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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 23.06.1899
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1899-06-23
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18990623023
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1899062302
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1899062302
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1899
- Monat1899-06
- Tag1899-06-23
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Der Reichstag konnte mehrere Gesetzentwürfe nicht mehr erledigen, und um die darauf gewendete Arbeit nicht fruchtlos zu machen, hat man sich zur Bildung der Fiction entschlossen, daß die Sitzungsperiode 1899/1900 mit der soeben beendeten eine Session bilde. Infolge dessen kann im Herbste an die bisherige Thätigkeit an geknüpft werden. Außerdem wird eine Thronrede und — da nach einem Frankfurter Urtheil al« der Autor der Thron reden der Monarch anzusehen ist — möglicherweise eine Anzahl Strasprocesse erspart. In den früherenFällen waren cSder Um fang von gesetzgeberischer Materie und die mit ihrer Erledigung verbundenen technischen Schwierigkeiten, was die Verzögerung und Vertagung verursachte. Dem ist diesmal nicht so. Nur eine Vorlage erforderte, sonderlich harte Arbeit, und diese ist gethan. Mit der Reform des Invalidenversiche rungsgesetzes an vielen Puncten hat der Reichs tag ohne Zweifel etwas Tüchtiges geschaffen, wenn auch manche Neuerung, vor Allem die Errichtung von Nentenstelleu, sich erst bewähren muß. Die in das Gesetz ausgenommene Ausdehnung der freiwilligen Ver sicherung auf selbstständige Unternehmer, die nicht mehr als zwei versicherungspflichtige Hilfskräfte beschäftigen, ist aber jeden falls ein glücklicher Griff. Technische Schwierigkeiten sind nicht die Ursache, wenn — außer Iustizreformgesctzen — die drei Postgesetze und das Schlachtvieh- und Fleischbeschaugesetz liegen bleiben. Bei beiden Gegenständen ist der Kampf der Interessen nicht ausgekämpft, das Zustandekommen von CvmmissionSbeschlüffen will nichts besagen, lieber den Postzeilungstarif, ein Gesetz, bas eine Eulturfrage hohen Ranges in sich schließt, muß man sich noch einigen, und über das Fleischbcschaugesctz, bei dem die Ueber- wachung der Hausschlachtungen und die Besichtigung des aus ländischen Viehes Steine des Anstoßes bilden, wird vielleicht eine Vereinbarung überhaupt nicht zu Staude kommen. Bei einer anderen Gruppe von Gesetzentwürfen ist die Nichterledigung auf Zeitmangel zurückzufübren. Spät, am 4. Dccember v. I , einberufen, hat der Reichstag eine Reihe von Vorlagen in sehr weit vorgerückter Zeit zu sehen be kommen. Tas Eine wie das Andere hing mit der Palästinareise des Kaisers zusammen. Wir meinen die Novelle zur Gewerbeordnung, bei der Wohl nur der in der Commission beschlossene allgemeine Ladenschluß Schwierigkeiten bereiten wird, und das Gesetz, betreffend den Schutz des gewerblichen Ar bei t s ve r hä l ln i sses, dessen erste Lesung erst am letzten Tage des SessionS- abschniltes beendet werden konnte. An diesem Gegenstände haben Bureaukratie nnd Bundesrath neun Monate zu tbun gehabt, ehe der Reichstag damit befaßt werden konnte. Die Behauptung der „Münch. N.N.", daß der Bundesrath „nur aus Courtoisie überhaupt etwas zu Stande brachte", ist vieteWvchen alt, aber bis zur Stunde noch nicht