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Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 21.05.1899
- Erscheinungsdatum
- 1899-05-21
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-189905219
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-18990521
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-18990521
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1899
- Monat1899-05
- Tag1899-05-21
- Monat1899-05
- Jahr1899
- Titel
- Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 21.05.1899
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Größere Schriften laut unserem Preise verzeichniß. Tabellarischer und Ziffernsatz nach höherem Tarif. Sxtr«»Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbefürderung SO.—, mit Postbefürderung 70.—. Ännahmeschluß für Anzeigen; Ab end «Ausgabe: Vormittags 10 Uhr. Morgen-AuSgabe: Nachmittag» 4 Uhr Bei den Filialen und Annahmestellen je »in» halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Erpeditia« zu richten. Druck und Verlag von E. Polz tn Leipzig. Sonntag den 21. Mai 1899. 93. Jahrgang. Aus -er Woche. In voll eulsalteter Frühlingspracht begrüßt die Natur die lieben Pfingsten; strahlendes Licht, oa» Symbol deS Geistes, leuchtet dem Feste des Geistes. DaS Christenthum friert seinen höchsten Sieg, da» Durchbrechen der Schranken, die ein ÄolkS- thum der GotteSerkenntniß gezogen hatte. Die Apostel pre digten zu Pfingsten in fremden Zungen, und wie sie nicht die Obrigkeit der Heimatb scheuten, so waren sie nicht ängstlich, den Untergebenen anderer Gewalthaber ihre neue Wabrbeit zu künden. Vielleicht gedenkt dessen heute manch ein Deutscher imReiche.der den nach reineremGlauben ringenden.noch dazu durch keine BolkStbumß-Schranke von unS getrennten Nachbarn in Oesterreich, allzu viel bedenkend, ein starres Antlitz zeigt. Die Weisheit, die die gut« Regel xas trop cke Mo ausgestellt, erheischt auch die Vermeidung des zu Wenigen, und wir ver balten unS sehr „staatSmannisch" gegen die Brüder im Süden und Osten. Und doch ist es unser Kamps, den zu kämpfen sie sich mühen, und das sollte nicht verkannt werden in diesen Tagen, die eS sehen, wie den einen Augenblick von Rom» Wegen abgewichenen Schell selbst die die Mannes würde opfernde reuige Rückkehr nickt vor Verfolgung schützt, und die in Preußen von Streit erfüllt sind, weil die Evan gelischen sich vermaßen, die Erinnerung an die bittere Todes stunde deö ErleuchterS der Psingstapostel vor der Störung des AlltagslärmS bewahren zu wollen. DaS Christenthum ist der Friede, und wenn dieser nicht verwirklicht werden kann, so ist eS darum, weil jenes in seiner vollen Fleischwerdung aus den Widerstand der irdischen Dinge stößt. Hier wie dort wird die Menschheit nicht über das Streben hinauökommen. Sind die Gedanken, die zu der vor Pfingsten im Haag eröffneten FriedenSconferrnz führten, auS aufrichtigem Streben nach einer höheren Form deS Ausgleichs von Völkerzwistigkeiten hervorgegangen, so sei das Unternehmen des mächtigen Zaren als ein christliches Geschenk begrüßt. Wird eS von Erfolg gekrönt und sei er noch so klein, so sei auch dem Zaren allein die Ehre, wie bei der Eröffnungsfeier in der holländischen Negierungsstadt nur von ihm die Rede gewesen ist. Deutschland wird neidlos mitwirken und russische Stimmen, die unser Vater land als dem Erreichbaren feindlich - gesinnt schil derten, sind nun auch zum Schweigen gebracht durch die gestern mitgetheilte. schwungvolle. Anerkennung deS guten Willens Deutschlands, der