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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 28.06.1899
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1899-06-28
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18990628018
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1899062801
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1899062801
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1899
- Monat1899-06
- Tag1899-06-28
- Monat1899-06
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Anwürfe gegen das Reichsgericht. * Nachdem kürzlich die zweite Strafkammer des Berliner Landgerichts I den Beweis der Wahrheit des Vorwurfs höchster Parteilichkeit auf Seite des sächsischen Oberlandes- gericktS in Dresden als erbracht erklärt hatte, konnte man mit Bestimmtheit erwarten, daß der socialdemokratische Reichs tagsabgeordnete, der damals in seiner Eigenschaft als Ver- theidiger das Material beigebracht hatte, auf Grund dessen die Strafkammer zu ihrem Spruche gekommen war, bei der Berathung deS Gesetzentwurfs zum Schutze des gewerb lichen Arbeitsverhältnisses nicht nur Capital aus diesem Spruche zu schlagen suchen, sondern auch die Spruch praxis deS höchsten deutschen Gerichtshofes heranziehen würde, um darzuthun, daß die auf Verbesserung ihrer Lage bedrohte Arbeiterwelt schon jetzt Unrecht genug zu erleiden batte. Beides hat denn auch der Abg. Heine in der Sitzung vom 22. d. M. getban. WaS ihm von Seiten deS sächsischen BundeSrathSbevollmächtigten Geh. Nath vr. Fischer auf die Angriffe gegen daS sächsische Oberlandes gericht erwidert wurde, ist bereits mitgetheilt. ES konnte sich natürlich nur auf den Mißbrauch beziehen, den Herr Heine mit einem noch nicht vollständig bekannten Urtheile trieb. Ungleich wichtiger ist die Zurückweisung, die Herr Heine wegen seiner Angriffe auf das Reichsgericht erfuhr, denn diese Angriffe bezogen sich auf längst bekannte Urtheile und konnten daher vom Staatssekretär deS Reichsjustizamts vr. Nieberding gründlich al» durchaus ungerechtfertigt erwiesen werden. TagS vorher hatte sich der Führer der „Partei für Wahr heit, Freiheit und Recht", Herr vr. Lieber, zu folgender Aeußerung verstiegen: „Angesichts der auch nach unserer Meinung nicht gar seltenen haarsträubenden Urtheile (sehr richtig! link-), di« deutsche Strafgerichte schon mittels unseres 8 153 der Gewerbeordnung und der in der Begründung aufgesührten und gestern von dem Ab geordneten Bebel im Einzelnen durchgegangenen Paragraphen des Strafgesetzbuches über Arbeiter, die in Irgend einem dieser Pnncte mit dem Gesetz in Widerspruch geriethrn, gefällt haben; angesichts aber der geradezu himmelschreienden Parteilichkeit (sehr richtig! links), mit der dieselben Vergehen auf der einen Seite auf da» Härteste und auf der anderen Seite auf da- Mildeste geahndet werden (sehr wahrl bei den Socialdemokraten), sind wir durchaus nicht geneigt, .... leichten Sinne- in eine Verschärfung von Straf« bestimmungen zu willigen." Durch diese Aeußerung zog sich Herr vr. Lieber einen Ordnungsruf zu, der Herrn Heine ermahnte, vorsichtiger zu Fri-LUston. Ans knßmaul's Zugenderinnerungen. In den letzten Jahren hat man in Deutschland angefangen, mehr Erinnerungen zu schreiben, und das Publicum hat diese Erinnerungen mit freudigem oder gespanntem Interesse aus genommen. Die Erinnerungen Bismarck's sind ja geradezu ein Weltereigniß gewesen. Alle „Erinnerungen" können natürlich nicht so oder auch halb so spannend wirken wie die Bismarck's, allein es ist ein Glück, daß man die Spannung der Politik auch nicht immer vertragen