Suche löschen...
02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 06.06.1899
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1899-06-06
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18990606025
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1899060602
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1899060602
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1899
- Monat1899-06
- Tag1899-06-06
- Monat1899-06
- Jahr1899
- Links
-
Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
Die Morgen-Ausgabe erscheint um '/,7 Uhr. di« Abend-AuSgabe Wochentag» um b Uhr. Redaction und Expedition: JohanntSgaffe 8. Die Expedition ist Wochentags ununterbrochen geöffnet von früh 8 bi» Abend» 7 Uhr. Filialen: vtt» Klemm'» Lo.ttm. (Alfred Hahn), UmversitätSstraße 3 (Paulinum^. Louis Lösche, Kathariuenstr. 14, pari, und Löntgsplatz 7. BezugS-PreiS in der Hauptexpedition oder den im Stadt bezirk und den Bororten errichteten Aus gabestellen ab geholt: vierteljährlich-<4.50, bei zweimaliger täglicher Zustellung in» Hau» » 5.50. Durch die Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: vierteliährlich 6.—. Direkte tägliche Kreuzbandiendung in» Ausland: monatlich 7.50. Abend-Ausgabe. MpMerIaMatt Anzeiger. Amtsblatt des Königlichen Land- und Amtsgerichtes Leipzig, des Nathes und Nolizei-Amtes der Ltadt Leipzig. Dienstag den 6. Juni 1899. Anzeigen-Preis Vie 6 gespaltene Petitzeile 20 Psg. Necla»«» unter dem Redaction»strich (4a» spalten) iiO-H. vor den Familirunachrichten («gespalten) 404. Größere Schriften laut unserem Preis« verzeichniß. Tabellarischer und Ziffernsatz nach höherem Tarif. Extra-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderung 60.—, mit Postbeförderung 70.—. Annahmeschluß für Ityrigea: Ab end-Ausgabe: Bormittag« 10 Uhr. Marge».SuSgabe: Nachmittag« 4 Uhr. Sei den Filialen »ud Annahmestellen je eine halb« Stunde früher. Anzeigen find stet» an di« Expedttta» zu richte». Druck und Verlag »0» <k- Bolz la Leipzig S3. Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, 6. Juni. Reichstag und preußisches Abgeordnetenhaus nehmen heute ihre Arbeiten wieder auf und zwar, waS be zeichnend für die parlamentarische Geschäftslage ist, mit ersten Lesungen wichtiger Gesetzentwürfe, deren Erledigung in der lausenden Session theils von der Regierung dringend gewünscht wird, theils unerläßlich ist. Im Reichstage ist heute außer dem Nachtragsctat in erster Lesung das Gesetz über die Verwendung des ReichS-JnvalidenfondS zu erledigen, durch das denjenigen arbeitsunfähigen und unterstützungsbedürftigen Veteranen der Ehrensold von 120^ zugeführt werden soll, die ihn bisher mangels etatSmäßiger Mittel nicht erbalteu haben. Auf der Tagesordnung deS Abgeordnetenhauses steht die Vorlage, die älteren Richtern, denen die Einarbeitung in die neue bürgerliche Gesetzgebung nicht mehr zugemuthet werden kann, durch einstweilige Weiterbewilligung ihres vollen Gehaltes den Uebertritt in den Ruhestand erleichtern will. Zu der Menge sonstigen noch unerledigten Materials haben die Pfingstferien neue und wichtige Vorlagen gebracht, dem Reichstag den Gesetzentwurf über den Schutz der Arbeits willigen, dem Abgeordnelenhause das Communalwahl- gesetz. Eine Uebersicht der unerledigten Vorlagen im preußischen Landtage ergiebt, daß