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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 08.06.1899
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1899-06-08
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18990608014
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1899060801
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1899060801
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1899
- Monat1899-06
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Reklamen unter dem RedactionSstrich l4 ge spalten) 50^z, vor den Familirnnachrichtea (6 gespalten) 40 Größere Schriften laut unserem Preis verzeichnis. Tabellarischer und Ziffern!»- nach höherem Tarif. Extra-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen-AuSgabe, ohne Postbeförderung 60.—, m»t Pvstbesörderung 70.—- Rnnahmeschluß für Anzeigen: Ab end-Ausgabe: Vormittags 10 Uhr. Morgen-AuSgabe: Nachmittags 4Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde srüher. Anretge» find stets an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. 288. Donnerstag den 8. Juni 1899. 93. Jahrgang. Altersversicherung in England. Kürzlich hat Chamberlain gelegentlich einer Versammlung von Vertretern der „Friendly Societies" eine Rede gehalten, die gewissermaßen das Programm der englischen Regierung in Sachen der Alters versicherung in sich schließt. Dieses Programm ist aber nur ein negatives, insofern sich die herrschende Partei nicht zu einem hohen Gesichtspunkte in der ganzen socialpolitischen Frage aufzuschwingen vermag, während allerdings Chamberlain selbst innerhalb seiner Partei noch die Triebkraft zu irgend welchen Reformen vorstellt. Seine scharfe Abweisung, die er der Forderung der „Friendly SocietieS" oder Unterstützungscassen nach einer Altersversorgung vom 65. Jahre ab zu Theil werden ließ, muß aber der Form halber besonders auffallen. Bis jetzt wird die gesammte Krankenversicherung und die Alters- und Jnvaliditä'sversorgung in England von freien Hilfscassen besorgt, die sich mit jeder Art Versicherung befassen. Bis vor einiger Zeit waren diese Bereine ganz frei. Sie konnten machen, was sie wollten, und erst seit Kurzem muffen sie ihre Bilanzen der Registerbehörde einreichen. In dieser Einreichung erkennen viele Vereine eine Verschärfung ihrer Lebens bedingungen und unterlassen sie, obgleich ein« bedeutende Strafe darauf steht. Der Grund der Unterlassung ist aber weniger in dem Stolz auf die Freiheit zu suchen, als in dem Gefühl, daß diese Bilanzen den Behörden zeigen, wie schlecht viele Lassen situirt sind und wie wenig sie im Stande sind, ihre Ver pflichtungen zu erfüllen. Auf diesen Uebelstand hat Chamberlain ausdrücklich hingewiesen und Fälle angeführt, in denen Leute, die ihr Leben lang zu solchen Lassen steuerten, am Ende ihres Lebens anstatt einer Pension die schriftliche Bescheinigung des Bankerottes ihrer Cassen in Händen hatten. Einige große Unter- stützungscassen sind im Stande, mit Hilfe hoher Beiträge sich über Wasser zu halten, die kleinen aber sind übel gestellt. Bei dem auch in England vorhandenen Bestreben, zu regieren und Vorstand zu sein, bei den mannigfachen Anforderungen und Zielen, sind immer neue Casten gegründet worden, so daß eine ganze Reihe solcher Zwerganstalten entstanden ist. Man würde nun freilich fehl gehen, wenn man glaubte, daß dieser Zustand der englischen denkenden Arbeiterschaft gefiele; sie merkt wohl, daß es schlimm um ihre Zukunft bestellt ist, aber ihr Stolz auf ihre selbstverwalteten Cassen hat sie noch von einer kräftigen Propaganda für eine staatliche Versicherung abgehalten. Es wiederholt sich dort das, was wir s. Z. in Deutschland mit den freien Hilfscassen im Gegensätze zu den Ortskrankencassen erlebten. Ob ihnen nun eine starke Propaganda