kann, daß man sich einmal nach stiller Be trachtung eines Philosophen sehnt, der aus dem reichen Schatze seiner Erfahrungen, wenn auch innerhalb eines beschränkten Kreises erzählt. Mehr oder minder sind solche Erinnerungen oder „Memoiren" nur der Widerschein des gern Gewolltem, sie schildern uns Personen und Geschichte im verklärenden Licht« des Alters, sie sind deshalb vielleicht weniger realistisch, sie sind sub- jectiv, indessen gerade die persönliche Färbung gisbt ihnen das Charakteristische, das sie so anziehend macht. Selbst wenn der Erinnerungenschreiber keine ganz hervorragende Größe ist, so fesselt doch di« eine oder die andere Person von gewisser Bedeu tung, die in seinen Lebensweg getreten ist, und ihr Wild, von der Seite des Schreibers ausgenommen, verbessert und ergänzt den Eindruck, den der Leser von jener Persönlichkeit früher ge wonnen hat. Wenn ein Mann das Wort nimmt, der in seiner Art eine Berühmtheit ist, ein Mann, von dessen Wssen man schon, ehe man ihn kennt, auS allen möglichen Quellen unterrichtet ist, so greift man gewiß gern nach seinem Buche und thut einen Blick in sein Gemüths- und Geistesleben. Ast nun der Mann ein Arzt, dessen Beruf sein Auge geschärft hat, der auch gewöhnt ist, sich selbst kritisch zu betrachten und unter allen Umständen wahr zu berichten und nichts zu beschönigen, so muß uns das Lesen seiner Jugenderinnerungen ein doppelter Genuß sein. Und daS sind in der That dieKußmaul' S*),des hochgeachteten Klinikers. Sein Leben ist nicht reichbewegt gewesen, es ist in ver- hältnißmäßig ruhigen Bahnen dahingegangen, aber es ist reich gewesen an Erfahrungen, und der klare Blick, mit dem der Ver fasser die hervorhebenswerthen Moment« erkennt, die gemüth- volle und doch kritische Sprache, mit der er von seiner eigenen Entwickelung, von sein«rHeimath,d«n gesellschaftlichen Zuständen der dreißiger und vierziger Jahre, von seinen Lehrern, von der Medicin zu jener Zeit spricht, machen das Buch ungemein an ziehend, nicht nur für den Arzt, sondern auch für j«d«n gebildeten Mann oder Frau. Schwäbischer Humor durchwcht alle Seiten, und wir können eine bessere Empfehlung dem Buche gar nicht mit auf den Weg geben, als wenn wir einige jener Stellen aus der reichen Fülle seine- Inhalt« entnehmen. Dor fünfzig Jahren hing man den Wundercuren genau so an, wie heute, oder viel leicht besser gesagt, obgleich fünfzig Jahre höchster Forschung ins Land gegangen sind, ist man heute noch so wundercurbedürftig wie Kamal». Von einer solchen Wundercur erzählt auch Kuß maul und man kann au» jeder Zeile den Forscher und zugleich den Schalk scheinen sehen. *) Iugrndrrinnrrungrn eine- alten Arzte- von Adol Kußmaul. Mit einem Porträt de- Verfasser- nach einem Gemälde von Franz Lenback. Stuttaart, Adolf Bon» St Eie. sein. DaS war er auch, wenigstens in der Form. Er suchte nachzuweisen, daß schon die bestehende Gesetzgebung eine Fülle von Handhaben gegen wirkliche Ausschreitungen biete, und fuhr dann nach dem stenographischen Berichte wörtlich fort: „Da muß ich nun noch ein besonderes Wort sogen über die Bestrafungen wegen Erpressung. Der Herr Staatssekretär vr. Nieberding hatte gemeint, man solle doch so aus einzelnen Urtheilen nichts herleiten. Es handelt sich aber hier in Wahrheit nicht um ein einzelnes zufällige» Urthcil, sondern um eine ganz conse« qu ente, vom Reichsgericht verfolgte und in einer ganzen Reihe von Entscheidungen frstgehaltene Judicatur, und die ist doch so, daß es Wünschenswerth ist, im Hause noch einen Blick darauf zu werfen. Es wird bekanntlich wegen Erpressung bestraft, wer durch Drohung — es