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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 02.05.1899
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1899-05-02
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18990502018
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1899050201
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1899050201
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1899
- Monat1899-05
- Tag1899-05-02
- Monat1899-05
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Größere Schriften laut unserem Preis- verzeichniß. Tabellarischer und Ziffernlatz nach höherem Tarif. t-xtra-Beilagen (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderung 69.—, mit Postbefvrderuug 70.—. Ännahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Bormittags 10 Uhr. Marge n-Ausgabe: Nachmittags 4 Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stund« früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. 22«. Dienstag den 2. Mai 1899. 93. Jahrgang. „Deutschland als Vorbild für England." Llaäö in LnZIanä. Wie sich doch die Zeiten geändert haben! Früher mußte etwas englischer Herkunft sein, um als vollkommen zu gel ten, und die Engländer selbst waren von ihrer Ueberlegenheit so überzeugt, daß sie eigens di« Fabrikmarke„Llacko in Oermnn^' ersannen, um die Wäare als deutsch und damit als miwderwerthig zu brandmarken. Inzwischen ist aber doch die Logik der That- sachen so unerbittlich rücksichtslos über diese rückständige An schauung zur Tagesordnung übergegangen, daß gerade das Edelste, was man als macks in Oerwan/ bezeichnen kann, unsere deutsche Cultur, zuM Theil bereits eine völlige Umwerthung in England erfahren hat, derart, daß sie denjenigen Engländern, die nicht in nationalen VorurtheAen befangen sind, sogar als nachahmenswert erscheint. Hier und da Hai sich dies« Ansicht auch schon ans Tageslicht gewagt. Vielleicht aber ist noch nie so unumwunden der Wahrheit öffentlich die Ehre gegeben wor den, wie in der Aprilnummer dec angesehenen englischen Mo natsschrift „The Nineteenth Century" unter dem Titel ,.Ocr- monv L8 an ObjöLt-l-essoch', d. h. ungefähr: Deutschland ein Vorbild für England. (Object-Ie^cm — Anschauungsunterricht.) Das Erscheinen dieses Artikels ist ein ganz merkwürdiges Symptom und wird es wohl rechtfertigen, wenn wir die Leser dieses Blattes mit dem Gedankengange dieser beachtenswerthen Arbeit bekannt machen. Der Verfasser giebt zunächst in wenigen großen Zügen einen Ueberblick über die außerordentlichen Fortschritte, die Deutsch land und sein bisher von den Engländern so von oben herunter angesehenes Volk in den letzten Jahrzehnten gemacht Haden, und fragt, was denn die Ursache dieses glanzenden Aufschwunges sei. Er giebt daraus die Antwort: „Disciplin und Verstand", und bezeichnet Beides als das Ergebniß unserer politischen, mili tärischen und socialen Einrichtungen. Um sein« Behauptung zu begründ«», erinnert er zuerst daran, mit welchem mitleidigen und verächtlichen Lächeln in England von dem „landesväterlichen Bevormundungssystem" („paternaUgrn")Deutschlands gesprochen werde, weil der Engländer die Beschränktheit dieses Systems immer mit der ruhmvollen Freiheit der Selbstverwaltung ver gleicht. Und doch verdanke Deutschland dem Gefühl für persön liche Verantwortlichkeit und dem hohen sittlichen Ernst«, der sein« besten Herrscher beseelt habe, nicht alleine seine politische Macht, sondern auch seine steigende materielle Wohlfahrt, die sich der Engländer nur schwer erklären könne. Daß dem deutschen Volke seine Herrscher den Begriff des Gehorsams, der Disciplin, der Pflicht, der Einfachheit des Lebens und der sittlichen Ver