für staatliche Versicherung helfen würde, daS steht noch dahin, denn wenn auch Chamberlain sich heftig gegen die beim Fest essen lautgewordene Meinung, als ob Regierung und Parlament sich gar nicht um diese Materien kümmerten, aussprach, so dürfte seine Rede die Ansichten seiner Zuhörer nicht geändert haben. Seine Versicherung der Arbeiterfreundlichkeit der Regierung wurde mit Lachen ausgenommen, und als er ausführte, daß eine solche große Socialreform, wie die gewünschte Aussetzung einer Pension von 3 oder Z Schilling die Woche an jeden über 65 Jahre alten Einwohner ordentlich bedacht werden müßte, ließen sich Rufe: „Sie wollen ja gar nicht!" hören. Das ist nun, wie schon erwähnt, Chamberlain gegenüber eine Un gerechtigkeit, denn Chamberlain ist die Seele der Commission, die die beste Altersversicherung ergründen soll. Seit dem Jahre 1891 ergründet nun diese Commission. Wenn man jedoch be denkt, daß Chamberlain jetzt mit anderen Dingen so viel zu thun hat, so wird man verstehen, warum diese Commission nicht zu einem Ergebnisse gelangt. Entwürfe sind genug vorgebracht worden, Gnade hat aber kein einziger vor den Augen deS Parlaments gefunden und — das müssen wir hinzusetzen — auch nicht vor den Augen der „Friendly Societies", weil diese nicht genügend berücksichtigt wurden. Als im Jahre 1881 in Deutschland die Arbeiterversicherung mit fester Hand in Angriff genommen wurde, da besprach man die Vorlage auch im englischen Parlament und kam zu der Ueberzeugung, daß auch die englischen Verhältnisse gebieterisch eine Besserung forderten, daß die Zustände unhaltbar seien, denn von den über 65 Jahre alten Arbeitern fällt über die Hälfte der Armenpflege anheim. Daß also etwas geschehen müsse, darüber waren Alle einig, nur über das Was und W i e nicht, und sie sind eS heute noch nicht. Die Einen wollen die Armen pflege verbessern, die Anderen die Unterstützungsvereine von Staatswegen subventioniren, an eine staatliche Organisation getraut sich Niemand heran. In den 80er Jahren bildete sich zum Studium der Frage eine Liga und im Jahre 1885 wurde auf ihr Betreiben eine Commission eingesetzt. Diese Commission beschränkte ihre Thätigkeit auf die Altersversorgung und prüfte insbesondere einen Gesetzentwurf des Rev. Blackley. Dieser Entwurf ging, wie vr. Zacher in seiner Schrift „Die Arbeiterversicherung in England" (Berlin, A. Troschel) ausführt, von dem Gedanken der Zwangsversicherung aus und wollte Jedermann gegen die einmalige Einzahlung von 10 Lstrl., welche zwischen dem 18. und 21. Lebensjahr bei einer staatlichen Versicherungscasse er folgen sollte, eine wöchentliche Unterstützung von 8 Sh. in Krankheitsfällen und ein«, wöchentliche Rente von 4 Sh. nach zurückgelegtem 70. 'Lebensjahr gewährleisten. Die Commissi )n erachtete jedoch den Plan nicht für ausführbar. Nach einer versicherungstechnischen Nachprüfung würden zur Sicherung der in Aussicht gestellten Bezüge nicht 10 Lstrl., sondern, zu 3 Proc. gerechnet, 18 Lstrl., also fast das Doppelte, einzuzahlen sein, — ein Betrag, der von einem großen Theile der Arbeiter bevölkerung gar nicht oder (insbesondere bei unregelmäßiger Be schäftigung) nur mit größten Schwierigkeiten beizutreiben sein würde. Dazu käme noch die Gefahr der Simulation in Krank heitsfällen, die Schwierigkeit, solchem Mißbräuchen zu begegnen, und die Gefahr, daß demgemäß die Krankengelder eine un- erschwingliche Höhe erreichen würden; des Weiteren die bereits den Friendly Societies verderblich gewordene Verquickung von Kranken- und Altersversicherung und endlich die lebhafte Oppo sition der Hilfsvereine, welche durch eine derartige Zwangs- Versicherung sich in ihrer eigenen Entwickelung bedroht fühlten, einer besonderen Rundfrage bei deren Ergebniß Parlaments - Commission