braucht nicht Drohung mit einer strafbaren Handlung zu sein — Jemand zu etwas nöthigen will, um sich oder einem Anderen einen rechtswidrigen VermögenSvortheil zu verschaffen. Da muß man nun allerdings Jurist sein, um auf den Ge« danken zu verfallen, auf den daS Reichsgericht gekommen ist. Es sagt nämlich dem Sinne nach: „Rechtswidrig ist etwas, worauf Einer noch keinen Anspruch hat." Daß der Arbeiter noch keinen Anspruch hat, gegen so und so viel Tagelohn engagirt zu werden das ist klar. Wenn er das fordert und dabei die Drohung aus« spricht, „ich streike sonst", so ist das eine Erpressung, denn er will etwas, „was rechtswidrig ist, weil er darauf noch kein Recht hat". DaS ist eine — „haarsträubende" darf ich nicht sagen — sehr wunderliche Judicatur. Die Wunderlichkeit derselben wird Ihnen aufgehen, wenn Sie die Consequenzen ziehen. Wie macht es denn jeder Kaufmann, der die Conjuncturen auSnützt, der gefragt wird, ob er so und so viel Maaren zu dem und dem Preise abgeben will? Nein — sagt er—, die Nachfrage ist groß, die Waare ist rar; ich erhöhe den Preis um so und so viel! Liegt darin nicht auch die Drohung: wenn du mir diesen Preis nicht bewilligst, dann verkaufe ich dir nickt, — und in Folge dessen ist Mancher genSthigt, höhere Preise zu zahlen als er sonst thuu würde? Darin hat noch nie ein Mensch eine E-pressung gesehen. Und wenn ein Unternehmer zu den Arbeitern i ait-eit-^- stiller Zeit sagt: jetzt verringere ich den Tagclohn um so und so viel; wem es nicht paßt, der kann gehen, — ist denn das nicht auch eine Drohung mit dem Uebel der Entlassung, um sich — wie sagt doch das Reichsgericht? — rechtswidrige Vermögcnsvortheile zu verschaffen, nämlich den Anspruch, Laß der Arbeiter die Arbeit für einen geringeren Lohn leistet? M. H., wenn man da die Consequenz ziehen wollte, dann hörte Handel und Wandel überhaupt auf. (Sehr richtig! bei den Social- demokraten.) Aber dafür ist ja gesorgt: die Consequenzen werden Unter dem Namen Wundercuren begreift das Publicum auffallende Heilungen mannigfacher Art. Bisweilen ist es der Zufall, der Heilungen fertig bringt, die den behandelnden Arzt selbst in Verwunderung setzen und ihm den weder erstrebten noch erwünschten Ruf eines Wunderdoktors ein bringen. Eine ergötzliche Geschichte, so berichtet Kußmaul, aus der eigenen Praxis hat mir mein Vater erzählt. Eines Tages kam ein Bote aus einem entfernten Dorfe des Rheinthales nach Graben, wo mein Vater damals prakticirte, und verlangte ihn zu einem Bauern, der sich seit einigen Wochen übel fühlte, wenig mehr aß, mager und schwach wurde und das Bett hütete. Di« 'Sache eile nicht, ließ der Kranke sagen, könne mein Vater nicht selbst in den nächsten Tagen kommen, so möge er ihm einstweilen eine Arznei durch den Boten schicken. Mein Vater verschrieb ihm eine Eibischabkochung mit Syrup, die keinesfalls schaden konnte, und machte sich einige Tage nachher auf den Weg zu dem Kranken. Inzwischen hatte d«r unschuldige Trank Wunder gethan. Der Bauer war außer Bett und ließ sich, als mein Vater bei ihm eintrat, gerade eine gebratene Taube schmecken und trank ein Glas Wein dazu. Er begrüßte meinen Vater vergnügt: „Herr Doctor, das habt Ihr gut gemacht, aber es war eine Roßcur, sie hat mich gründlich ausgrfegt und die Krankheit ausgetrieben. Zum zweiten Mal brächt' ich die Ameisen nicht hinunter, auch blieben noch einige übrig in dem Arzneifläschchen, es steht dort am Fenster." Erstaunt betrachtete mdin Vater den Rest der Arznei. Sie enthielt große Ameisen. Ihre scharfe Säure oder der Ekel, mit dem sie der Kranke hinabgewürgt, hatte wie ein