noch 24 Regierungsvor lagen und 6 Initiativanträge der zweiten und dritten Lesung im Abgeordnetenhause harren, mit denen sich später noch daS Herrenhaus zu beschäftigen hätte. Vier Vorlagen, darunter die zwei Gesetzentwürfe, betr. die Fürsorge für die VolkSschullehrer-Relikten und die Verbesserung der Wohnungsverhältnisse von Arbeitern in Staatsbetrieben, sind bisher erst ans Herrenhaus gelangt. Die Fülle der Arbeiten im Reichstag ist nicht geringer. Das Invalidenver- ficherungSgesetz steht mitten in der zweiten Lesung; dazu kommt das Handelsprovisorium mit England, der Gebührentarif für den Nordostsee-Canal, die Gewerbeordnungsnovelle, die lex Salisch über den Nacheid, die Berufung in Strafsachen, die Post gesetze, die Vorlage über das Flaggenrecht der Kauf fahrteischiffe und noch eine Reihe kleinerer Materien. Wie sich unter diesen Umständen das Ende der laufenden Sessionen gestalten wird, ist vor der Hand nicht abzusehen. Die Regierung rechnet, sicherem Vernehmen nach, mit Bestimmtheit darauf, daß daS Abgeordnetenhaus Zug um Zug das Haupt- berathungSmaterial erledigt, so daß mit einem Abschluß der Session um die Mitte Juli gerechnet werden kann. Eine Vertagung deS Landtags soll nicht statthaben. Dagegen wird bereits mit der Vertagung deS Reichstags auf den Herbst gerechnet. Wann aber und ob eine solche Vertagung und nicht vielmehr ein schneller Schluß der Session erfolgt, das hängt davon ab, ob der Reichstag zunächst im Stande ist, die zweite Lesung des Invalidengesetzes zu Ende zu führen. Auf diese Vorlage legt die Regierung im Interesse der Arbeiter das Hauptgewicht. Außerdem aber besteht die Ab sicht, von dem Reichstage möglichst bald in erster Lesung wenigstens eine vorläufige Antwort auf die Vorlage zum Schutz des gewerblichen Arbcitsverhältnisfes zu erhalten. Dem Reichstage kann daher aus verschiedenen Gründen nicht dringend genug empfohlen werden, die Wochen unmittelbar nach Pfingsten, zumal so lange der preußische Landtag mit Hilfe der dort bewilligten Diäten etwa 90 Doppelmandatare in Berlin hält, ausgiebig zu benutzen. Wir wollen ganz davon absehen, daß dies schon im Interesse deS Ansehens der deutschen Volksvertretung nach dem einwandsfreien Zeugniß ihres ersten Vicepräsidenten, des Herrn vr. v. Frege, dringend nothwendiz ist. Ein Reichstag, der in sieben Monaten selbst bei wichtigen Gesetzen nicht einmal acht Tage lang hat zu sammengehalten werden können, hat, so wenig die späte Ein bringung so mancher Vorlage gebilligt werden kann, kein Recht, sich zu beklagen, wenn ihm im Sommer noch schwere Arbeit zugemuthet wird. Er würde bei Fortsetzung deS unwürdigen Zustandes, in dem er nun schon dreimal in die Ferien gegangen ist, sich darauf einrichten müssen, daß ihm schon aus diesem Grunde das Recht abgesprochen würde, den Willen deS deutschen Volkes darzustellen. Es könnte unter Umständen eine der wichtigsten Aufgaben der nationalen Vertreter im Reichstag sein, die Unhaltbarkeit eines solchen Zustandes und seine Ursachen vor dem Lande rückhaltlos klarzustellen. Der Abschluß deS deutsch-spanischen Südsee vertrages hat die Neuregelung der Handelsbeziehungen zwischen dem Reich und Spanien in Aussicht gestellt; es ist daher angezeigt, an die Entwickelung zu erinnern, welche die Handelsbeziehungen zwischen beiden Mächten im