den dem europäischen Re- Parlament im Die Commission sowie der mittleren und oberen Elasten, welche aus der neuen Einrichtung nur Lasten, aber kaum Vortheile für sich selbst zu erwarten hätten, da die letzteren auf die „Lohnarbeiter" beschränkt bleiben sollten. In ihrem Berichte vom 2. August 1887 glaubte daher die Commission den Gedanken der Zwangsversicherung ablehnen zu sollen, zumal ihrer Meinung nach die große Mehr heit der Arbeiterschaft es vorziehen würde, die Frage im Wege der Selbsthilfe zu lösen, und jede Ablenkung von diesem Wege nur verderbliche Folgen haben könnte; die Mängel aber welche die Geschäftsführung der Hilfsvereine hierbei bisher gezeigt hätte — mangelhafte versicherungstechnische Grundsätze, Ver lust der Anrechte der Mitglieder beim Wechsel des Aufenthalts ortes, keine Absonderung der verschiedenen Dersicherungszweige unzureichende Altersversorgung u. s .w. —, würden sich durch eine verschärfte staatliche Aufsicht und entsprechende Reform der Hilfs vereine überwinden lassen. Trotz dieses negativen Ergebnisses setzte die Liga ihre Pro paganda fort und hatte die Genugthuung, daß die Angelegen heit durch einen von ihrem Mitglied und Abgeordneten für Sheffield, Howard Vincent, am 14. April 1891 im Parlament gestellten Antrag, eine Enquete über die im Auslande bestehenden Altersversorgungssysteme zu veranlassen, aufs Neue in Fluß ge bracht wurde. Der Antrag führte bereits am 13. Mai 1891 zur Einsetzung — -- - - und einer gierungen, Juli desselben Jahres vorgelegt wurde. . . betraute eine Subcommission (Chamberlain, vr. Hunter, R. Mellock und James Rankin, Präsident der Liga) mit der Ausarbeitung eines vorläufigen Entwurfs, welcher von ihr am 16. März 1892 vorgelegt und von der Commission am 17. Mai 1892 als Grundlage für die zukünftige Gesetzgebung angenommen wurde. Nach diesem Entwürfe sollte: 1) Eine staatliche Pensions-"^e geschaffen werden, zu welcher Staat und Gemeinden jährliche Zuschüsse zu leisten hätten. 2) Um eine Alterspension von 13 Lstrl. (5 Sh. die Woche) vom 65. Lebensjahr ab zu erlangen, sollte jeder Mann vor seinem 25. Lebensjahr eine Summe von 5 Lstrl. (15 Lstrl. Zuschuß sollte die staatliche Pensionscasse leisten) und dann bis zu seinem 6^ Lebensjahre (also 40 Jahre lang) jährlich 1 Lstrl. bei der Postsparkasse einzahlen. Starb der Versicherte vor Erlegung des dritten Jahresbeitrages, so war die Einzahlung von 5 Lstrl. der Mittwe oder den sonst Berechtigten zurückzuzahlen; starb der Versicherte erst nach Erlegung des 3. Jahresbeitrages, aber vor Erreichung des 65. Lebensjahres, so waren der Wittwe 26 Wochen lang je 5 Sh. und für jedes Kind bis zur Vollendung des 12. Lebensjahres je 2 Sh., jedoch im Ganzen nicht mehr als 12 Sb. für die ersten 26 Wochen und 8 Sh. für die folgenden Wochen zu zahlen; andernfalls waren die eingezahlten 5 Lstrl. dem sonstigen Rechtsnachfolger des Verstorbenen zurück zuzahlen. Jeder noch nicht 25jährige Mann sollte ferner sich für eine höhere Rente als 13 Lstrl., aber nicht über 26 Lstrl. jährlich versichern können, und zwar sollte die Pension für jedes Uber die 5 Lstrl. vor dem 25. Jahr eingezahlte ganze Lstrl. um > 5 Sh. 4 Pence jährlich und für jedes über 1 Lstrl. Jahres beitrag zwischen dem 25. und 65. Lebensjahr jährlich gezahlte j Lstrl. um 3 Lstrl. 