bestritten. Eine große Anzahl Abgeordneter, vielleicht eine NeichStagsmehrheit, ging mit dem Wunsche nach Hause, im Herbst statt dieses Ent wurfes eine andere, den Schutz der Arbeitswilligen regelnde BundeSrathsvorlage vorzusinden, und zwar eine solche, die auch den Schein der Berechtigung, das Gesetz ein „Zuchthausgesetz" zu nennen, der Agitation entzöge. Leider wird dieserWunsch wohl nicht in Erfüllung gehen und statt eine« Ersatzes der Regierungsvorlage durch eine andere muß man dem Erscheinen eines, die CoalitionS- und Organisations freiheit erweiternden CentrumSentwurfes entgegensehen. Mit diesem und verwandten Gegenständen hat sich der Reichstag übrigens auch in dem hinter ihm liegenden Sitzungsabschnitte bei Beratbung socialpolitischer Initiativanträge eingehend be schäftigt. Für reiskann dieMaterie kaum angesehen werden. Jeden falls spottet sie dem Versuche einer Regelung durch eine andere Initiative als die der Negierung. Die wichtigste Leistung des Reichstags außer dem Etat ist: die Erneuerung des QuinquinatS, mit der eine Erhöhung der Präsenz ziffer des Heeres verbunden war. 7000 von den mehr geforderten Mannschaften ist er, Dank dem Centrum, schuldig geblieben. An ihre Verweigerung knüpft sich die Er innerung an eine kurze, die Regierungsverhältnisse in unfreundlichem Lichte zeigende Krisis, die auch Auslösungs gerüchte erzeugte. Den ernstlich vielleicht keinen Augenblick gestörten Frieden stellte eine für bindend, wenigstens von der Negierung für bindend erachtete Zusage des Centrums her, das Verweigerte, weun nöthig, nachzuverwilligen. Die Wehr fähigkeit wird durch den Abstrich vorläufig nicht beeinträchtigt, da auch die Mehreinstellunz von Recruten sich auf mehrere Jahre vertheilt. Außer dem Heeresgesetze sind zu nennen die Vervollständigung der Militärstrafproceßgesetzgebung durch die Errichtung eines bayerischen Senats am NeichS- niilitärgerichtShof zu Berlin, die Bankgesetznovelle, das Hypotbekenbankgesetz, sowie die in frischester Erinnerung stehende Annahme zweier internationaler Ver träge: des provisorischen, vom Reichstag auf ein jährige Geltungsdauer beschränkten Handelsabkommens mit England und der Karolinenvorlage, mit der gleichfalls eine handelspolitische Vereinbarung verbunden ist. Reich erscheint die Liste des Vollbrachten nicht, auch wenn man die nicht ganz geglückte Samoa-Interpellation und den Antrag wegen Errichtung eines G octhe-Denkm als in Straßburg binzuzäblt. Letzterer Gegenstand harrt noch der Erledigung, da sich bei wiederholter Abstimmung über denselben der Reichstag als beschlußunfähig erwies. An diesem Elend des Absentismus haben die Neuwahlen nichts geändert, ebenso wenig an seinen üblen Folgen: Verschleppung der Arbeiten durch unmäßiges Redcnhalten und Sinken des An sehens der Volksvertretung. Am 14. November wird die Misöre von Neuem beginnen. Wie die „Nat.