letzten Jahr zehnt genommen haben. Nachdem durch die Handelsverträge, die am 6. December 189l mit Oesterreich-Ungarn, Italien und Belgien, am 10. December 1891 mit der Schweiz ab geschlossen waren, die Grundlage eines neuen, gemäßigt schutzzöllnerischen Vertragszollsystems geschaffen war, hatte daS deutsche Reich seine handelspolitischen Beziehungen zu anderen Mächten zu regeln, mit denen eS noch nicht in einem Bertragsverhältnisse stand oder in Folge von Kündigungen neue Verhandlungen führte. DaS Gesetz vom 30. Januar 1892 ermächtigte den BundeSrath, auch solchen Staate», die einen vertragsmäßigen Anspruch auf Bewilligung der neuen Zollermäßigungen nicht hatten, letztere gegen Einräumung angemessener Vortheile bis zum 1. December 1892 ganz oder theilweise einzuräumen. Spanien war der erste Staat, d-ssen Gunsten der BundeSrath von dieser Befugniß Gebrauch machte. Spanien hatte den Handelsvertrag vom 12. Juli 1883 zum 1. Februar 1892 dem Reiche gekündigt, war jedoch zur Ver einbarung eines neuen bereit. Die Hauptschwierigkeit bildete der von Spanien verlangte höhere Alkoholzoll. Man ver ständigte sich vorläufig dahin, daß Deutschland allen spanischen Erzeugnissen mit Ausnahme deS Weines in Fässern, Spanien aber den deutschen Maaren mit Ausnahme des Alkohols die Meistbegünstigung gewährte. Dieses Provisorium wurde nach Ablauf der ersten Termine wiederholt verlängert, da der Abschluß der Verträge sich verzögerte. Erst am 8. August 1893 wurden die diplomatischen Unterhandlungen mit Spanien abgeschlossen. Der deutsche Reichstag nahm den vereinbarten Handelsvertrag schon am 14. December 1893 an, in den Cortes aber stieß er bei der schutzzöllnerischen Partei auf Widerstand, und namentlich der Senat wandte ein Verschleppungssystem an, das schließlich die Geduld des Reiches ermüden mnßte. Zwar wurde das Provi sorium noch dreimal verlängert, als aber die Rati fication des Vertrages durch Spanien Mitte Mai 1894 immer noch nicht erfolgt war, trat an dem genannten Termin der deutsche Generaltarif für die spanische Einfuhr in Kraft. Spanien antwortete hierauf mit der Anwendung seines Maximaltarifs auf die deutsche Einfuhr, ein Ver fahren, daS zur Folge hatte, daß durch kaiserliche Ver ordnung vom 25. Mai 1894 auf Grund deS tz 6 des Zoll tarifgesetzes von 1879 auf eine Reihe von Waaren, die auS Spanien oder aus den spanischen Colonien kamen, Zuschläge von 5g Proc. der SätzedeS deutschen Generaltarifs gelegt wurden. Der Zollkrieg dauerte, zum Nachtheil für beide Länder, bis zum 25. Juli 1896. Von diesem Zeitpunkte ab ließ Spanien die deutschen Waaren wieder zu seinem Minimal tarif zu, Deutschland hob den Zuschlag von 50 Proc. auf und unterstellte die Einfuhr auS Spanien und auS den spanischen Colonien seinem Generaltarif. — DaS ist der gegenwärtige Stand der Handelsbeziehungen zwischen dem Reiche und Spanien. Der Widerstand gegen den Abschluß eines Vertragszolltarifs dürfte gegenwärtig in den CorteS beträchtlich geringer sein als vor sechs Jahren. Hoch geben in Frankreich nach dem Spruch deS Cassations hofes die Wogen der Parteileidenschaften und immer unver- hüllter tritt es zu Tage, daß Republik und Monarchie auf Leben und Tod um den Sieg ringen. Der Pariser Polizei präsident bat ganz Recht, wenn er sagt, der Ruf: „Es lebe die Armee!" bedeute heute: „ES lebe die Monarchie!" und in der Deputirtenkammer hat sich bereits ein Wortführer jener, die Republik für überlebt haltenden, einflußreichen Gruppen ge funden, welcher die Versetzung des Ministerpräsidenten in den Anklagezustand verlangte. Aber man muß es Dupuy lassen: er zeigt sich als Mann der That, der allen Schwierigkeiten entschlossen und zielbewußt die Stirn bietet. Sein Wort, „alle Verantwortlichkeiten festzustellen", scheint er und mit ihm sein ganzes Ministerium einlösen zu wollen, denn nicht nur daß Paty de Clam schon hinter den Mauern deS Cherche du Midi sitzt und von den Leitern deS Döroulöde-Processes, welche gestatteten, daß derselbe zu einer antirepublikanischcn Demonstration mißbraucht wurde, der eine seines Amtes entsetzt ist und der andre vor Gericht gestellt werden wird, auch die Männer mit der säbelbewaffneten Faust, die die moralische und factische Verantwortung für die Beugung des Rechtes und die Verurtheilung eines Un schuldigen tragen und die bisher auf einem hohen Piedestal geständen, werden vor dem Forum der Gerichte zur Rechen schaft gezogen. Gegen General Pellieux, der im Ester- Hazy-Proceß das Menschenmögliche an Beeinflussung der Justiz gethan, wird, allerdings auf seinen eigenen Wunsch, das Verfahren eröffnet und selbst über General Mercier, dem Kriegsminister zur Zeit deS 94er Kriegsgerichts, der diesem geheime Actenstücke vorlezte, welche dem Angeklagten und seinem Vertheidiger vorenthalten wurden, zieht sich daS Ver hängnis zusammen. Iustizminister Lebret hat auf Beschluß deS MinisterratheS dem Präsidenten der Deputirtenkammer (siehe den ausführlichen Bericht an anderer Stelle) ein Schreiben zugehen lassen, in welchem er die Kammer befragt, ob Mercier vor den Staatsgerichtshof zu stellen sei. Daß die Negierung eine bejahende Antwort erwartet, geht auS der in der gestrigen Kammersitzung gethanen Aeußerung Dupuy'S hervor, daß er 1894 als Ministerpräsident nur daS Bordereau zu sehen bekommen habe, daß man also auch ihm die geheimen Beweisstücke vorenthalten habe, eine Aeußerung, die mit Bewegung ausgenommen wurde. General Mercier wird nach der Stimmung der Kammer wegen Mißbrauchs seines Amtes zu ungesetzlichen Handlungen vor dem Richter zu erscheinen haben und es fragte sich gestern nur, ob die Kammer sofort den nöthigen Beschluß fassen werde oder erst nach der Fällung des UrtheilS im Renner DreyfuSproceß. Sie that recht daran, daß sie sich für den letzteren Modus entschloß, denn schon wurde von gegnerischer Seite der Vorwurf laut, durch die Verfolgung Mercier'S solle ein Druck auf die Richter in RenneS geübt werden. Der gestrige Tag fand die Republikaner in der Kammer in geschloffener Einheit und eS steht zu erwarten, daß sie auch bei jedem kommenden Ansturm gegen das Cabinet dieses schützen und stützen wird. So weit ist Alles gut, aber die Gefahr, durch einen Handstreich der Machthaber in der Armee über Nacht gestürzt zu werde», besteht für die Republik nach wie vor. Es kommt darauf an, wie weit der klerikal-nationalistische Geist im Heere Fort schritte gemacht hat. Zu vollkommenem Vertrauen nach dieser Richtung hat die Regierung offenbar keinen Anlaß, sonst würde sie nicht eiligst die Garnisonen von Pari- und Orleans miteinander vertauscht haben. An Wachsamkeit fehlt eS Dupuy nicht, aber eS