antwortlichkeit eingepflanzt hätten, sei nicht vergebens gewesen. Sodann findet der Verfasser die englische Kritik des deut schen „Militarismus", ebenso wie die des „Bevormundungs systems", voller Vovurtheile, um nicht zu sagen voller Heuchelei. Was man im gewöhnlichen Sinne unter Militarismus verstehe — die Uebertreibung des militärischen Elements über die unbe dingte Nothwendigkeit hinaus —, lasse sich nicht auf Deutschland anwenden. „Wer ist Schuld daran, daß die friedfertigste Nation der Welt sich mit einem starrenden Stahlgürtel umgeben hat? Wer anders als Frankreich, das mit der gloirs auf den Lippen und dem Schwerte in der Faust zweihundert Jahre lang der rauflustige Bedroher Europas und besonders Deutschlands ge wesen ist?" Man könne ja zugeben, daß einer militärischen Organisation, wie der Deutschlands, immerhin einige mit der Organisation selbst zusammenhängende Fehler anhafteten, aber könne man, selbst vom Standpunkte der Humanität und der Monal, blind sein gegen die ungeheuren Vortheile, die sie habe als eine Schule der Selbstbeherrschung und jener großen und heldenhaften Eigenschaften, di« zu allen Zeiten dem Stande des Kriegers eigenthümlich gewesen seien? Wenn nun aber Deutschlands politische und militärische Ein ¬ richtungen sein Volk zum disciplinirtesten der Erde gemacht hätten, so sei es nicht weniger wahr, daß diese selben Einrichtun gen mittelbar das Ziel verfolgt hätten, es auch zum intelligen testen zu machen. Dieses Land des Blutes und Eisens besitze auch di« besten Schulen in der Welt und habe im Volksschulwesen einen Standpunkt erreicht, den demokratisch regierte Staaten, wie England, Frankreich und die Vereinigten Staaten, erst müh sam zu erreichen strebten. Wie willkürlich die politische Me thode der deutschen Fürsten auch gewesen sein möge, so hätten sie doch unter den Vorkämpfern für Erziehung des Volkes stets mit in vorderster Reihe gestanden. Man sehe deutlich, wie ein Regierungssystem, das das gesammte Schulwesen von vorn herein auf Disciplin gründe und dafür Sorge trage, daß es in den Köpfen der Unterthanen nicht mit der Vorstellung des selbst süchtigen Interesses oder des persönlichen Dünkels, sondern mit der der Pflicht und der Selbstverleugnung verbunden sei, deck Lande ganz unschätzbare Wohlthaten zugewandt habe, Wohl- thaten, die wahrscheinlich keine andere Verfassung, wie menschen freundlich auch ihre Tendenz gewesen sein möchte, dem Lande in gleichem Grade hätte zuwenden können. Und gerade dieser Geist soldatischer Tugend, den der Gelehrte und der Soldat mit ein ander gemein hätten, habe die deutsche Erziehung zur besten in der Welt gemacht. Aber düse bewunderungswürdige Schulung sei nicht nur der Literatur und der Kunst zu Statten gekommen, sondern gerade die praktische Verwerthung von Thatkraft, die Nutzbarmachung von Geisteskraft für materielle Zwecke, sei eine der hervorragendsten Eigenthümlichkeiten des modernen Deutsch lands. Und wie bescheiden sei 'dabei der Deutsche! Ein junger Deutscher, wie glänzend auch sein« Fortschritte auf der Hochschule gewesen sein möchten, sei nur zu froh, wenn er irgend eine leitende Stellung in irgend einer Branche des praktischen Ge schäftslebens einnehmen könne, sei es die eines Handlungsreisen den, eines Seifensieders oder Dllngerfabrikanten. Das mache der Sporn, der in der Armuth liege, die gebieterische Nothwendig keit, sich „eine Existenz" zu suchen, und die Freiheit von Selbst überschätzung. Die groß« Lehre, die Deutschland der gegenwärtigen Gene ration Englands zu geben hat, ist nach dem Verfasser die, daß es von unendlichem Werthe ist, überall verständig vorzusorgen, sei es in der Politik, im Handel oder