starkes Brech mittel dem Bauern die Gesundheit wieder gebracht —, soviel stand fest. Wie aber waren die Jnsecten in die Arznei gekommen? Nicht ohne Schwierigkeit gelang es meinem Vater, das Räthsel zu lösen. Der Bote, der die Arznei geholt hatte, war des Bauers Knecht, der Tag war heiß gewesen, der Knecht müde. Im Schatten eines Föhrenwaldes, den er passiven mußte, ließ er sich nieder, um zu ruhen, nahm die Nrzneiflcrsche aus der Tasche und legte sie zur Seite. Der Schlaf überkam ihn, und als er aufwachte, fand er den Stöpsel ausgetrisben; wie das gekommen, wußte er nicht zu sagen, vielleicht hatte er selbst aus Neugierde ihn herausgenom men und den Trank versucht. Ein kleiner Theil der Arznei war ausgeflossen, aus einem nahen Ameisenhaufen wanderten die Thierchen in langer Procession zu dem süßen Saft und In die Flasche. Eilig verschloß er die Flasche, steckt sic wieder zu sich und ließ, heimgekchrt, ruhig seinen Herrn, dessen Zorn er fürch tete, die Arznei sammt den Ameisen nach Vorschrift stündlich einen Eßlöffel voll genießen. Die Psychologie beginnt erst seit Kurzem, die Vorgänge km Nervensystem da, wo leibliches und seelisches Geschehen sich ver flechten, mit den Strahlen der psychophysischen Untersuchungs methoden zu beleuchten. Noch immer herrscht hier tiefe Dunkel heit und es giebt kein Gebiet der Medicin, wo der Aber- und Wunderglaube größere Triumphe feiert«, als gerade auf diesem. Phantasten und Schwindler treiben hier ihr geschäftiges Wesen und selbst der ernste Forscher fällt leicht in gefährlich: Fallstricke. Die Rolle, die in der ersten Hälfte des Jahrhunderts der thierische Magnetismus ausschließlich spielte, muß er heute mit dem Hvpnoti«mu« und der Suggestion theilen. ES gelten jedoch auch für diese modernen Eurmethoden die Warnungen, die der welterfahrene Stromeyer im ersten Bande seiner Erinnerungen nicht gezogen; diese werden nur den Arbeitern gegenüber ge zogen! (Sehr richtig! bei den Socialdemokraten.) Man wird mir nun leicht einwenden können, daß durch solche Ausnutzung der Conjuncturen unter Umständen wirklich nichts würdige Gewinne und VermögenSvortheile erstrebt werden können. Ich kann mir den Fall denken, daß die Arbeiter zu einem Unter nehmer kämen, der bei einer hohen Conventionalstrafe in zwei Tagen liefern muß, und daß sie sich weigerten, die letzte Hand an die Sache zu legen, wenn er ihnen nicht ein ganz außerordentliches Geschenk machte — sagen wir: eine Riesensumme zahlte. M. H., auch dafür ist gesorgt; dafür haben wir den § 302 s über Sachwucher, der die Frage an dem richtigen Ende anfaßt; dieser erklärt nämlich das Erstreben eines solchen VermögenSvortheils dann für strafbar, wenn damit etwas erlangt werden soll, was im auffälligen Mißverhältniß zum Werth der Leistung steht. Das ist der richtige Standpunct. Auch der 8 302s kann, worüber die Theoretiker einig sind, aus Arbeitsverträge angewendet werden, wie man in jedem Com- mentar nachlesen kann. Damit kann man die wirklichen Mißbräuche, die theoretisch Vorkommen können — wirklich vorgekommen sind sie noch nicht —, fassen. Aber die Anwendung des Erpressungs paragraphen nach Art des Reichsgerichts zerstört jede Rechtssicherheit, und darum ist es nothwendig, daß sie beseitigt wird! Wir werden, wenn der Herr Abgeordnete Lieber, wie mir scheint, bei der zweiten Lesung Anträge stellen wird, dann auch mit einem Antrag herauskommen, den Erpressungsparagraphen abzuändcrn." Daß Herr Heine aber nur in der Form vorsichtig gewesen war, bewies ihm sofort Staatssekretär vr. Nieberding, der zunächst die Behauptung Heine's, die Arbeiterschutzvorlage