von Aufrichtigen freilich keinen Augenblick verkannt werden konnte. Es entsprang einem Hasse gegen Deutschland, der sich plump genug in das Gewand der Friedensliebe kleidete, wenn die Absichten eines deutschen Schriftstellers, der späterbin als Mitglied der Haager Conferenz bestellt wurde, entstellt wurden. Ganz deutlich War der böse Sinn zu erkennen an der Ausstreuung deS Gerüchts, Professor Stengel'S in ihrem Erscheinen zufällig mit der Ankündigung deS ZarenprojecteS zeitlich ungefähr zu- sammcnfallende Betrachtung sei Nicolaus II. von ihrem Ver fasser zugesandt worden. Dieses scklimme Treiben rückt den Standpunkt, von dem auS Vie Friedenssehnsucht der Völker der Erfüllung genähert werden kann, in den Vordergrund. Man kann angebliches Trachten nach Frieden zum Vorwande eines Streites werden lassen, und da« ist sogar ein in der Geschichte oft gesehener Kniff. Und eS kommt nicht auf die Zahl der zur Kricgstüchtig- keit Herangebildeten, sondern auf die Politik der Staaten an. Deshalb gebührt am heutigen Tage nicht dem Zaren die Palme, sondern Transvaal, das schroffe Herausforderungen mit der der Entwicklung dieser Republik vielleicht nickt vor- theilhaften Zugänglichmachung des Bürgerrechts für die Aus länder beantwortet und damit einer mit starker Heuchelei ge paarten Unfriedfertigkeit den Weg znr Gewalt für eine Weile verrammelt hat. DaS ist „praktisches Christenthum", wäh rend wieder auftauchendc französische Betrachtungen über die Möglichkeit und Nothwendigkeit eines Verzichts auf die Revanche und die Zurückgewinnung von Elsaß-Lothringen nach wie vor in das Bereich arglistiger Einschläferungspolitik zu verweisen sind. Gäbe man uns Garantien für eine solche Verzicktleistung, so würden sich die stehenden Heere Europaß ohne Haag uni viele Hunderttausende vermindern; aber noch zeigt sich für unser Vaterland keine andere Garantie als die — Nichtverminderung der Abwebrkräfte. Die englisch en Zeitungen, die das Complot gegen Trans vaal als eine vom Präsidenten Krüger inscenirte Komödie angesehen wissen möchten, verrathen einen für das Land Shakespeare'» erstaunlichen Mangel an Phantasie. Vielleicht aber dachten sie: was die Geldgeber Bazzani's, des Autors der alexandrinischen Bombengeschichte, gekonnt, das kann man auch dem Boerenpräsidenten in die Schuhe schieben. Ter „Vorwärts" hat da Concurrenten bekommen. Ibm ist jede Lockspitzeltbat ein Beweis, daß eS keine revolutionären Ver brecher giebt, und das Gewebe von Alexandrien erst recht. Die Ermordung per Kaiserin Elisabetb, Carnot'S u. s. w. verlieren in den Spalten des socialdemokratischen Organs den Charakter von Tbatsachen angesichts einer erfundenen Atten tatserzählung. Diese gewaltthätige Logik ist aber weiter nichts als da» Zeichen eines schlechten Gewissens. So ent stellt man die Wahrheit nur, wenn man da» Gefühl mora- bscher Mitschuld an dem, was die Wabrbeit sagt, in sich trägt. Eins aber ist zuzugeben: dir Schwierigkeit, gemein same Sckritte der europäischen Staaten gegen die „Propaganda der That" zu unternehmen, hat sich durch das Lügenwerk Bazzani'S für eine Weile zur Unmög lichkeit gewandelt. Für die am meisten bedrohten Staaten ist aber der Gedanke des Irrenarztes Wendel, die Urheber von anarchistischen Verbrechen scharf aus ihren Geisteszustand zu untersuchen, trotz geäußerter Bedenken erwägenoiverth. Es ist gewiß richtig, daß Anarchismus wie Socialdemokratie an der Unterbringung der Caserio und Luccheni in Irrenhäuser» ebensoviel auSzusetzen baden würden, wie