-Ztg." hört, ist nunmehr von autoritativer Seite erklärt worden, daß die Ablehnung der Canalvorlage die Auflösung des preußischen Abgeordnetenhauses zur Folge haben würde. Wahrscheinlich ist diese Nachricht nicht gerade, denn die jetzige preußische Negierung würde kaum geeignet sein, bei Neuwahlen diejenigen Parteien zu be kämpfen, auf die sie sich bisher gestützt hat. Im Falle der Auslösung des Abgeordnetenhauses müßte man sich also, wie wir bereits hervorgehoben haben, auf einen Regierungswechsel gefaßt machen. Und dazu werden die jetzt im Amte besindlicken Minister schwerlich rathcn. Zugespitzt bat sich die Situation in der Canalfrage allerdings, einmal, weil die von Len ver schiedensten Seiten geforderten „Compensationen" an Zahl und Kostspieligkeit so große Dimensionen angenommen haben, daß an ihre Erfüllung im gesetzlichen Zusammenhänge mit der Canalvorlage überhaupt nicht zu denken ist, und sodann, weil der Bewilligungscifcr des CentrumS infolge der wahrscheinlich geworbenen Verschleppung der Gemeindewahlrechts reform eher nachgelassen, denn zugenommen hat. Daß unter diesen Umständen mancherlei Conflictsgerüchte ver breitet werden, kann nicht Wunder nehmen. Aber Herr v. Miquel verzweifelt augenscheinlich noch nicht; er läßt durch die „Berl. Polit. Nachr." erklären: „Wenn an irgend einer Stelle die Absicht obwalten sollte, die Verhandlungen über die Canalvorlage durch die Auf stellung einer Menge von damit nicht im Zusammenhang stehenden Forderungen ungebührlich zu verschleppen oder gar sie unter einer Hochfluth von Compensationsforderungen zu ersticken, so dürste durch die morgige Commissionsverhandlung einer solchen Absicht sehr energisch entgegengetreten werden. Die Negierung wird zweifellos durch eine Erklärung, welche an Deutlich keit nichts zu wünschen übrig läßt, al-bald einen dicken Strich durch Sveculation rn dieser Art ziehen. Jeder Versuch, die Bereitwilligkeit der Staats regierung, etwaigen Benachtheiligungen anderer LandeStheile durch den Rhein-Elbe-Canal mittels zweckdienlicher Maßnahmen vor zubeugen, zu mißbrauchen, um das gesammte Tableau aller möglichen und unmöglichen Wünsche auf dem Gebiete des Verkehrs wesens aufzurollen, muß a limins zurückgewiesen werden. Darüber wird die morgige Commissionsverhandlung, sofern noch Zweifel bestehen sollten, voll Klarheit schaffen." Das wurde gestern Abend geschrieben; heute findet die Commissionssitzung statt, in der Herr v. Miquel mit seiner Erklärung bervortreten wird. Inzwischen ist der CentrumS- diplomat vr. Lieber an Stelle eines anderen Mitgliedes seiner Partei in die Commission eingctreten; ist er ebenso energisch wie Herr v. Miquel und zugleich ebenso geschickt, so kann sich der drohende Conflict noch immer in Liebe und Wohlgefallen für beide Theile auslösen. Den Anstrengungen Waldeck-Nousseau's ist doch endlich die Neubildung drS französischen Ministeriums gelungen und es gebührt ihm der Dank der Republik, daß er den Muth gehabt hat, das Odium der Unpopularität nicht zu scheuen. Pierre Marie Rousseau ist am 2. Dccember 1846 zu Nantes geboren. Er sludirte die Rechte und wurde Advocat in Rennes. 1881 ward er in die Deputirtenkammer gewählt, war (mehr nach links als nach recht« neigendes) Mit glied der Republikanischen Union, trat entschieden für die Absetzbarkeit der Richter ein und hatte 14. November 1881 bis 26. Januar 1882 im Ministerium Gambetta das Portefeuille des Innern inne, das ihm in dem von Jules Ferry gebildeten Cabinet von Neuem zufiel (21. Februar 1883 bis 31. März 1885). Seine erste Handlung im Cabinet Gambetta war ein Rundschreiben an die Präsecten, in welchem er sie vor den Empfehlungen der Abgeordneten warnte und das als ein Versuch, politische Einflüsse von der Ver waltung sernzuhalten, viel Aussehen erregte. Sein Werk ist auch das selbst von den Socialistcn begrüßte Gesetz betr. die Arbeiterfachvereine. 