liegt eine geschichtliche Wahrheit ia dem gestern von dem Ersten Lord deS Schatzes, Balfour, im eng lischen Unterhause gebrauchten Wort: „Ein Land, in welchem das Heer sich ernstlich um Fragen der Politik bekümmert, ist am Rande des militärischen Despotismus angelaugt." Das Ergebniß der Landtagsarbeiten in AinlanH liegt nun in den Beschlüssen vor, die daS Gutachten der Gesetzcommission und den Gegenvorschlag der Wehrgesetz- commission aonehmen, letzteren mit kleiner Abänderung. Dieses Ergebniß wird dem finländischen Senat vorgelegt, der eS durch seinen Vorsitzenden, den General- Gouverneur, an den finländischen Staatssekretär und durch diesen an den Zaren zu leiten hat. Nach finländischer Auffassung hat alsdann entweder die Annahme durch deu Zaren oder die Vorlage eines neuen Gesetzentwurfs zu er folgen, während gemäß dem Manifest vom 15. Februar die ganze Angelegenheit durch den russischen ReichSrath zu gehen hat, der unter Theilnahme einiger finländischer Senatoren, die der Zar zu ernennen hat, seine Beschlüsse faßt und dem Zaren vorlegt. In diesem Falle wird russischerseits wohl an dem ursprünglich vorgrleglen russischen Gesetz frstgehaltea werden. Sobald alsdann ein kaiserlicher Erlaß die Giltigkeit des Gesetzes und seine Einführung in Finland befiehlt, tritt der Augenblick ein, da die Finlander folgenschwere Ent- schlüsse zu fassen haben. Heute meint man in KKsingforS mit großer Entschiedenheit, daß die finländischen Behörden nicht daS Recht haben, an der Durchführung von Gesetze» mitzuwirken, die unter Mißachtung der verfassungsmäßigen Rechte deS finländischen Volkes entstanden sind. Von Interesse ist eine Auslassung in der Betrachtung des angesehenen früher» Senators C. Mechelin in seinem PrsciS du Dryit Public du Grand-Duchs de Finlande, tz 73, nn Jahre 1886. Es heißt dort von den Pflichten der öffentlichen Beamten: „Ein Beamter weicht von dem richtigen Wege ab, wenn er sich der Ausführung einer befohlenen Maßregel widersetzt, weil er sie nicht für nützlich hält. Aber ein Beamter, der angeklagt ist, den Befehl seines Vorgesetzten nicht befolgt zu haben, bleibt straflos, wenn nachgewiesen wird, daß der Befehl gesetzwidrig war. Nicht blinden Gehorsam, sondern gesetzlichen und durchdachten Gehorsam fordert der VerfassnngSstaat von seinen Beamten." DaS ist der von den Finländern eingenommene Standpunkt, gegen den eS in Finland keinen Widerspruch giebt. Die Anwen dung dieses Grundsatzes auf vie Veröffentlichung und Durch führung deS russischen Militärgesetzes für Finland droht zur Katastrophe zu führen. Einer solchen würde vorgebcugt werden, falls der Zar die Ausarbeitung eines neuen Ge setzentwurfes befehlen sollte. Dies ist die schwache, sehr fchwache Hoffnung unter einigen finländischen Optimisten, die Feuilleton. Äußer Diensten. 81 j Roman von Ernst Wichert. Nachdruck verdct n. Vierzehntes Capitel. Der Freiherr von Jttenborn beschäftigte sich viel mit seiner Wahlrede. Der Tag für die große Versammlung im Saale der Germania-Brauerei war längst bestimmt und rückte schon er schreckend nahe. Inserate, die halbe Seiten der Residenzzeitungen füllten, kündigten sie an, und Leitartikel nahmen von den ver schiedenen Parteistandpuncten aus zu dem Ereignisse Stellung. Er sollte sprechen, das schien eine selbstverständliche Noth- wendigkeit