im Schulwesen. „Das geistige Uebergewicht des deutschen Volkes, gegründet auf strenge Zucht, ist zugleich die Quelle und das Unterpfand seines materiellen Ge deihens. Und gerade in diesem Betracht, in seiner stets bei Zeiten sorgenden Vorsicht, seiner vorausblickenden Ueberlegung, seiner genau berechneten Thätigkeit bietet es einen so schlagenden Gegen satz zu England; denn unter den Großmächten der Erde ist keine, die sowohl in ihren Individuen, als in ihrer Gesammtheit einen so feststehenden Ruf wegen ihrer Ueberspanntheit und Sorglosig keit besäße, wie die englische Nation. Es ist nach und nach dahin mit uns gekommen, daß wir es für ein angeborenes Recht der Engländer und ihrer Herrscher ansehen, sich über Principien und ihre Einzelheiten hinwegzusetzen, der Vernunft ins Gesicht zu schlagen und gleichwohl zu erwarten, daß wir „durchkommen". Was uns zur Action spornt, ist die Furcht, ins Hintertreffen zu kommen, handel« es sich nun um die Abgrenzung des westafrikani- schen Gebietes oder um die plötzliche Erkenntniß, daß es am Ende doch so etwas wie kaufmännische Bildung giebt. Wenn wir noch in elfter Stunde den Volksschulunterricht eingeführt haben, so verdanken wir die Anregung dazu Deutschland; wenn wir in neuerer Zeit etwas für die Landesvertheidigung oder für die Ent wickelung unserer Colonien gethan haben, so verdanken wir es ganz vorwiegend den Beispielen, die dasselbe Land uns gegeben hat, und der Meinung, die es sowohl durch seine geistige, wie durch seine physische Ueberlegenheit in uns genährt hat, daß eine , Nation sich organisiren muß und daß sie ohne Organi sation nichts ist als ein Haufe Pöbel, eine träge Masse, unfähig zu jedem zusammenhängenden Denken und Handeln. Es kann ohne jede Uebertreibung behauptet werden, daß wir mit dem Emporkommen Deutschlands in «ine neue Aera unseres natio nalen Lebens eingetreten sind. An die Führung der politischen Geschäfte hat man seitdem einen ganz neuen Maßstab angelegt." Der Verfasser schließt mit dem Hinweis darauf, wie noth- wendig es sei, die öffentliche Erziehung ernsthaft und gründlich zu betreiben. „Unsere geistigen Interessen sind noch auf weite Strecken außer Berührung mit unseren praktischen. Der flüchtige Antrieb gemeinverständlicher Curse und Vorlesungen, das Flick werk des Ergänzungsunterrichts, öffentliche Prüfungen über Gegenstände, deren Grenzen nicht genau festgesetzt sind und für die es keine verantwortliche Vorbereitung giebt, zahllose Zeugnisse fraglichen Werthes wirken ja unzweifelhaft alle als geistige An reize. Aber für den Concurrenzkampf der Völker auf kauf männischem und gewerblichem Gebiete können dergleichen Dinge doch immer nur traurige Nothbehelfe sein. Sie können eldem Volke wohl Kenntnisse vermitteln, aber seine Erkenntnißkraft können sie nicht fördern. Solche Mittelchen gegen die moderne deutsche oder französische Schule mit ihrem klar bestimmten und den Lehrstoff auf Jahre hinaus festlrgenden Lehrplane, mit einem durchaus praktischen und unmittelbar auf den Beruf zu geschnittenen Ziele aufbieten zu wollen, hieße Pfeil und Bogen gegen moderne Schnellfeuergeschühe ins Feld führen." Wenn wir diese englische Stimme hier so ausführlich haben zu Worte kommen lassen, so wollen wir uns durchaus nicht mit a l l en ihren Ausführungen einverstanden erklären und gleich zeitig ausdrücklich betonen, daß uns dabei ganz fern liegt, hoch- müthig zu denken, wie der Pharisäer im Evangelium: „Gott sei Dank, daß ich nicht bin wie dieser hier." Wir wissen, daß auch uns noch der Schuh drückt, und wir wissen auch, wo er uns drückt. Aber unsere Freude wollen wir ausdrücken über die tapfere That unseres englischen Freundes: Der