6 Sh. 8 Pence jährlich steigen; im Fall vorzeitigen TodeS sollten diese Mehrzahlungen den Hinter bliebenen oder dem sonstigen Rechtsnachfolger neben ihren oben erwähnten Ansprüchen zurückerstattet werden. Der Entwurf enthielt noch einige andere Bestimmungen. Wir theilen sie gar nicht mit, höchstens wäre die darin stipulirte Versicherungs p f l i ch t für Beamte zu erwähnen. Sonst um ging auch dieser Entwurf den Versicherungs z w a n g ; wie schon oben ausgeführt, wahrscheinlich, weil die Arbeiterschaft Front gegen den vorgesehenen Staatszuschuß machte. Eines der angesehensten Gewertschaftsblätter erklärte: „Uns eine staat liche Subvention verleihen, heißt zugestehen, daß die Löhne der Arbeiter thatsächlich unzureichend sind. Dann ist es aber an uns, alle Anstrengungen zu machen, um eine gerechte und noth- wcndige Erhöhung der Löhne herbeizufllhren, nicht aber unter dem trügerischen Titel von Staatspensionären in dem Zustande des Pauperismus zu verharren". Einen anderen Vorschlag machte Booth. Darnach sollte Jeder der das 65. Lebensjahr zurückgelegt hat, ohne Nachweis der Be dürftigkeit oder selbstgezahlter Beiträge bei seiner Ortsbehörde eine Altersrente von 5 Sh. wöchentlich beanspruchen dürfen und der dafür erforderliche Aufwand — etwa 20 Mill. Lstrl. für das gesammte Königreich — durch eine Einkommensteuer auf gebracht werden; hierbei wurde angenommen, daß so die Reichen ihrer socialen Pflicht gemäß für die Armen eintreten, die mittlere Schicht ungefähr so viel zurückerhalten als eknzahlen und die Arbeiter im Großen und Ganzen ein Drittel zu ihren eigenen Renten beisteuern würden. Als besonderer Vorzug dieses Planes wurde noch hcrvorgehoben, daß er keines weiteren Ver waltungsapparates bedürfte, sofort eingeführt, auch jederzeit wieder aufgehoben werden könnte und die jährlich 8 bis 9 Mill. Lstrl. betragenden Armcnlasten erheblich herabmindern würde. Auch dieser Vorschlag fiel ins Wasser und so kam man dann 1893 darauf zu, nicht mehr die Altersversicherung, sondern die Alters Versorgung zum Ziele zu machen, also eine verbesserte Armenpflege zu schaffen. Jedoch auch hier war der gewünschte Erfolg negativ, obgleich alle Parteien bei drn Neuwahlen im Jahre 1895 die Regelung der Frage auf ihr Programm gesetzt hatten. Alle Vorschläge, die sich auf eine Versicherung nach deutschem Vorbild« bezogen, wurden abgelehnt, dagegen machte wenigstens die Commission den Vorschlag, allen 65 Jahre alten Personen, welche ein eigenes festes Einkommen nicht über 5 Sh wöchentlich haben und jetzt noch dem Armen- oder Krankenhause zu überweisen sind, durch entsprechende Zuschuß leistungen zu Lasten des Staates und der Gemeinden mindestens eine Wochcnrcnte von 5 Sh. zu gewährleisten und die Durch führung dieser Maßnahmen den Armenbehörden zu übertragen. Als besondere Vorzüge dieses Systems machte die Commission geltend, daß dasselbe sofort und nicht erst nach langen Jahren in volle Wirksamkeit treten könne, die persönlich« Freiheit, nach eigenem Willen und Belieben Vorsorge zu treffen, in keiner Weise beeinträchtige und die bedenklichen Capitalansammlungen gänzlich vermeide. Andererseits wurde eingeräumt, daß auch dieses System erhebliche Bedenken gegen sich habe. So würde FrrMletsir» Friedliche Anarchisten. Von Wladimir von Rostowski. NaLtruck vkrtzoteu. Wenn die überschwänglichen Hoffnungen, welche die Phantasie idealer Schwärmer an die zur Zeit im Haag tagende Friedens- conferenz geknüpft hat, in absehbarer Zeit Aussicht auf Erfüllung hätten, dann würde gerade im Reich« des weisen Zaren, der die Weltfriedens- und Abrüstungsidee im vorigen Jahre in das er staunt aushorchende, von Waffen starrende Europa warf, Hunderttausenden von Menschen ein Wünsch in Erfüllung gehen, der für sie eines der Hauptpostulat« eines neuen Glaubens und einer neuen Weltordnung bedeutet. Groß ist im heiligen Ruß land die Zahl der Secten und ihrer Bekenner, welche das Krieg führen als abscheulichen Mord verwerfen, und Beseitigung des jenigen, was ihnen als schwere Unthat erscheint, ist für sie nur der erste, wenn auch wichtigste Schritt zur Befreiung der Mensch heit aus den veralteten Staats- und Reliosionsformen. Der Mensch ist nach ihrer Anschauung von Natur aus gut und bleibt es auch, wenn