und nicht einmal eine besonders schwierige Aufgabe. Er durfte sich des Wortes so weit mächtig halten, nicht leicht wegen eines Ausdrucks in Verlegenheit zu kommen, und so lange es sich nur um die Ansammlung von Bruchstücken handelte, die bei der Rode Verwendung finden sollten, konnte höchstens die Ueberfülle Bedenken erregen. Nun das Material aber gesichtet werden mußte, zeigte sich ein großer Theil davon unbrauchbar, und was übrig blieb, wollte nicht recht zusammenpasscn, wenn es auf einen einheitlichen Bau der Rede ankam. Meinungen, die er sich ohneMllheangeeigmt hatte und die ihm imGespräch stets leicht vom Munde gegangen waren, zeigten sich nun bei näherer Be trachtung anfechtbar und haltlos. Die eine war neben der anderen kaum zu Vertheidigen, und je waghalsiger Brücken geschlagen wurden, um so mehr steigerte sich das Gefühl von Unsicherheit. Zuletzt hielt nichts mehr fest. Er gestand sich nicht gern, daß er nur mit halbem Interesse bei der Sache war und darin der Grund der Unruhe lag, die sich seiner täglich mehr bemächtigte. Die Kampffreudigkeit hatte nicht lange vorgehalten, und nun wurde ein kühner und siegesgewisser Ansturm gefordert. Er sollte die Burg angreifcn, von deren Zinnen er kürzlich selbst noch seine Fahne hatte wehen lassen; Mauern niederrennen, die er für unzerstörbar gehalten, aufbauen, was sein Auge nicht sicher sah. Er lief wohl in Gedanken eine Strecke vor und schlug tapfer um sich, ohne doch die Ueber- zeugung zu gewinnen, daß mit solchen Lufthieben etwas aus zurichten sei, und zog sich rasch wieder verstimmt zurück. Alles, wa» er sagen könnte, erschien ihm als Phrase, und er merkte nun erst, wie sehr ihm die Fähigkeit fehlte, sie hübsch aufzuputzen, da mit auch nur im Augenblick ihre Wirkung gewiß sei. Wäre er nur wenigstens bei seiner ursprünglichen Absicht ge blieben, frei zu sprechen! Aber der Versuch, den er in seinem Zimmer wiederholt anstellte, mißlang jedes Mal. Es zeigte sich da, wie schwer es war, in schneller Rede Sätze zu formuliren, die einen sehr bestimt abgegrenzten Inhalt haben, nicht zu viel sagen sollten. Er kam nicht weiter, künstelte an den Wendungen herum und brauchte, bis er einigermaßen zufrieden sein durfte, so viel Zeit, als ihm auf der Tribüne unmöglich zur Verfügung stehen konnte. Und nun während des Sprechens zu wissen, daß viele Hundert Ohren geöffnet seien, daß jedes Wort stenographirt würde, daß am nächsten Morgen die Zeitungen mit seiner Rede die Spalten füllten! Nein, da genügte nicht eine allgemeine Dis position, und im Uebrigen die Eingebung des Augenblicks. Ein Redner, wie er, mußte im Voraus gegen jede zufällige Störung von außen oder innen gesichert sein, hatte die Pflicht, etwas Vor zügliches nach Inhalt und Form zu leisten. Er entschloß sich daher zur schriftlichen Ausarbeitung. Aber nun hielt das lockere Gefüge von Ideen, die nicht einmal in seinem eigenen Kopf entsprungen waren, erst recht nicht Stand. Was frei in der Luft schwebend schon eine Art von Gestalt gewonnen hatte, verlor sie wieder, sobald es mit Feder und Tinte in Berührung kam. Er corrigirte, strich aus, verwarf ganze Blätter, fing von vorn an, und als sich dann doch ein Bogen nach dem anderen füllte, war es ihm eine schreckhafte Vorstellung, die Rede auswendig lernen zu sollen. Er zweifelte an