Mehrheit seiner Landsleute wird sein Lied nicht wie Musik in den- Ohren klingen, und ihnen gegenüber wird er gewiß einen schweren Stand haben. Hoffen wir jedoch, daß nach und nach drüben die besonnene Stimmung, wie sie hierzumAusdruckegekommen ist, wiederBoden gewinne. Dann wird vielleicht auch wieder an «ine Annäherung der beiden jetzt einander so bitter entfremdeten Völker zu den ken sein. Deutsches Reich. * Berlin, 1. Mai. DaS Urtbeil in der Löb tau er LandfriedenSbruch-Sache bildete den Ausgangspunkt einer Anklage, die den Redacteur deS „Vorwärts" vor die 4. Strafkammer des Landgerichts I Berlin unter Vorsitz deS LandgerichtsdirectorS Dense führte. Der Angeklagte wurde beschuldigt, durch den mit „Dreiundfünfzig Jahre Zuchthaus" überschriebenen Artikel in Nr. 31 des „Vorwärts" vom 5.Februard. I. das königliche OberlandeSgericht in Dresden durch Behauptung und Verbreitung nicht erweislich wahrer Thatsachen beleidigt zu haben. In dem Artikel wurde gesagt: Wohlbekannt sei die Spruch-Praxis deS höchsten sächsischen Gerichtshofes, der oft ohne Umschweife die Angehörigen der Arbeiterpartei als „minderen Rechts" erklärt habe, denn andere Staats bürger. Vorher war in dem Artikel etwa Folgendes aus- gesübrt worden: Die politischen Zustände in Sachsen seien allbekannt. Sachsen sei der klassische Boden des Kampfes zwischen Proletariat und der Reaktion. Dort führe die herrschende Classe ein Regiment, in dem Brutalität und Tücke, gekleidet in Formen der Verbindlichkeit und Höflichkeit, mit einander wetteife'-n. — Der Angeklagte bestritt, daß eine Beleidi gung vorliege. Thatsache sei eS, daß die sächsischen Gerichte die gegen Mitglieder der Arbeiterpartei anhängigen Strafsachen mit ungeheurer Schärfe führten und oft zu Strafen kämen, die gegen die Mitglieder anderer Elasten nie in Anwendung gebracht würden. Der Vertheibiger Rechtsanwalt Wolfgang Heine hatte in seiner Schutzschrift auf eine Reibe von Urtheilen des Dresdener OberlandeSgerichtS Bezug genommen und gab anheim, diese Urtheile zu verlesen; er nehme aber an, daß die in den Annalen abgedruckten Uribeile dem Gerichtshöfe bekannt seien. Staaatsanwalt Plaschke wider sprach der Verlesung, soweit nicht die Ausfertigung solcher Urtheile selbst vorliege. Eine Verlesung aus den Annalen halte er nicht für zulässig. Im klebrigen würde eS nothwendig sein, die betr. Richter des Dresdener Oberlandesgerichts vorzu laden, um sie persönlich darüber zu vernehmen, welchen subjektiven Standpunkt sie bei Fällung ihrer Urtheile eingenommen haben. Der Artikel drücke zweifellos auS, daß die Richter parteiisch Recht sprechen und namentlich parteiisch gegen Arbeiter vorgehen. — N.-A. Heine: Die Verlesung der Urtheile solle beweisen, daß das OberlandeSgerickt in Dresden zu einer Auslegung der Gesetze komme, die faktisch den Mit gliedern der Arbeiterpartei Rechte mindern, die anderen Staatsbürgern belassen würden. — Staatsanw.: Der Sinn des Artikels gehe zweifellos dahin, daß die Richter des Oberlandesgerichts das Recht beugen und zum Schaden der Mitglieder der Arbeiterpartei absichtlich falsch urtheilen. — R.-A. Heine: Die gestellten Beweisanträge sollten nur darthun, daß das Oberlandesgericht in seinen Urtheilen diesen und jenen Satz wirklich geschrieben habe. Es handle sich um Urtheile, in denen es für zulässig erachtet worden, socialdemokratische Sammlungen zu verbieten und ausdrücklich anerkannt werde, daß sonst daS Verbot solcher Sammlungen nicht zulässig sei. In anderen Urtheilen trete ein Unterschied in der Behandlung von Beifalls- und Mißfalls bezeugungen hervor, ferner ein Unterschied in der Behandlung socialdemokratischer Flugblätter, deren Vertheilung zum groben