an der Hinrichtung oder der Einsperrung in« Zuchthaus. Aber für die nur mehr oder minder beifällig raisonnirende Corona statuirt man die Abschreckung nicht, sondern für den ruckloscn Perbreckerehrgeiz, für den die Vorstellung, daS NarrenhauS statt des durch die Gleichgesinnte» mit einem Nimbus umgebenen Blutgerüste- besteigen zu müssen, allerdings etwa» Abküblenderes haben dürfte.. Nimmt man nur auf die Kritik und nickt auf die Tragircnden Rücksicht, so hätte in an nach der Tbat Lucchcni's auch nickt an die Einführung der Prügelstrafe denken dürfen, waS dock bis in die Reiben der Demokratie und sogar der Social demokratie hinein der Fall gewesen ist. Mit dem Reichstag ist das preußische Abgeordneten haus in die Ferien gegangen. Was ihm bei seinem Wieder zusammentritt noch zu vollenden brswieden sein wird, liegt klarer zu Tage, als bei der Neichsvolksvertretung. ES muß die mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch im Zusammenhang stehen den Justiz gesetzt, eine schwierige Materie, erledigen, weil dies eine aus der zur Zugehörigkeit Preußens zum Reiche sich ergebende Verpflichtung ist, und es muß die Canalvorlage zu Ende berathen, weil der erregende Gegenstand keinen Auf- jchub über das Nothwendige hinaus verträgt. Daß die letztere Angelegenheit so bald als möglich, so oder so, aus der Welt gesckafft wird, daran hat Niemand ein größeres Interesse, als der deutsche Liberalismus, der durch die Methode eines starken TheilS der canalfreundlichen Publicistik aufs Aergste compromittirt wird. Man traut seinen Augen nicht, wenn man von Zeitungen, di« sonst mit Eifer sucht über die politische Unabhängigkeit aller Staatsbürger, insbesondere auch der Beamten, zu wachen sich den An schein gaben. Tag für Tag die preußische Regierung zur Aus übung eines Druckes und eventuell zur Maßregelung der dem Bau deS Mittellandcanals anscheinenend nicht ge neigten Beamten unter den Abgeordneten gedrängt sieht. Daß alle den conservativen Fractionen angehörigen politischen Beamten Gegner des Canals seien, glauben wir nicht. Von denjenigen, die sich als solche bekannt haben, ist im Interesse der öffentlichen Moral, die doch noch etwas wichtiger in als eine Wasserstraße, zu hoffen, daß sie fest bleiben. Und was die Regierung angeht, so ist das gerade Gegentbeil von dem der Fall, WaS man ihr täglich zu hören giebt. Die Autorität würde leiden, statt zu gewinnen, wenn die Negierung ihren Einfluß auf Volksvertreter, die zugleich Beamte sind, mißbrauchen sollte. Und dies um so mehr, als — nickt gerade heraus, aber doch sehr verständlick — weniger die Regierung als eine höhere Stelle al« diejenige bezeichnet wird, die ein verneinendes Votum von Beamten in der Canalfrage nicht dulden dürfe. Ebensowenig wie die Anrufung der „Autorität" gegen die Beamten, nützt eS der öffentlichen Moral und dem Liberalismus, wenn der Widerstand gegen Len Canalbau unausgesetzt als Ausfluß des Egoismus ge- brandmarkt, die Quelle der Befürwortung deS Unternehmens hingegen mit lästiger Aufdringlichkeit im lautersten Patriotis mus gejuckt wird. DaS ist eine zu plumpe Unwahrhaftigkeit, alS daß eS der politischen Richtung Derer, die sich ihrer schuldig machen, nickt Mißachtung eintragen müßte. Deutsches Reich. Berlin, 20. Mai. (Behördliche Wahlbeek»- flussung.) Bei der letzten Reichstags Wahl ist es hem Bunde d e r L a n d w i r t h e im 11. hannoverschen Wahlkreise Einbeck-Northeim-Osterode gelungen, den Hof besitzer Harriehausen vom Bund der Landwirthe unter Zersplitterung