der Haltbarkeit seines Gedächt nisses und wußte doch, daß er verloren sein würde, wenn ihm auch nur ein Uebergang fehlte. Legte er sich zu Bett, so dauerte es nur wenige Minuten und die Repetition der eben geschriebenen Seiten begann. Da zeigte sich denn, daß kein Satz fest lag, die Verbindung erst wieder mühsam gesucht werden mußte, überall der Faden abriß. Stundenlang fand er keinen Schlaf. - Durch und durch verärgert, forderte er zuletzt so dringend Jungenheim's Herkunft, daß diesem wohl nichts übrig blieb, als seine Abreise in allernächster Zeit zuzusagen. Und nicht einmal bei Emma ging's ihm nach Wunsch. Das liebe Mädchen schien ganz verschüchtert zu sein und ließ sich im Garten nicht mehr blicken. Wie sie Ottomar Randolf abge trumpft hatte, mußte er doch glauben, daß von dessen Seite nichts zu befürchten sei. Warum ließ sie sich nun nicht einmal am Fenster der Wirthschaftsstube blicken, wenn er auf dem Hof vorbeiging? Es verdroß ihn, sich auf solchen Schleichwegen zu ertappen. Er rief den alten Berner in sein Zimmer und sprach mit ihm unter vier Augen. Es war nicht so leicht, als er sich's gedacht hatte, sich ihm verständlich zu erklären. Zwar daß seine Emma dem gnädigen Herrn gefalle, begriff er, aber da» wäre doch nur so Spielerei. Der gnädige Herr werde sich seiner Tochter wegen ja nicht scheiden lassen wollen. Nach und nach erst ging ihm ein Licht auf, wie's gemeint sei, und nun fing er zu lamen- tiren an, daß sein Kind ihm solchen Kummer bereite. Er meinte, Emma habe seinem Baterherzen schon das schwerste Leid an- gethan. Sobald der Jrrthum aufgeklärt war, bat er den Frei herrn, der ihm seine ehrlichste Gesinnung bctheuerte, zuletzt fuß fällig, von dem Mädchen abzulassen und von ihm selbst nicht etwas gegen sein Gewissen zu fordern. Nicht einmal Has Ver sprechen, den Dingen ihren Lauf zu lassen, erlangte er, und ent ließ den Alten recht mißmuthig. Als Emma am anderen Tage anzufragen kam, wie es den Eltern gehe, fand sie dieselben in sehr verbitterter Stimmung. Der junge Randolf sei dagvwesen und habe ihnen eine Scene gemacht; er wolle wissen, woran er sei, und werde sich lieber mit seinem Vater Überwerfen, als von ihr lassen, wenn sic fest zu ihm halte. Und der Freiherr ... Es folgten Andeutungen seiner Wünsche, die genügen konnten, sie über die schwierige Lage auf zuklären. „Dann weiß ich, was ich zu thun habe", sagte sie, sich die Thränen vom heißen Gesicht wischend. „Mit Ottomar hab' ich mich ausgesprochen, und dabei bleibts. Ich will keine Heimlichkeit mit ihm haben, und sein Vater muß mir erst ein gutes Wort geben, wenn's zwischen uns wieder in Ordnung kom men soll. Vertraut er mir nicht, so kann ich ihm nicht helfen. Dem Freiherrn will ich's nicht so schwer übel nehmen, daß er wie ein großer Herr denkt, der einem armen Mädchen das meint bieten zu können. Es mag sein, daß ich ihm zu freundlich still gehalten habe, aber weiß Gott, nichts Böses hab' ich mir dabei gedacht. Ich fürchte nur, Ottomar läßt sich von seiner Rachsucht fortreißen und unternimmt etwas, das er nachher zu bereuen hat. Da ist's denn das Beste . . . Aber ich sag' Euch lieber nicht, was ich thun will, damit Ihr Euch mit gutem Gewissen ausreden könnt, Ihr hättet nichts gewußt. Adieu, liebe Eltern, und Gott befohlen!" Ewma küßt« die beiden Alten, was