Unfug gestempelt werde. Aus der ganzen Ausdrucksweise deS Oberlandesgerichts, das ungenirt von den „Socialdemokraten" und den „Gutgesinnten" spreche und damit von der sella cm'uli8 in den Streit der Parteien sich begebe, folgere der Artikel, daß die Angehörigen der Arbeiterpartei als „min deren Rechtes" angesehen würden. — Der Staatsanwalt widersprach nochmals aus processualen Gründen der Ver lesung der Urtheile aus den Annalen; Rechtsanwalt Heine beantragte unter diesen Umständen, die Urtheils-AuSsertigungen einzusenden. — Der Gerichtshof beschloß, alle die Acten deS Oberlandesgerichts Dresden und der Vor instanzen einzufvrdern, in welchen sich die vom Vcr- theidiger angezogenen Entscheidungen befinden, und nach Ein gang der Acten einen neuen Termin anzuberaumen. — Das sieht ja beinah wie eine Nachprüfung der Entscheidungen sächsischer Gerichte aus! * Berlin, 1. Mai. (Eines deutschen Künstlers Begräbniß.) Aus Goslar schreibt man der „Volksztg." vom 28. d. M.: „Wie man in Deutschland einen großen, gefeierten Künstler bestattet, oder vielmehr wie man ibn nicht bestatten darf, das hat die große Gemeinde der Freunde und Verehrer des am Dienstag hier verstorbenen GeschichtSmalerS Professor Wislicenus, die sich gestern I zur Trauerfeier im Kaiserbause einsand, erfahren müssen. Zunächst erfuhr man, daß das Eonsistorium zu Hannover dem hiesigen Pastor die Erlaubniß zu einer kirchlichen Feier am Sarge des Entschlafenen verweigert batte, weil der Künstler bestimmt hatte, daß seine irdischen Ueberreste in Gotha verbrannt werden sollten. Der Pfarrer, der dem Verstorbenen im Leben als Freund nahe gestanden und ihn als tiefreligiösen Ehrislen kannte, fuhr selbst nach Hannover; aber er konnte die Herren von ihrer Anschauung nicht abbringen, daß Wislicenus ein Heide sei, dem die Kirche ihren Segen versagen müsse. Nun, der Pastor hat trotzdem am Sarge gesprochen. So warm, so begeistert und so überzeugt sprach er von dem Dahin gegangenen als einem großen Künstler, als einem edlen Menschen und als einem treuen Christen. Aber nicht als Pastor, sondern als Freund im Gehrock. Aber die Frnrlletoir- Eine neue Vegetarier-Zecte. Gründungsbericht von vr. Gustav Stein. Nachdruck verboten. Sehr geehrte Frau und li«be Freundin! Freiburg i. B., 30. März 1899. Als ich mich vor einigen Togen in Berlin von Ihnen verab schiedete, verlangten Sie von mir, daß ich Ihnen von Zeit zu Zeit Kunde von meinem Ergehen geben sollte. Mit meinem Ver sprechen, daß Sie eine der Ersten sein sollten, denen ich aus Nizza, dem Ziel meiner Reis«, schreiben würde, wollten Sie sich nicht begnügen, denn Sie meinten — und vielleicht nicht ganz mit Unrecht —, daß es bei meiner Art, zu reisen, zweifelhaft sei, wann ich und ob ich überhaupt nach Nizza kommen werde. Da rauf ließ ich mich verleiten, zu versprechen, daß ich Ihnen schreiben werd«, sobald mir etwas passiven würde. Ich gab das Versprechen leichten Herzens, denn was kann Einem in unserer trostlosen, durch Eisenbahnen und elektrisches Licht der Poesie beraubten Zeit beim Reisen passiven! Heute sehe ich ein, wie leichtsinnig ich war, denn es ist mir etwa» passtrt, an da- ich nach meinem mißglückten Trauerspiel nicht mehr geglaubt hätte: >ich bin auf dem besten Wege, ein be rühmter Mann zu werden, und zwar verdanke ich dies« Chance meinem Uobertrrtt zum BegetaviamSmus. Hier sehe ich Sie körperlich vor mir, wie Sie den Brief fortiegvn, sich cm die Stirn fassen und murmeln: bin ich verrückt oder ist Hern Müller verrückt? Ernst Müller mit seiner Vorliebe für getÄffel'te Poularden, für Rebhühner und Gänseleber- Pasteten Vegetarier? Das geht über mein Begriffsvermögen. Beruhigen Sie sich, meine