man ihn nach seinem freien Wollen sich ausleben läßt. Schlecht, ja, zur Bestie wird er erst, wenn Staat und Kirche mit ihrem einschnürenden Reglementiren den Widerspruch der Menschenseele herauSfordern, für die sie unbewußt das Dichterwort als zu Recht bestehend erklären: „Frei ist der Mensch, und wär' er in Ketten geboren". Es sind also Anarchisten — nicht der blutigen That, sondern des passiven Widerstandes, welch« auf friedlichem Weg« ihr« Ziele zu erreichen hoffen, Leute, die nicht Mit Dolch und Bombe operiren, sondern von dem festen Glauben beseelt sind, daß dereinst alle Menschen ihre An schauungen theilen werden, und daß damit der paradiesische Zu stand zurückkehren wird, wo, um auf Menschen das Gleichniß auS dem Thierreich anzuwenden, friedlich der Wolf neben dem Schaf, der Tiger neben dem Rehe grasen wird. Auch Deutschland hat in seinen östlichen Landestheilen ver einzelte solcher weltfremder Idealisten aufzrrweisen; ab -und zu setzt ein Mennonit, der in die Armee eingereiht wird, die Militär behörden in die größte Verlegenheit durch die konsequent durch, geführte Weigerung, Waffen zu tragen, und da diese Fälle glücklicher Weise nur selten vorkommen, giebt man nach viel fachen Versuchen, den Vogel durch lange Einsperrung kirre zu machen, nach und begnügt sich, den Wlderspänstigen in eine ArbeitScompagrtie zu stecken und dort seine Dienstzeit absolviren zu lassen. Die Sprcialitat Rußlands ist eS aber eben, daß es dort un gezählte Tausende von Srctirern giebt, die nicht nur die Militär pflicht, sondern den ganzen Staat als solchen negiren, ja zum Theil die anarchistischen Grundsätze bi» zur Selbstverstümmelung und Selbstvernichtung treiben. Aber von der Verneinung irgend einer staatsbürgerlichen Pflicht bis zu dem von einzelnen Secten gepredigten vollendetsten Wahnsinn giebt es eine große Reihe von i Abstufungen. Im westlichen Europa ist die irrig« Meinung verbreitet, als 1 ob zwischen allen diesen von der Staatstirche und dem all gemeinen Ganzen abgcfallenen Gemeinschaften ein wenigstens mittelbarer Zusammenhang bestehe. Das ist aber ein Jrr- thum, der allerdings im Wesentlichen dadurch hervorgerufen worden ist, daß man in Rußland von officieller Seite den Aus druck Raskol, gleichbedeutend mit Schisma, Kirchentrennung auf alle Secten der orthodoxen Kirche anwendet. Ein großer Theil derselben, aber durchaus nicht Alle, schreiben ihre Existenz von der Kirchenspaltung her, welche nach der Mitte des 17. Jahr hunderts die orrvodoxe Kirche zersetzte. Im Jahre 1654 ordnete der Moskauer Patriarch Nikon eine Revision der Gesang- und Gebetbücher an. Wie es so > oft in der Geschichte geht, ward dieses an sich herzlich unbedeutende Ereigniß der Angelpunct einer Reformbewegung unter allen Denen, welche die nationalen Grundlagen des mostowitischen Reiches zähe gegen die tatari schen und byzantinischen Einflüsse vertheidigten, die seit Jahr hunderten sich in di« Volksseele Eingang zu verschaffen suchten. Es fielen damals die Starowicrzi, die Altgläubigen, ab, welche sich bald in die noch jetzt unter 15 Bischöfen organisirten To- powzi, und die Priester-, sacramente- und culkuslvsen Bespo- powzi spalteten. Aus letzteren sind dann durch weitere Spaltung «ine große Zahl neuer Secten hervorgegangen, die um so mehr blühten, je mehr die politischen und socialen Schäden des russischen Reiches sich auch dem Muschik, dem kleinen Manne, fühlbar machten. Der Mehrzähl nach sind eS harmlose, fried liebende und fleißige Leute, diese Starobradzen, Jedinowirzi, Pvmoränen, Theodosianer, Lipowaner und wie sie sonst alle heißen. ES ist aber nur begreiflich, daß, wo thatkräftiger GlaubenSmuth und Opferwilligkeit stark genug waren, einer oft mit grausamer Strenge voryehenden autokratischen Regierung die Spitze