zu haben, durch ein Wiener Schnitzel stärken." De« Annoferschen Worte weckten HanS Jürgen auS seiner Traumbefangenhrit, aber immer kam er sich wie verzaubert vor, er starrte auf da- nun leer« Podium, auf den Fleck, auf dem Irma eben noch gestanden, dir ganz« gläuzende Versammlung im Saal schien für ihn «ickt zu ezistirrn. „Nicht wahr, sie singt ganz hübsch, di« Kleine?" sagte, sich an dem Verstummen seine« Freunde« weidend, der Annofersche. „Aber gehen wir, der Trödel hat «in Ende." „Hübsch?" brauste Han- Jürgen auf. „Wie kannst Du für dies« Stimme blo- ein banal«- Hübsch haben!" „Ach, Pardon, ich wußte nickt, daß Du Musikschwärnicr bist, Han- Jürgen, ich hin allerdings nur Laie und maße mir daher kein Urtheil an." „Tie Baronin und mein Sohn sind hier in Reval", stieß Hans Jürgen hervor, während er und sein Begleiter unter den Ersten sich anschickten, den Saal zu verlassen. „Ich wußte e- nicht."
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