liebe Freundin; Sie wissen, ich bin stets für das Chronologische gewesen. Ich werde Ihnen die Sache chronologisch dortvqgen, und am Schluß werden Sie sehen, daß wir alle Beide bei vollem Verstand« sind. Vielleicht entschließen Sie sich sogar, der neu«n Secte beizutreten. Al» ich mich in Berlin in den V-Zug setzte, fand ich in meinem Toupü — Pardon: Abtheil — einen gut autsehenden Mann von etwa dreißig Jahren, mit dem ich bald in ein Gespräch kam. Worüber? Nun, worüber eben zwei sich fremde Menschen sprechen, lieber das Wetter, über die Schnelligkeit des Reifens, über Bismarck's Memoiren und über noch vieles Andere. End lich holt« mein Reisegefährte eine Buttersemmel aus der Tasche, der bald eine zweite und dritte folgte. Sie wissen, daß ich auf der Eisenbahn niemals etwas esse oder trinke, und so setzte mich der gute Appetit meines Gefährten in Erstaunen, besonders da ich be merkte, daß seine Taschen noch mehr solcher Buttersemmeln"ent hielten. Er mochte mein Erstaunen bemerken, und glaubte eine Erklärung dieses Reichthums an Buttersemmeln geben zu müs sen. Sehen Sie, sagt« er, ich bin Vegetarier, und um unterwegs, wo es ja doch nur Fleischspeisen und mit Fleisch belegte Brödchen giebt, nicht hungern zu müssen, habe ich mir in Berlin im Central--Hotel beim Kaffee von den L ckisorßtion dastehenden Brödchen »ine Anzahl mit Butter bestrichen und eingesteckt. Auch eine Art Discretion, dachte ich, aber der Teufel ritt mich und ich sagte: Ach, Sie sind 'Vegetarier, wie mich das freut. Ich bin es auch und ich freue wich immer, wenn ein so wohlge- nöhrter und so kraftvoll aus sehender Herr, wie Sie es sind, Zeugniß ablegt gegen di« Thoren, die den Vegetarianismus für gesundheitsschädlich halten. Nun war ich im Zuge, und auf der ganzen Fahrt bis Frankfurt unterhielten wir uns sehr eifrig über die Vorzüge und über die Eulturmission des Vegetarianismus, wobei mir meine Enthaltsamkeit, deren ich oben gedacht habe, half, die Maske aufrecht zu erhalten. Und während wir so sprachen, kamen Mir auch wirklich allerhand 'Ideen über di« Vor züge des Vegetarianismus. So konnte ich z. B. meinem Ge fährten, als er anfühvt«, daß in Asten viele Millionen, die nur von Reis leben, kräftig und arbeitstüchtig sind, antworten: Wozu in die Ferne schweifen, sich, das Gut« liegt so nah. Haben wir nicht bei uns in Deutschland die Provinz Pommern, wo die Leute fast nur von Kartoffeln leben und trotzdem ganz tüchtig arbeiten können. Ich möchte fast behaupten, daß Bis marck dem Umstande, daß er seine Jugendjahre in dieser vege tarisch angehauchten Provinz zugebracht Hai, ein gut Theil seiner Größe verdankt. Mein Gefährte sah mich bewundernd an und drückte mir gerührt die Hand. Endlich kamen «wir aber doch in Frankfurt an, wo wir ein« Stunde Aufenthalt hatten. Hier gedachte ich meinen inzwischen recht heftig gewordenen Hunger zu ftill«n, und mein Reisegefährte wollte trotz der 10—12 Brödchen, di« er verzehrt hatte, das Gleiche thun. Ich gab dem Kellner meinen Auftrag und hörte, wie mein Geführt« sich Schoten mit Pfannenkuchen — wie man in Sü'ddeutschlcmid unfern Berliner Eierkuchen nennt — bestellte. Wir setzten uns zusammen an einen Tisch, und nun stellen Sie sich das Gesicht meines Reisegefährten, der sich mir unterdessen als ein Herr Welk-on aus Pommern genannt hatte, vor, als er sah, daß der Kellner mir ein Beefsteak bracht«, dessen Vertilgung ich sehr eifrig in Angriff nahm. »Ich —denke — Sie — sind — Vegetarier", kam es endlich langsam und zögernd über sein« Lippen; „Sie haben die ganze Fahrt hindurch Ihren Spott mit mir getrieben!" Oh Du ahnungsvoller Engel, dachte ich, laut aber sagte ich: „Gott bewahre; ich bin wirklich