der nationalgesinnten Wähler mit wenigen Stim men Vorsprung vor dem nationalliberalen Kandidaten Forsts in die Stichwahl mit einem Soöialdemolraten und damit zum Besitze des Mandats zu bringen. Dank der Unterstützung her nationalliberalen Wähler siegte der Bundescandidat in der Stich wahl über den Socialdemotraten, dem die Welfen zu Hilfe ge kommen waren, Neber diese «Wahl, die die Bundessrgane als großen Sieg ihrer Bewegung feierten, hat nun die Wa hl- prüfungscommission des Reichstages zu entscheiden ge habt und sich dahin schlüssig gemacht, bevor über die Mltigüit der Wahl entschieden wird, besondere Beweiserhebungen zu veranstalten. Begründet wird dieser Beschluß durch ein gehende Mittheilungen im Eommissionsbericht, auS denen hervor geht, in welcher Weise behördlicher Einfluß für den Feuilleton. Rothe Rosen. Nach dem Englischen von A. Phillips. Autorisirte Uebersetzung von Thea Marion. V!»ü>dru<k verbot«n. I. ES war ein Ereigniß, etwas noch nie Dagewesenes, daß sich Fremde hierher verirrten, in die kleine Middlebrooker Capelle, die so herausfordernd an einer öden, nur mit Kartoffeln be pflanzten Böschung klebte, als wollte sie aus ihrer Häßlichkeit noch eine Tugend machen. Und nun, an diesem Sonntagmorgen gleich zwei fremde Gesichter! Der junge Prediger der kleinen Gemeinde, Pastor Newberry, machte eine secundenlange Pause, ehe er den Text verkündete, den er seiner heutigen Predigt zu Grunde gelegt hatte. Diese Pause wurde ihm zum Verhängniß, denn seine Augen fielen zum ersten Mal auf ein Gesicht, dessen Anblick ihn verwirrte, das ihm wie die Versuchung selbst erschien, abgesandt, seine Gedanken von getreuer Pflichterfüllung abzulenken. Zwar wendete er den Blick gleich wieder ab, aber zu spät, das Bild hatte sich bereits tief in seine Seele eingeprägt. Sie war ganz in Weiß gekleidet, nur ein Strauß tiefrother Rosen glühte an ihrer Brust. Aus der Menge gewöhnlicher Gesichter strahlte ihre Schönheit förmlich hervor. Von ihr allein schien Leben auszuströmen, zu ihm hinüberzuströmen, und unter diesem Eindrücke flössen ihm die Worte mit un gewohnter Kraft von den Lippen. Mit voller Wucht schleuderte er seine Sähe wider die eitlen Freuden dieser Welt und vor Allem wider die Sucht nach theatralischen Vergnügungen, die er aufs Heftigste verdammte. Dir» zielte hauptsächlich auf seine jüngeren Zuhörer ab, von denen einige die Vorstellungen einer gastirenden Gesellschaft in der nahen Amtsstadt besucht hatten und die auf diese Weise, wie er behauptete, mit offenen Augen in die Fallstricke deS Bösen hineinliefen, denn die Schau spieler selbst seien eine ganz verlorene, gottlose Sorte von Menschen, entartete Geschöpfe voll Leichtsinn, Weltlust und Verkommenheit. Des Predigers Stimme war klangvoll und biegsam. Seine schlanke Gestalt schien zu wachsen, während er vor der Sünden gefahr deS Komödienspiels warnte, und er schien ganz erfüllt von göttlicher Begeisterung, deren Abglanz seine etwa» bäuerischen Züge verschönte und sie interessant erscheinen ließ. Der Gottesdienst war -u Ende und der Geistliche stieg von der Kanzel herab, um wie gewöhnlich Begrüßungen mit seinen Gemeindekindern auszutauschen. Die beiden Fremden waren verschwunden. Ein schmerzliche- Gefühl der Enttäuschung durchzuckte New berry, als er die leeren Plätze bemerkt«. Aber voll Empörung über sich selbst sah er darin nur eine neue Heimsuchung deS bösen Geiste« und gab sich hie größte Mühe, dieses Gefühl zu unterdrücken. WaS gingen ihn schöne Gesichter an oder