sie sonst nicht zu thun pflegte, und entfernte sich eilig. In ihrem Stübchen packte sie Kleidungsstücke und Wäsche in ein Bündel. Dann klopfte sie bei der Comteste Hertha an und sagte ihr, sie müsse sogleich fort zu ihrer verheiratheten Schwester in Oberau und wisse nicht, wann sie zurückkehren könne. Erlaubniß dazu möge sie sich nicht er bitten, da sic auch ohne die würde gehen müssen; aber anzeigen wolle sie doch, was sie vorhabe und wo sie zu finden sei. Die Gräfin war sehr überrascht und meinte, daS sei doch unerlaubt, sich so ohne allen Grund seiner Verpflichtungen zu entledigen. Sie selbst komme ohne Mithin in die schlimmste Der- legenheit und müsse darauf bestehen, daß sie ordnungsmäßig kündige. „Das kann ich leider nicht", antwortete Emma kopfschüttelnd. „Es ist mir wohl bekannt, gnädigste Comtesse, daß ich kein Recht habe, so ohneWciteres fortzulaufen und daß mir deshalb derProceß gemacht werden kann. Aber daß ich so handele, hat seinen beson deren Grund, den ich doch verschweigen muß und auch keinem Ge richt offenbaren werde. Wenn Sie meine Stelle gleich besetzen wollen, so kann ich dagegen nichts einwenden, und wenn ich Strafe bezahlen muß, geschieht? nach den Rechten. Für's Erste wird wohl die Anna aushelfen können, die gut angelernt ist, oder Vie Frau des Gärtners eintreten, die vor ihrer Heirath Wirthin war, so daß die Ordnung wenig gestört zu werden braucht." Die Gräfin erzürnte sich sehr über ihren vermeintlichen Undank. Emma küßte ihr die Hand. „Ich kann ja nicht hindern, gnädigste Comtesse", sagt« sie weinerlich, „daß sie schlecht von mir denken. Aber gehen muß ich doch." „Ich habe gestern den jungen Randolf auf dem Hofe gesehen. Geschieht's seinetwegen?" „Vielleicht auch seinetwegen. Aber das ist's nicht allein. Fragen Sie mich nicht weiter — ich kann's nicht sagen." Das Alles fand die Gräfin sehr wunderlich. Sie sagte, sie werde mit dem Herrn Capitän sprechen. Aber bevor dies ge schehen konnte, hatte Emma, ihr Bündel an der Hand, sich schon auf den Weg gemacht. Als der Freiherr durch den alten Berner davon erfuhr, war er sehr geneigt, sich diese Flucht zu seinen Gunsten auszulegen. Randolf sei ihr sehr lästig geworden, meinte er, und sie habe sich ihm schleunigst entziehen wollen. Er wurde bald von ernsteren Sorgen völlig in Beschlag ge nommen. Jungenhcim kam, um ihm bei der wichtigen Wahl- versammlnug zur Seite zu stehen. Er fand den Freiherrn in einer fieberhaften Aufregung, die ihn erschreckte. Die Rede war fertig zu Papier gebracht und wurde nun auf seinen Wunsch Satz für Satz durchgenommen. Dem Doctor gefiel sie sehr wenig; sie hatte ihm nicht genug Knochen und Sehnen, verschwamm überall in eine weiche Masse von Schönrederei ohne sichere Um risse. Er hielt sein Urtheil zurück; aber da er sehr sparsam lobte oder dem Beifall immer gleich «ine Einschränkung beifügte und im Einzelnen Vieles geändert wünschte, konnte Jttenborn, so bescheiden und maßvoll auch diese Bemängelungen vorgebracht und vertreten wurden, sich unmöglich darüber täuschen, daß die ganze Fassung der Rede nicht glücklich war. Und nun sollt« sie mit allen Correcturen und Zusätzen gleichsam umgrlernt werden,
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)
- Doppelseitenansicht
- Vorschaubilder
Erste Seite
10 Seiten zurück
Vorherige Seite