1886 siedelte er als Advocat nach Paris über, wo er in Len hervorragendsten Processen als Ver- tbeidiger funairte. 1889 erschienen seine „Oiscours poli- tiques Im October 1894 wurde er in den Senat gewählt. Nach dem Rücktritt Casimir-Perier« sielen bei der Wahl des Präsidenten der Republik im ersten Wahlgang (Januar 1895) 184 Stimmen auf ihn, worauf er zu Gunsten Faure's zurücktrat. Waldeck-Rousseau hat schon wiederholt seine Entschlossenheit und seinen staatsmännischen Blick bewährt, der ihn hoch über das Gros der Senatoren und Deputirten erhebt. Er ist ein gefürchteter Gegner der Monarchisten und der Klerikalen. Die bloße Nennung seines Namen« erregte in den antirevisiv- nistischen Kreisen einen Sturm der Wuth. Man kennt die eiserne Faust dieses Senator«, und man kennt nickt minder seine entschieden revisionistische Gesinnung und seine feste Absicht, der überall beginnenden Anarchie ein Ende zu machen. Zur Lösung der Krise wird un« weiter gemeldet: * Part«, 22. Juni. TaS neue Ministerium wird morgen Nachmittag fünf Uhr unter dem Vorsitze Loubet'- im Elysse zu einer Sitzung zusammentreten. Dem Vernehmen nach wird noch vor der ministeriellen Erklärung da- Vorgehen gegen bestimmt« Mi litärs in die Wege geleitet werden, die in Wort oder Schrift gegen die Dlsciplin verstoßen haben. Man glaubt, gegen General Metzinger werde nicht vorgegangen werden, wohl aber gegen General Hartschmidt und Oberst Saxce. Die ministerielle Erklärung würde sich darauf beschränken, zu versichern, daß da- Cabinet bestrebt sei, Frankreich au- der gegenwärtigen Krise zu befreien; das Cabinet werde an da- Parlament die Aufforderung richten, es nach seinen Thaten, nicht nach seiner Zusammensetzung zu beurtheilen, und werde alle Republikaner zur Ver einigung aufrufen. — Kaum hatte sich das Ministerium con- stituirt, als zahlreiche Gerüchte in Umlauf gesetzt wurden, um die öffentliche Meinung tm Voraus zu beeinflussen, darunter auch das vollkommen falsche Gerücht, daß daS Ministerium beschlossen habe, die Kammer zu vertagen. Das Entscheidende ist, daß Waldeck-Rousseau einen Kriegs minister gefunden hat, der nicht nur im Verein mit ihm entschlossen ist, Lein Spruch de« obersten Gericht« bis zur letzten Folgerung Achtung zu verschaffen, sondern auch — und das ist der zweite Theil der Aufgabe des neuen Ministeriums — der Sühnung der im Verlauf der ganzen Dreyfus-Angelegenheit begangenen Gesetzwidrigkeiten in gewissen Grenzen sich nicht zu entziehen. General Gallifet ist jedenfalls gegen den Verdacht geschützt, eine ähnlich zweideutige Nolle spielen zu können, wie seiner Zeit General Zurlinden, der seine Stellung als Kricgsminister und dann als Militärgouverneur von Paris mißbrauchte, um den Oberstleutnant Picquart unter den nich tigsten Anschuldigungen gefangen zu halten. General Gallifet war es vielmehr, der vor dem Cassationshofe und wo cS sonst daraus amam, für vie unanfechtbare Ehren bastigkeit und Tüchtigkeit Les ihm aus seiner dienstlichen Thätigkeit wohlbekannten Oberstleutnants Picquart rück haltloses Zeugniß ablegte. Allerdings hat er später in einem Briefe an den „Figaro" die Unterdrückung der ganzen Liquidation der Dreyfus-Affäre durch einen all gemeinen Pardon befürwortet, allein die Ankündigung von Maßregelungen gewisser Generäle zeigt, daß er gewillt ist, die DiSciplin im Heere aufrecht zu