weltlich« Gefallsucht? Nichts, gar nicht»! Sein Sinnen und Denken sollte aus schließlich den Armen und Beladenen gehören. Selbst die jungen Mädchen in seiner Gemeind«, die ihm verschämt zulächelten, rrmuthigte er mit keinem Blick, obwohl er wußte, daß er sich eine» Tage» au» ihrer Mitte seine Gehilfin würde wählen müssen. Aber eS half Alles nicht». Die rothen Rosen schwebten ihm noch immer vor Augen. Und al» er hinau» in» Freie trat und die Böschung hinunterhastete, schien es ihm, als sei die ganze weiche Sommerkuft mit deren Duft getränkt. Und ganz dunkel kam es ihm zum Bewußtsein, als habe er heute einen Theil seines früheren Selbst in der Kirche zurückgelassen. . . . Mit einem Male sah er in kurzer Entfernung vor sich zwei Damen, die im Hellen Sonnenscheine zwischen den auf geschichteten Haufen duftenden HeuS langsam auf- und abgingen, so daß es fast so aussah, als ob sie Jemand erwarteten. Die eine von ihnen im weißen Kleide kam, nachdem sie sich mit einer eigenwilligen Geberde von ihrer Begleiterin getrennt hatte, mit eiligen Schritten auf ihn zu. „Erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, Mr. Newberry, welch großen Eindruck Ihre Predigt heute auf mich gemacht hat", begann sie mit tiefer, klangvoller Stimme. Verwirrt und unbeholfen stand er vor ihr. Der Unterschied zwischen dieser eleganten, von Grazie umflossenen Gestalt und seiner eigenen asketischen Erscheinung drängte sich ihm un willkürlich auf. „Warum schmeicheln Sie mir?" fragte er schroff, bemüht, den Zauber zu brechen, mit dem ihre Nähe ihn umstrickte. „Sie verkennen mich. Das sollte durchaus keine Schmeichelei sein. Aber man findet so berufene Redner leider nur allzu selten." „Wenn meine Predigt gut war, so ist eS nicht mein Ver dienst", wies er sie ab. „Ich bin nur ein schwaches Werkzeug in der Hand deS Herrn." Dann, in leiserem Tone, fügte er hinzu: „Haben meine Worte Sie wirklich ergriffen?" Es lag keinerlei Anzüglichkeit in dieser Frage, aber die Lippen seines Gegenübers kräuselten sich und ihre Augen blitzten unter den langbewimperten Lidern hervor zu ihm hin. „Ja, sie haben mich wirklich ergriffen — bis zum Zorn! Sie sind ein vorzüglicher Prediger, ganz gewiß, viel zu gut für dieses kleine Nest, aber die Ansichten, die Sie vertreten, sind grundfalsche, weil — weil sie leider auf Unkenntniß be ruhen " „Madeline!" ertönte in diesem Augenblicke die Stimme der Begleiterin über das sonnige Feld herüber. „Ja, ich komme schon.... Verzeihen Sie mir meine Offenheit, Mr. Newberry. Es ist immerhin schon eine schöne Sache, wenn es Jemand mit seinem Berufe ernst nimmt, aber vergessen Sie nicht, wie eS in der Bibel heißt: Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet." Damit streckte sie ihm ihre Hand entgegen, an der im Sonnen lichte die glitzernden Ringe funkelten. Seine Augen wanderten von da zu den dunkelrothen Rosen an ihrer Brust, und, wie unwiderstehlich höher gezogen, auf ihr liebliches Gesicht. Einen Augenblick ruhten ihre Blicke fest ineinander; dann berührte er zögernd ihre Fingerspitzen. „Wir haben daS kleine Giebelhaus am Ende des Dorfe» gemiethet und werden den ganzen Sommer über hier bleiben", fuhr sie fort. „Ich hoffe also, Ihre Predigten noch öfter be suchen zu dürfen, Mr. Newberry. Leben Sie wohl!" N. Seit diesem Tage schien das Geschick des jungen Geistlichen sich erfüllen zu sollen. AuS der ersten flüchtigen Bekanntschaft wuchs rasch und rascher eine tiefe Leidenschaft hervor, "die sich Madeline halb amüsirt, halb geschmeichelt