sei ein Ausnahmegesetz, bestritt und dann fortfuhr: „Der Herr Vorredner ist dann aus die Judicatur des Reichs gerichts tingegangen und hat sich da namentlich diejenige Recht sprechung vorgenommen, die sich mit dem Erpressungspara- graphen des Strafgesetzbnchs beschäftigt. Es ist mir nicht ganz klar geworden, welche Ziele er dabei im Auge hatte. Ich habe ihn so verstehen können, als ob die Auslegung des ErprrssungSparagraphen bereits jetzt so weit in der Judicatur des Reichsgerichts reiche, daß ein neues Gesetz hier überflüssig sei. Wenn der Herr Abgeordnete Heine mich in diesem Pnncte überzeugen will, dann bitte ich'ihn, mir diejenigen Vorschriften deS Entwurfs zu bezeichnen, die durch die Bestimmung des Erpressungsparagraphen des Strafgesetzbuchs, wie ihn das Reichsgericht auslegt, unnöthig werden. Ich glaube, von keiner Bestimmung ist das in der That der Fall. Man kann nur sagen, Laß in dem 8 2 Nr. 3 sich ein Thatbestand befindet, der unter Umständen — aber auch nur unter Umständen — zu an die Aerzte richtet. Jedenfalls verstößt die hypnotische Sug gestionstherapie gegen einen der obersten Grundsätze in der Be handlung der Nervenkrankheiten: Alles zu meiden, was das ge schwächte Ich noch mehr schwächt, und nichts zu unterlassen, was es kräftigt und insbesondere den ohnmächtigen Willen aufrichtet. Nur zu leicht macht sie den Kranken zum energielosen Werkzeuge des Hypnotiseurs und zum traurigen moralischen Schwächling. Zu diesem bedenklichen Curmittel sollte der Arzt nur im äußersten Nothfall greifen. > Zu den echten Wundercuren gehören die meisten Euren, die als sympathetische bekannt sind. Sie finden noch heute, in dem Zeitalter der großen Entdeckungen auf allen Gebieten der Natur wissenschaft und der Enthüllung so vieler, den Alten unbegreif lichen Geheimnisse, auch unter den Gebildeten häufig Gläubige, ja es scheint, als ob gerade die neu entdeckten und oft verblüffen den scheinbaren Naturwunder der Wundersucht gerade unter den Gebildeten Vorschub leisteten. — Aus welchem Dünger des dicksten Aberglaubens die meisten sympathetischen Volksmittel wie Pilze hervorschossen, mag die 'Sammlung lehren, die ein ehemaliger, äußerst schreibseliger Docent der Rostocker Facultät, Or. G. F. Most, unter dem Titel herausgab: „Die sympathetischen Mittel und Curmetihoden, Rostock" 1842. Diese Schrift steht würdig neben vr. Paulini's berüchtigter „heilsamer Dreckapotheke" von 1696. Dennoch mag ein und das ander« sympathetische Mittel mit demselben Recht eine unbefangen« Prüfung verdienen, wie sie die ekelhaften Arznefftoffe des Moschus, Bibergeils, der gepulverten Küchenschabe (Liatta orientalis) gefunden haben, und wie sie die heutig«, oft überaus kindische Organotherapie findet. Als ein sympathetisches, der Prüfung nicht unwerthes Volks mittel dürfte sich die sogenannte „ Taubencur " bei den eklamptischen Anfällen der Kinder empfehlen. Das Volk am Ober- und Mittelrhoin nennt derlei Krämpfe Gichter, in Bayern Fraisen. Das Verfahren ist sehr einfach. Man preßt den Börzel einer lebenden Taube an den After des befallenen Kindes; nach kurzer Zeit sollen die Krämpfe aufhören. Ich habe das Mittel einmal in den fünfziger Jahren unter drängenden Umständen, wo mich die Verzweiflung der Eltern in große Verlegenheit brachte, weil verschiedene andere Verfahren völlig versagten, ange wendet, und die Krämpfe verschwanden fast augenblicklich. Sie hatten schon einen halben Tag anhaltend fortgedauert, das Schauspiel war äußerst traurig, die Ursache eine tuberkulöse Ent zündung der Rückenmarks- und Gehirnhäute, die sich zu einer Earies der