erhallen und die Armee nicht al« ein voll E tangers zu betrachten. Wenn auS seiner bisherigen Haltung zu schließen ist, daß er gegen die am meisten belasteten hohen Militärs, wie Mercier, Pellieux und Boiödeffre, vorsichtig und unter Berücksichtigung der SlaatS- raison vorgeben wird, so kann man da« begreiflich finden, zumal da selbst ein Waldeck-Rousseau nicht umhin gekonnt hat, zu diesem Compromiß sich zu bequemen, mit dem auch Las socialistischc Mitglied des neuen CabinetS, Millerand, einver standen zu sein scheint. Millerand wurde über seine Theilnahme an einem Ministerium, welchem Waldeck-Rousseau und Gallifet angebören, dem die Socialisten bisher vor warfen, er habe 1871 die Communards nirdersäbeln lassen, interviewt. Er sagte: „Wir schließen unter den Republikanern einen politischen Waffenstillstand gegen die Feinde der Fsurlleton. 2s Die weiße Nelke. Roman von Isidore Kaulbach. Nawrruck verboten. Die Herren begaben sich wieder zur Vorderseite des HauseS zurück und stiegen die niedrige Treppe zur Eingangsthür empor. Einen Blick zurückwerfend, sagte Hagenberg: „Von der Straße aus kann man nur wenig sehen, das Gesträuch und die Bäume sind sehr dicht; aber die ganze Sache muß sich ja auch nach hinten zu abgespielt haben." Damit betraten sie den Flur des Hauses, der sie mit an genehmer Kühle begrüßte. Ohne weitere Stufen erstreckte er sich direct bis zu der Entrßethür des unteren Stockwerks, die dem Eingänge gegenüber, ein wenig weiter nach rechts hin, lag. Neben den Eintretendcn stieg die Treppe vom Innern des Hauses her, auf die Frontseite zu gerichtet, hell und bequem empor. Vor der EntrSethür machte Hagenberg noch einmal Hakt, betrachtete sie eingehend und sagte dann in seiner langsamen, gründlichen Art: „Beachten Sie, daß diese Thür ohne Glas füllung und neben dem Schloß noch mit Drückervorrichtung ver schließbar ist. Wenn sie gestern Abend nicht zufällig offen stand, so muß der Mörder wirklich durchs Fenster eingedrungen sein oder einen Drücker zu der Thür besessen haben." Die anderen Herren bejahten stumm. Der Criminal- commifsar drückte auf die elektrische Glocke zur Seite. Frau Freytag selbst, die Besitzerin deS Hanfes, öffnete ihnen. Sie war eine kleine runde Person, «hpbare Wittwe eines wohl habenden Bauunternehmers, gegenwärtig zitternd vor Angst und Aufregung. „Der Mäler Richard Claasen", redete Hagenberg die bebende Mte an, „in dessen Zimmer die Todte gefunden wurde, ist Ihr Miether, nicht wahr?" „Ach Du lieber Gott, ja!" gab sie stammelnd und stöhnend zur Antwort. „Wo befinden sich Ihre Zimmer und wo die des Malers?" Der Landgerichtsrath hatte sich inzwischen in dem dämm rigen Vorraum der Wohnung umgeschaut, der sein Licht nur durch Milchglasscheiben in den oberen Theilen von drei hier mündenden Zimmerthüren erhielt. Eine von ihnen lag der Entröethür gerade gegenüber, rechts und links an den Schmal seiten des Corridors je eine der anderen. „Hier diese ganze Seite vom Haus — es sind drei Stuben, die ineinander gehen, — die habe ich an den Herrn — Herrn Claasen — vermiethet", sagte Frau Freytag mit Ueberwindung, indem sie, dem Landgerichtsrath gegenüberstehend, nach lints deutete. „Da — die beiden Thüren gehen in seine Zimmer; diese hier in ein Nordzimmer, das hat er sich zum Atelier ein gerichtet; und diese hier" — sie zeigte auf die Thür dem Ein gang gegenüber — „o Gott! Die