gefallen ließ. Hin und wieder gab es wohl noch Augenblicke, in denen der junge Prediger gegen sich selbst ankämpfte und sich gegen seine plötzliche Neigung für diese Fremde, aus deren Leben er nicht daS Geringste kannte, die einer anderen Welt, als der seine« angehört», zu wehren suchte. Die» war jedesmal dann der Fall, wenn sie gerade irgend eine geheimnißvolle Andeutung über ihre Person gemacht und ihn dann mit lachenden Worten für seine Neugierde zum besten gehalten hatte. „Ich bin nur hier, um meine Nerven zu stärken. Ich habe mich überarbeitet", bemerkte sie eines Abends in müdem Tone, als er gekommen war, ihr für die Wohlthaten zu danken, die sie den Armen im Dorfe erwiesen hatte. „Besuchen Sie auch — zu Hause bei Ihnen häufig die Armen?" wagte er zu fragen, in der Hoffnung, vielleicht auf diese Weise zu erfahren, worauf sich das Wort „Arbeit" bei ihr bezogen. „Ich — in schmutzigen Armenvierteln herumwandern? Ach Du lieber Gott, nein! Der bloße Anblick der Armuth ist mir gräßlich — ich liebe nur ein Wohlthun par clistanee." Dabei ließ sie ihr jugendlich Helles Lachen erklingen. Aber ihr Gesicht erschien in diesem Augenblick älter, ihre Züge wie durch viele herbe Erfahrungen geschärft. Und jedesmal verließ er sie dann, halb wahnsinnig gemacht durch den eigenartigen Reiz, den sie immer von Neuem und immer stärker auf ihn ausübte. Die Sommermonate schwanden im Fluge, und als ihm eines Tcges Madeline Ray mit einem leichten Seufzer mittheilte, daß sie und ihre Cousine nun bald auf und davon fliegen würden, wie die Schwalben, die unter dem Giebeldach« nisteten — da konnte er sich nicht länger beherrschen. Er fühlte es, diese Frau hielt seine Seele in ihren schmalen Weißen Händen; in ihrer Macht lag es, sie zu erheben oder auf immer zu vernichten. Die Worte strömten so beredt von seinen Lippen, wie an jenem Morgen in der kleinen Capelle, als er sie zum ersten Mal gesehen. In den leidenschaftlichsten Ausdrücken schilderte er ihr seine Liebe. Sein ganzes Herz lag in der flehentlichen Bitte, um dieser seiner großen Liebe willen Alles aufzugeben und sein Weib zu werden. „Wer, ich, — ich, Madeline Ray? . . . Sie wissen nicht, wem Sie diese Ehre antragen." Ihr kurzes, spöttisches Lachen klang in seinen Ohren wie Hohngelächter. „O, Madeline, — Deinetwillen will ich selbst meinen Beruf aufgeben, — mir einen anderen, weltlichen wählen!" stöhnte er. schwer athmend, bemüht, die mahnende Stimme seines Gewissens und den Widerwillen, der sich in seinem Innern gegen ihn selbst erhob, zu unterdrücken. „Für mich — um meinetwillen? Nein, mein Freund, solch ein Opfer bin ich nicht Werth." „Mein Leben liegt in Deiner Hand, Du kannst es erhalten oder zerstören, Madeline !, . . Madeline — ums Himmelswillen sage mir, wer Du eigentlich bist, ein Teufel oder ein Engel?" Ihre Augen erweiterten sich. Ihre Blicke bohrten sich förmlich in die seinen, und mit einem Gemisch von befriedigtem Stolz und grollendem Zorn erwiderte sie: „Wer ich bin? . . . In Ihren Augen eine Verlorene! . . . Ich bin — vergessen Sie da» ja nicht, Mr. Newberry! — Madeline Ray — die erste Schauspielerin am Star-Theater kn London." HI. Sech» Monate waren inzwischen vergangen. Ein neues Stück, dos große Sorgfalt erfordert hatte und schon seit längerer Zeit in Vorbereitung gewesen war, sollte zum ersten Male im Star-Theater aufgeführt werden. Eine Menge Menschen hatte sich trotz des Regens schon frühzeitig versammelt und wartete ungeduldig auf die Eröffnung der Casse. Madeline