Rückenwirbel gesellt hatte. Der Vater war Natur forscher und mir befreundet, ich schlug ihm vor, das unschäd liche Mittel zu versuchen. Es waren Tauben zur Hand, man holte «in prächtiges, gut gefüttertes, warme- Thierchen aus dem Taubewschlag und legte e- nach Vorschrift an. Nach wenigen Secunden festen Anpressenr, wobei die Taube heftig zitterte, streckte sich der Knabe wie bei Tetanus, und damit hatten die Zuckungen ein Ende, kamen auch bis zum Tode, der nach 24 Stunden eintrat, nicht wieder. Nicht lange nachher leistete mir eine modificirte „Taubencur" eigener Erfindung gute Dienste bei einem alten, von argen „Herz krämpfen" schon lange heimgesuchten hysterischen Fräulein. Die Dame stammte aus vornehmen Hause und war schon mit 16 Jah ren wegen nervöser Leiden nach Heidelberg in die magnetische Be handlung des erwähnten Professor« Schelver gebracht worden, doch hatte er wenig ausgerichtet. Die Dame wurde allmählich an den Beinen gelähmt. Sie ließ sich ein« kleine Villa in Neuen einer Jdealconcurrenz mit dem Strafgesetzbuch führt. Aber im Uebrigen findet sich in dem Entwürfe nichts, von dem behauptet werden könnte, e» fiele jetzt bereits unter da- geltende Recht gegen Erpressung. Man hat aber den Herrn Abgeordneten auch so verstehen können, als wenn er hätte darlegen wollen, daß die Rechtsprechung deS Reichsgerichts dieseBestimmung in einer unzulässigweitenArt interprrtirte, und ich bin fast geneigt, da- anzunehmen, da er auf die Gründe eines NeichSgerichtsurtheils sich deS Näheren eingelassen hat. Nun habe ich schon dem Herrn Abgeordneten Basserinann gegenüber neulich gesagt — und ich bedaure, daß ich einem zweiten ausgezeichneten Juristen deS Hauses gegenüber Las wiederholen muß —, daß eS unmöglich ist, hier in diesem Hause auf Grund eines Erkenntnisses des Gerichtshofes, ja, aus Grund — wie der Herr Abgeordnete Heine heute versucht hat — einzelner AuS- führungen in den Gründen eine- Urtheils zutreffend darzulegen, daß das Reichsgericht in einer bestimmten Richtung seiner Recht- sprechung zu weit gehe. Das ist nach meiner Meinung nicht berechtigt, will man daS Hau- von der Tragweite und der Be deutung der Rechtsprechung des Reichsgerichts wirklich überzeugen. Es ist falsch, m. H., einzelne Wendungen aus der Be« gründung eines bestimmten UrtheilS herauszuziehen und auf diese Wendungen allgemeine Sätze gründen zu wollen. Es wäre auch unrichtig, wenn man annehmen wollte, wozu die Ausführungen des Herrn Vorredner- fast Veranlassung gegeben haben, als wenn es sich hier um Präjudikate des Reichsgerichts handle, die für die Ausführung des Erpressungsparagraphen maßgebend seien. Das ist nicht der Fall. Um Präjudicate handelt es sich hier überhaupt nicht, solche liegen nicht vor; und die Ausführungen aus den Gründen LeS Reichsgerichtsurtheils, die der Herr Vorredner erwähnt hat, beziehen sich nur auf einen bestimmten Fall, sie lassen sich im Zusammenhang mit diesem Fall sehr wohl rechtfertigen, bekommen aber einen ganz anderen, und dann natürlich einen unberechtigten Sinn, wenn man sie, losgelöst von diesem speciellen Fall, außer Zusammenhang mit der übrigen Begründung hier dem Hause vorsührt. M. H., da- Reichsgericht hat sich in wiederholten Fällen mit der Frage der Auslegung deS Erpressungsparagravhen in Bezug auf die Arbeiterverhältniffe beschö'tigt, und ich möchte, um durch die Nusführungrn Les Herrn Vorredners Ihre Meinung über die Be rechtigung des StandpuncteS des Reichsgerichts nicht vorweg beirren zu lassen, doch um die Eclaubniß bitten, Ihnen kurz den Thatbestand von drei Fällen vorzutragen, welcher in den Gründen der