zu bieten, auch die Auswüchse des Fanatismus sich geltend machen mußten. So entstand um das Jahr 1800 die Gemein schaft der Morelschiki, d. h. „die sich selbst Aufopfernden", welche den Selbstmord entweder einzeln oder familien- und gruppenweise als verdienstliche Handlungen ansahen und als Feuertaufe zur Ausführung brachten, indem sie sich in ihren eigenen Häusern verbrannten. Eine furchtbar« Auferstehung feierte diese ent setzliche Secte, welche man für fast verschollen hielt, im Jahre 1897 in der Ternow'schen Ansiedelung bei Tiraspol am Dniestr. Drei religiös überspannt« Framen und der Sohn einer derselben hatten eine große Zahl Gläubige gefunden, welchen sie weiS- gemacht hatten, daß der Antichrist demnächst erscheinen werde, daß die obrigkeitlich angeordnete Volkszählung nur ein Werk der SatanS sei, der sich dadurch der Zahl seiner Opfer vergewissern wolle, und daß es keinen anderen Ausweg gebe als den frei willigen Tod. Infolge dessen hatte denn diese Schaar — selt samer Weise zumeist Weiber — beschlossen, sich lebendig ein- I mauern oder begraben zu lassen und diesen Beschluß auch wirklich I auSgeführt. Geistesverwandt mit ihnen sind die Begannt oder Stramiki, d. h. die Wanderer, wahrhafte Anarchisten in der reinsten Be deutung des Wortes, welche jede politische, sittliche und religiöse Ordnung für Teufelswerk erklären und der Welt entfliehen wollen. Sie glauben der letzteren Absicht am besten dadurch zu entsprechen, daß sie fortwährend auf der Fußreisc begriffen sind und darnach streben, als Flüchtlinge unter freiem Himmel zu sterben. Bekannter als sie sind die berüchtigten Skopzen, welche die Selbstverstümmelung zum Sacrament erhoben haben und namentlich im südlichen Rußland viele Anhänger zählen. An die Flagellanten des Mittelalters aber gemahnen die Chlystcn, d. h. „die sich Geißelnden", weil sie bei ihren religiösen Ver anstaltungen sich selbst oder gegenseitig so lange geißeln, bis sie ohnmächtig niedersinken oder in nervös-hysterische Krämpfe ver fallen. Im scharfen Gegensatz zu allen diesen Ausgeburten des religiösen Wahnsinns, der ja auch bei nicht christlichen Völkern wie z. G. bei den Indern und den Muhamedancrn mit ihren heulenden Derwischen und dergleichen ein Gegenstück findet, stehen die Secten, welche, von dem Bekenntnisse der Urchristen aus gehend, zu Resultaten kommen, die sich völliger Staatslosigkeit nähern. Der orthodoxe Russe faßt sie unter dem Namen der sogenannten protestantischen Secten zusammen; indeß haben sie mit dem Protestantismus nicht das Geringste zu thun, zeichnen sich aber durch ihre nationalistische Dettkungsweise aus. Hierher gehören die Molokanen, d. h. Milchtrinker, so genannt, weil sie während der strengen russischen Fastenzeit auch an solchen Tagen Milch trinken, wo die orthodoxe Kirche dies verbietet. Als Napoleon I. in Rußland einrückte, glaubten sie, die Wahrsagung der Bibel vom tausendjährigen Reiche gehe nun in Erfüllung und erwarteten ergebungsvoll das Ende der Welt. Nahe ver wandt mit ihnen sind die Duchuborzcn, d. h. „Geisteskämpfer", gegen welche sich augenblicklich der Zorn des heiligen SynodS richtet, und welche sich anschicken, das ungastliche Vaterland, in dem sie schon mehrfach die Stätte ihres Seins wechseln mußten, definitiv zu verlassen. Beide Secten leben ebenso wie die Stün dchen in ganzen Dörfern zusammen, wo sie die strengste Güter gemeinschaft durchgcführt haben. Ihre religiösen Vorstellungen sind in hohem Grade vom MysticiSmus durchtränkt; sie glauben an die „innere Offenbarung", dank welcher das göttliche Wort in jedem ernsten Christen Leben gewinnt; die Menschwerdung Christi, die Drei-inigkeil, die Parthenogenese sind ihnen nur Symbole; dir Erbsünde verlegen sie in di« Zeit vor Erschaffung der Welt, wo Luzifer von