führt in das Zimmer, wo es passirt ist. Ach, wenn mein Mann noch lebte!" „Und wo wohnen Sie selbst?" „Hier an der rechten Seite; diese Thür hier führt in meine drei Stuben. Es ist nicht sehr bequem, nur dieser eine Ein gang; aber es hat auch wieder sein Gutes. Wenn das Mädchen, — die Küche und das Mädchenzimmer sind nämlich im Souterrain —" „Das ein« Ihrer Zimmer stößt, wie mir scheint, unmittelbar an dieses hier, in dem der Mord geschehen ist. Haben Sie gestern Abend nicht irgend «in verdächtiges Geräusch gehört?" „Ach. du liebe Zeit! Ich war ja gar nicht zu Hause! Um sechs Uhr schon bin ich fortgegcmgen, bald nach Herrn Claasen. Ich hatte meinen Concertabend im Zoologischen Garten. Ach, wenn ich hätte ahnen können, was m«in ruhiges Haus betreffen sollte, während ich den Klängen der Musik lauschte nie wäre ich fortgegangen, um mein Vergnügen zu suchen!" „Wer bewohnt außer Ihnen und Herrn Claasen noch das Haus?" „Ach, nur ganz wenige Personen; ich habe mein Lebtag aus Ruhe im Hause gehalten; hier unten ist also weiter Niemand. Im ersten Stock, da wohnt der Herr Justizrath Horn mit seiner Frau und seinem Sohne; die sind aber schon seit drei Wochen in Heringsdorf, nur der Diener ist hier geblieben. Ganz oben, bas ist eine kl«in« Wohnung; die habe ich auf Fürsprache an einen alten Buchhalter Henzen und seine Tochter abgegeben. Eigentlich wäre es auch noch eine Wohnung für feine Leute, und wenn mein lieber Mann noch lebte " „Sind alle Hausbewohner anwesend?" „Jawohl, sie sind alle da; sie warten bei mir im Zimmer." „Ist auch Herr Rechtsanwalt Glaubitz da?" „Glaubitz? — Jawohl — ja, so heißt der Herr, meine ich. Ja, der ist auch gekommen." „Es ist gut. Die Herrschaften sollen bei Ihnen im Zimmer warten, bis ich sie rufen lasse. Wir —" er wandte sich zu seinen Begleitern — „wollen nun zunächst in Ruhe die Stätte der That besichtigen." Auf einen Wink von ihm öffnete Criminalcommissar Meyer die Thür zu dem Mordzimmer, während Frau Freytag, die sich zu ihrer großen Erleichterung vorläufig entlassen sah, sich in ihre Wohnung zurückzog. 'Den Herren, die das ver- hängnißvolle Zimmer betraten, schlug eine schwere, warme Luft entgegen; in den dumpfen Geruch aber, der das Gemach erfüllte, mischte sich ein feiner Blüthendust. Er kam von der weißen Nelke, die im Wasserglase auf einem kleinen Tische stand, ganz nah« bei der Leiche des schönen Mädchens; diese lag, wie am vergangenen Abend, auf den Boden dähingeftrcckt. Hagenberg betrachtete di« Todte mit großer Gründlichkeit, dann untersuchte er zunächst die Verschlüsse der Fenster und der Verandathür. „Ist Alles noch wie gestern Abend?" fragte er den Commissar. „Alles unverändert. Nur die Berandathür war geöffnet worden, als der Rechtsanwalt Glaubitz durch sie eintrat." „Ich weiß. Waren die Vorhänge an den Fenstern nicht herabgelassen?" > „Nein. Nur dieser eine hier war zur Hälfte zugezogen, wie er es jetzt noch ist." „Dies muß das Fenster sein, unter dem wir die Abschürfung an der Mauer entdeckt haben." „Allerdings." „Hm — hier — nein, hier ist nichts zu sehen!" Die Beiden untersuchten das Fenster mit scharfen Blicken, dann sagte Hagenberg: „Wenn der Mörder hier eingedrungen wäre, so hätte er leicht Spuren auf dem Fensterbrett oder auf dem Fußboden zurücklasscn können. 