überzeugter Vegetarier, es kommt nur darauf an, wie man die Sache aufsaht. Sehen Sie, lieber Freund", fuhr ich fort, „ich war so überzeugt von der Richtigkeit der vegetarischen 'Lehre, daß ich mich zur strengsten Observanz hielt und nur unzuberertvte Kräuter und Obst genießen wollte. Aber trotz aller Mühe und aller 'Begeisterung für die Sache wollt« mir das Gras und die rohen Salatblätter ebenso wenig schmecken wie die rohen Kartoffeln, und da sah ich mich denn nach einem Koch um, >d«r sic mir schmackhaft zubereiton konnte. Lange sucht« ich vergebens, keiner machte «s mir recht. Endlich kam mir «ine sublime Idee. Hat uns nicht, so fragte 'ich mich, Gott selbst in dem Rindvieh einen Koch gegeben, der uni da» Gras und son stige Kräuter so verarbeiten kann, daß sie sür uns schmackhaft sind? Dies« Frage mußte ich mir auf Grund des gesunden Menschenverstandes bejahen, und seitdem ist mir das Festhalten an den Lehren des Vegetarianismus ganz leicht geworden." Mein guter Herr Welton hatte mir mit gespannter Aufmerk samkeit zugehört, und als ich schloß, sagte er: „Die Sach« ist wohl des Nachdenkens Werth", und auf der Fahrt bis Heidelberg, wo wir Beide übernachten wollten, war er auffallend schweigsam. In Heidelberg stiegen wir im Hotel Schneider ab; als wir uns im Spc-isesaa! trafen, bestellt« ich ein junges Huhn und Herr Welton ein Kalbsschnitzel. Er hatte sich der überzeugenden Ge- walt meiner Gründ« nicht verschließen können, und wenn er sich auch für'S Erste noch nicht an Ochsenslcisch wagen wollte, so glaubte er doch, «S al» junger Anfänger meft«r Theorie für'» Erst« mit 'Kalbfleisch probiren zu können. Wie ich zu bemerken glaubte, behagle ihm dir Probe ganz gut, und als wir nach dem Abendessen noch etwas plauderten, gestand er mir, daß ich ihm ganz neue ^Getsichispuncte eröffnet habe, die für die Ausbreitung der vegetarischen Lehre 'von ganz ungemeiner Wichtigkeit seien, daß er sich mir voll und ganz anschließe und daß er als Apostel meine Lehre wsiter verbreiten werde. Möge er Erfolg haben. . . . Als ich mich in Oos von ihm trennt«, drückte er Mir ehrfurchtsvoll die Hand und verab schiedete sich mit dm Worten: „Meister, 'Dein Schüler wird Dir Ehre machen; in einem Jahre werden Tausende und aber Tausende zu Deiner Lehre schwören!" Wie mich das Wort „Meister" elektrisirte; ich sehe mich schon an der Spitze einer getreuen Schaar von Anhängern, die zu meiner Lehre von dem durch das Rindvieh geläuterten Vege tarianismus schwören, und ich hoffe, daß Sie, mein« liebe Freundin, di« Sie ja so viele meiner Neigungen theilen, nicht in der Schaar Derer, sie der Fahne des neuen Vegetarianismus folgen, fehlen werden. In der Hoffnung, daß mich noch hier in Freiburg, wo ich, entsprechend meiner Gewohnheit, langsam und bedächtig zu reisen, acht Tage zu bleiben gedenke, Ihre zusagende Antwort treffen wird, schließe ich mit den herzlichsten Grüßen an Sie und alle unsere Freunde in dem lieben Berlin. In hochachtungsvoller Verehrung Ihr Ernst Müller, Vorsteher der Vegetarier neuester Observanz. k. 8. Vielleicht finden Sie unter unseren Berliner Freunden noch einige, die unserer Gemeinde beitreten wollen. D. O. Zweites Postskript: Es soll an der Riviera ganz aus- gezeichnet« Langusten geben. Haben Sie nicht unter Ihren vielen Freunden einen Zoologen, der Ihnen die Versicherung geben kann, daß die Langusten sich von Alg«n und anderen See pflanzen nähren und diese so für die menschliche Nahrung zubereiten? Wenn ja, so bitte ich Sie, es mir so schnell als möglich mit- zutheilen; Sie können überzeugt sein, daß ich es «hm jede Kritik unbedingt glauben werde. D. O.
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