Gott abfiel; ein Theil von ihnen leugnet überhaupt die Existenz Gottes und demgemäß auch den Himmel fammt der Hölle und dem ewigen Leben, indem sie von dem pantheistischen Grundsatz auSqehen „Gott ist in uns; er ist der Geist, wir sind daher Gott". Dem weltlichen Staat« sprechen sie jede Autorität ab, ebenso den kirchlichen Organisationen; sie verwerfen den Eid, verweigern die Steuern und suchen sich natürlich auch dem Militärdienste zu entziehen. Derartige Secten mußten selbstverständlich mit der Staats-1 gewalt in die ernsteste Collision gerathen und können nur dort I bestehen, wo ein Staatswesen bei großer RvumauSdehnung und I schwacher Bevölkerung nicht die Macht hat, seiner Souveränität gebührend Achtung zu verschaffen. Kaiser Nikolaus I. zögerte, nachdem er als Nachfolger seines mystisch veranlagten Vaters den Thron bestiegen hatte, denn auch keinen Augenblick, mit administrativen Verschickungen, Auspeitschungen, Einkerkerungen und Ginsperrung in Irrenhäuser gegen die Duchoborzen vor zugehen. Die Mehrzahl unterwarf sich schließlich, und was sich nicht fügen wollte, wurde im Jahre 1841 im Kaukasus an gesiedelt. Was sie dort geleistet haben, gemahnt an die Thätig keit der Mormonen am großen Salzsee in Utah. Denn ihre Niederlassungen in Transkaukasien stechen durch ihren blühenden Zustand auf das Vortheilhafteste ab von demjenigen, was Armenier, Mingrelier und all das andere dortige Völkergesindel geleistet haben. Seit dem Jahre 1890 drangsvlirt man sie aber derart, daß sie sich entschlossen haben, jenseits des Meeres eine neue Heimvth zu suchen. Ein Theil von ihnen ist bereits nach Cypern ausgewandcrt, ein anderer Theil, und zwar der größere sicht im Begriff, nach Canada zu ziehen, wo ihnen die dortige Regierung umfangreiche Ländereien in der Nähe der kanadischen Pacificbahn angewiesen hat. Wie lange sie dort ungestört ihren Principien werden nachleben können, weiß Niemand. Die Zeit, wo der Einwandererstrom sich auch in diese bisher nur schwach bevölkerten «Gebiete ergießen wird, ist vielleicht nicht fern, und dann wird die Stunde schlagen, wo sie auch dort sich den all gemein geltenden Gesetzen fügen oder wiederum zum Wanderstabe weiden greifen müssen. Auch in deutschen Landen haben sich ähnliche Gesellschaften, denen allerdings das religiös-mystische Element fehlte, schon öfters gebildet. Es mangelte aber hier eben der verbindende religiöse Kitt, der dergleichen Unternehmungen allein auf einige Zeit lebensfähig macht. So sind die Gründungen des Freiherrn von Richthofen in Texas und ähnliche auf anarchistischer Grund lage aufgebaute Veranstaltungen in Florida und Mexiko nach kurzer Zeit jämmerlich verkracht. Andere friedliche Anarchisten, wie der bekannte französische Geograph Reclus und seine Brüder, zogen sich aus ihrem Vaterland« in die selbstgewählte Vergessen heit zurück. DaS eigenartigste Schicksal aber hatte die vor wenigen Jahren in Wien entstandene Gesellschaft „Freiland", welche auf den Hochebenen des centralen Afrika ihre Ideale zu verwirklichen gedachte. Angeregt durch das Buch eines bekannten Wiener Schriftsteller« und Redakteurs, hatte sich ein Verein unter dem angeführten Namen behufs Verwirklichung der darin ge schilderten Jdralzustände gebildet, auch daS nöthige Capital war beisammen für die erste Ansiedelung, welch in der Höhenzone ge gründet werden sollte, wo der Europäer sich acclimatisiren kann. Die Avantgarde, welche den Nachkommenden die Anstedelungs- Plätze vorbereiten sollt«, war bereits unterwegs. Ehe das Gros aber folgen konnte, war der Enthusiasmus der Dorausgeganqenen verraucht und Streitigkeiten und Zänkereien rissen in der Ex pedition ein, deren Theilnehmer nach kurzer Frist auseinander- liefen.
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