Ray, der gefriert« Stern dieser Bühne, sollte heute eine neue Rolle creiren, und daS theaterliebrnde Publicum nahm daS lebhafteste Interesse an diesem Ereigniß. Madeline'» Nam« schwirrte von Mund zu Mund. Man raunte sich allerhand Geschichten aus ihrem Privatleben zu, Geschichten, die aus jenem Körnchen von Wahrheit bestanden, aus dem meist eine ganze Ernte von Lügen hervorsprießt. Alle die Müßig gänger, zu deren Beschäftigung es gehört, die Schaufenster ver Photographen zu belagern, kannten ihre Bilder, und einen Mann in schäbigem schwarzen Anzuge, der gleichfalls mit den Anderen wartete, überlief ein Schauer, als er hörte, wie ungenirt man hier ihre Schönheit kritisirte. Er schien der am frühesten Gekommene zu sein, denn er stand zu allernächst der Cassenthür. Mit schiefen Blicken musterten die Umstehenden die seltsame Erscheinung. Unbeweglich stand er da, krampfhaft die Hand um ein Geldstück geschlossen, während ihm unaufhörlich der Regen von der Hutkrempe auf die mageren Schultern tropfte. Aber seine Geduld wurde belohnt: er bekam den Mittelsitz in der ersten Reihe, wo er sich niederließ und unverwandt auf den Vorhang starrte. Das neue Stück ward ein Riesenerfolg. Niemals vorher hatte aber auch Madeline Ray besser gespielt, niemals hin reißender ausgesehen als an diesem Abend. Der Mann in der ersten Reihe ließ keinen Blick von ihr. Seine eingesunkenen Augen verfolgten jede ihrer Bewegungen, und die Empfindungen, die sich auf seinem abgezehrten Antlitz widerspiegelten, waren weit ergreifender, als die unechte Tra gödie, die sich oben auf den Brettern abspielte. Doch Keiner hatte Augen dafür. Erst als zum Schluß die Künstlerin, freudestrahlend über ihren Triumph, unter einem förmlichen Regen von Kränzen und Blumen sich wieder und wieder dankend verneigte, da kam Leben in die reglose Gestalt. Mit einem Satze sprang der Mann auf die Füße, und ein durchdringender Schrei durchgellte das Haus: „Madeline!!!" Der Applaus verstummte jäh, wie erstickt durch diesen plötz lichen Ausbruch einer menschlichen Leidenschaft. Man vergaß die Schauspielerin. Man sah nur noch einen Mann und eine Frau — zwischen ihnen das blendende Rampenlicht. Ein Strauß dunkelrother Rosen flog so heftig an Madeline's Brust, daß seine Blätter wie große Blutstropfen an ihrem weißen Kleide niederrieselten. Im nächsten Augenblicke sank unten der Mann schwer aufstöhnend auf seinen Sitz zurück, wo er regungslos verharrte. Während man eiligst nach einem Arzte sandte, leerte sich das große Haus mit unheimlicher Schnelligkeit. Es schien, als wollten Alle möglichst rasch den Schauplatz dieser unerquicklichen Scene hinter sich lassen. Bald lag der gähnend weite Raum im Dunkel, eine schale, drückende Luft erfüllte ihn, und ein einziger schwacher Licht schimmer ließ die tiefe Finsterniß rings herum noch schwächer erscheinen. Madeline Ray fröstelte in ihrem warmen, kostbaren Pelz, als sie, gefolgt von dem Arzt, in angstvoller Hast zwischen den leeren Bänken hindurchglitt. „Hunger und ein Herzlriden", lautete d«r Ausspruch deS Arztes. „Armer Kerl! Haben Sie ihn gekannt?" Statt aller Antwort warf sich Madeline an der Seite d«s bleichen Mannes nieder und drückte leidenschaftliche Küss« auf seine starre Hand. Sein Kinn war herabgesunken und seine Augen blickten noch immer unverwandt nach der Bühne. Aber weder die Frau noch die Künstlerin hatte mehr Macht über ihn: der Tod mit seinem mächtigeren Zauber war hier Sieger geblieben.
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