Reichs- gerichtSurtheile festgestellt wurde, damit Sie beurtheilen können. heim kauen. Als ich zu ihr gebeten wurde, hatte sie ihre Villa seit mehr als 30 Jahren nicht mehr verlassen und seit 16 Jahren nicht mehr das Bett. Nach dem Tode Schelver's war sie homöo pathisch behandelt worden, seit einigen Jahren hatte sie keinen Arzt mehr beigezogen. Ein treuer Kreis von Freundinnen schaartc sich täglich um die liebenswürdige Kranke, eine von ihnen widmete sich ihr ganz, wohnte bei ihr und besorgte Haus und Küche, Nachmittags kamen die anderen von Heidelberg herüber. Um drei Uhr wurde sie regelmäßig von „Herzkrämpfen" befallen, die Arme litt unsäglich, sie versicherte bestimmt, ihr Herz bleibe oft zehn Minuten lang stehen! Die Freundinnen litten mit ihr, sie umstanden das Bett, die einen jammernd, die anderen tröstend, wieder andere hilfreich beispringend mit kölnischem Wasser, eng lischem Riechsalz, zarten Reibetüchern und dergleichen unentbehr lichen Dingen. Zu dem Kreise dieser barmherzigen Gemeinde fand rin gut- müthiger Sachse, ein stuck. zur., Zutritt. Die Damen meinten magnetische Kräfte an ihm zu verspüren und baten ihn, einen Versuch damit an der kranken Freundin zu unternehmen. Er ließ sich dazu bewegen, es war kein Zweifel, seine Striche wirkten wohllhätig auf das gequälte Herz, und von nun an fuhr er jeden Nachmittag mit der Fähre über den Neckar zu der Dulderin, die soinem Fluidum mit 'Sehnsucht «ntgcgenharrte. Aber er hatte seine Kraft überschätzt, am Ende des Semesters fühlte der Sama riter sich erschöpft und elend, er mußte Heidelberg verlassen und suchte auf Rigikaltbad Erholung. Bald nachdem der gute Sachse abgereist war, wählte mich eine der Freundinnen zu ihrem Arzte. Sie entdeckte an mir, was ich nicht gewußt, nicht einmal geahnt, magnetische Kräfte und ver anlaßt« die Kranke, mich zu sich zu bitten. Hier erfuhr ich erst von meinen verborgenen Tugenden und weshalb man mich be gehrt«. Ich sollte die magnetische Cur, die der Kranken so wohl- thätig gewesen, auf- Neue aufnchmen. Sie flehte mich um Linderung ihres Leidens an und erweckte mein« aufrichtige Teil nahme. Ihre edlen und feinen Züge, ihr weiches Silberhaar unter dem weißen Spitzenhäubchen, ihre sanfte Stimme uns Duldermiene rührten mich, aber die magnetische Behandlung mußte ich ablehnen. Indem ich erwog, wie ich ihr nützen könne, fiel mir die Taubencur ein. Ich erzählte ihr von dem Volks glauben, wonach schon di« Gegenwart dieser angeblich so sanften Geschöpfe im Krankenzimmer die Nerven beruhige, und was ich kürzlich in der Praxis erlebt hatte. Ich schilderte ihr das Ver fahren bei Krämpfen der Kinder, schlug ihr vor, Tauben anzu schaffen und beim Nahen der Herzkrämpfe sie an das Herz, den leidenden Theil, zu pressen. Meine Worte machten sichtlich Ein druck und ich empfahl mich. Nach vierzehn Tagen wurde ich wieder gerufen. Als ich die Thürc des Krankenzimmers öffnete, gurrte mir ein zärtliche« Pärchen Turteltauben entgegen. Die Freundinnen hatten Erkun digungen eingezogen und erfahren, daß von allen Tauben die Turteltauben die meiste beruhigende Kraft besäßen. Die Kranke dankte mir herzlich; mein Rath hatte sich bewährt. Sie hatte dabei eine merkwürdige Beobachtung gemacht. „Ich habe ge funden", erklärte sie, „daß ein Unterschied zwischen den Täubchen besteht, das Männchen übertrifft an wirksamer Kraft das Weib chen merklich." Dor Kurzem noch erfuhr ich von Verwandten der Dame, die hochbetagt au« dem Leben schied, daß ihr die Taubencur noch viele Jahre lang Erleichterung gebracht habe.
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