'Ich sehe jedoch nichts." „Er kann sich auch hereingeschwungen haben, ohne auf da» Brett zu treten. Und das dicke Fell hier auf dem Boden be wahrt kein« Spuren auf." ..Darin haben Sie recht", gab der Landgerichtsrath ein wenig widerstrebend zu und wandte sich sodann ins Zimmer zurück, um noch einmal Umschau zu halten. Plötzlich blieb er vor dem Wasserglase mit der Nelke stehen, hob es auf und trat damit näher ans Licht. „Sind Sie ein Blumenfreund, Herr Commissar?" fragte er mit etwas ironischem Ton. „Das könnte ich gerade nicht behaupten," gab der Andere erstaunt zurück. „Ich sehe das ohne Ihre Antwort; sonst hätten Sie be- merken müssen, daß diese Nelke — ist sie an der Leiche gefunden worden?" „Nein, auf dem Fußboden neben ihr." „Diese Nelke ist ein ganz ungewöhnlich seltenes Exemplar. Ich verstehe mich darauf, denn ich bin ein Blumenfreund. Sehen Sie nur einmal genauer her; auf den ersten Blick meint man, eine gewöhnliche weiße Nelke vor sich zu haben, wenn auch von absonderlicher Größe. Nun betrachten Sie aber einmal die einzelnen Blumenblätter; da finden Sie auf jedem eine feine rothe Figur, aus drei Linien zusammengesetzt, fast wie ein zierliches Dreieck mit einem rothen Punct in der Mitte Die Blume kann uns vielleicht einen werthvollen Anhalt liefern. Wir müssen bei den hiesigen Gärtnern Rundfrage halten, von wem sie stammt und wer sie gekauft hat. Ferner sorgen Sie dafür, daß die Nelke baldigst photographirt, sodann aber auch — man kann das jetzt ja machen — mit Wachs in der Weise präparirt wird, daß sie ihr natürliches Aussehen behält." D«r Commissar verneigte sich stumm, und Hageirberg wandte sich nun zu dem Gerichtsarzte, der inzwischen mit der Leiche beschäftigt gewesen war. „Nun, was haben Sie gefunden?" fragte er. „Nur das, was mein College Gröner gestern Abend bereits festgestellt hat; dieser Dolch paßt genau in die Wunde. Der Stoß muß mit großer Kraft geführt worden sein, der Tod ist offenbar fast augenblicklich eingetreten." „So wird uns vorläufig nichts zu thun übrig bleiben", sagte der Landgerichtsrath, „als daß wir auch die übrigen Zimmer in Augenschein nehmen und sodann die Hausbewohner ihre Aussagen machen lassen." Er schritt voran in das nächste, als Atelier eingerichtete Zimmer; die anderen Herren folgten ihm. In dem ziemlich großen, nach Norden gelegenen Raume standen auf Staffeleien Bilder und Skizzen; verschiedene Tische waren mit Gyps- äbgüssen von Büsten und Figuren vollgestcllt, und auf einer am mittleren Fenster stehenden Staffelei erblickten die Beamten das fast vollendete Porträt eines schönen, üppigen Mädchens, desselben Mädchens, das nun ein Opfer grausamen, räthselhaften Verbrechens geworden war. Mitleid, Empörung, Schauder erfüll ten das Herz Hagcnberg's, als er diese volle, jugendliche Gestalt, diesen lichtblonden Kovf betracktete. Freilich lag ein Ausdruck trüber Schwrrmurb in d«m jungen Gesicht, und der Beamte, der in seinem Berufe nickt leicht von einer anderen Regung als nur vom Interesse an der Aufklärung des Verbrechens geleitet wurde, fühlte sich seltsam ergriffen beim Artblick des Bildes, während er an die stille Leiche nebenan denken mußte. Noch waren die Farben auf der Palette frisch, die Pins«! noch feucht, und das Arbeitsgeräth lag auf einem Schemel neben dem Bilde, als ob der Maler soeben die Sitzung beendet hätte. Sich von dem Gemälde wendend, prüfte Hagenberg nun auch
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