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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 04.10.1899
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1899-10-04
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18991004016
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1899100401
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1899100401
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
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- Ausgabe
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1899
- Monat1899-10
- Tag1899-10-04
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Die Finanzkräfte des Landes werden gerade jetzt durch die Schutzbauten am gelben Fluß (Hoangho), dessen Unterlauf in der Provinz Shantung, unserer Jnterefsen-Sphäre, liegt, in erhöhtem Grad« in Anspruch genommen. Im vorigen Jahre hatte der Hoangho so schwer« Verwüstungen angerichret, daß die Regierung sich gezwungen sah, etwas zu thun. Für dieses Jahr sind mehrere'Millionen Taels (I Tael jetzt ungefähr 3 o-k) ange wiesen worden, um die Dämme zu verstärken und das Bett des Flusses zu vertiefen. Die Belastung der chinesischen Finanzen wird ferner in Zu kunft noch dadurch vermehrt werden, daß die chinesische Regierung die Garantie für die Verzinsung und Rückzahlung mehrerer Eisenbahn-Anleihen übernommen hat. Denn es ist kaum mög lich, daß die betreffenden Bahnen von Anfang an genügende Ein nahmen haben werden, um neben den Betriebskosten noch die Zinsen und die Amortisation der für ihren Bau aufgenommenen Anleihen zu decken. Dazu kommen noch die — beiläufig frucht losen — Aufwendungen für Heeresreorganisation. Wie steht es dem gegenüber mit den Einnahmen? Die jähr lichen Einnahmen der chinesischen Regierung betragen alles zu sammen ungefähr 89 Millionen Taels, gleich ca. 267 Millionen Mark, wovon 7—8 Millionen nach Peking gehen, der Rest von den Provinzial-Regierungen verausgabt wird. Diese für ein so ungeheures Reich mit so riesiger Einwohnerzahl und so kolossalen natürlichen Reichthümern lächerlich geringe Summe reichte bis zum japanischen Kriege vollkommen hin, um die jährlichen Ausgaben zu bestreiten. Seit jener Zeit will dies aber nicht mehr gelingen, den ver mehrten Ausgaben steht kein entsprechendes Anwachsen der Einnahmen gegenüber. Die Revenue aus den unter fremder Ver waltung stehenden Seezöllen (ca. 22 Millionen Taels) ist seit Jahren stabil geblieben, ist aber neuerdings durch die Verdoppe lung der Gehälter der Zollbeamten erheblich mehr belastet worden. Anfangs deckte man den Fehlbetrag mit den nach Zahlung der Kriegs-Entschädigungs-Raten aus den Anleihen zurückgebliebenen Beträgen, im vorigen Jahre konnten die Löcher mit den Ergeb- nisseneinerimJnnern aufgenommenen Zwangsanleihe (die natürlich nie zurückgezahlt wird) gestopft werden. Diese Quellen sind jetzt aber versiegt; das in diesem Jahre zu deckende Deficit beträgt nach Aeußerung eines wohlunterrichteten hohen chinesischen Beamten 5 Millionen Taels, nach Angaben in amtlichen chinesi schen Schriftstücken gar 10 bis 20 Millionen Taels. Die traurige Finanzlage veranlaßte, daß die Bauten in den kaiserlichen Lust schlössern eingestellt wurden, und zum ersten Mal seit langer Zeit verbringt der Hof aus Ersparnißrücksichten die heiße Zeit nicht in der Sommerresidenz in den westlichen Bergen außerhalb der Stadt, sondern in dem heißen und übelriechenden Peking. Für den, der orientalische und besonders chinesische Verhältnisse kennt, ist dieser Bruch mit dem Althergebrachten, diese dem Sohne des Himmels auferlegte Beschränkung das beweiskräftigste Zeichen dafür, daß man sich der finanziellen Nothlage bewußt ist. Dir Kaiserin-Regentin wollte unter allen Umständen vermeiden, daß sie gerzöthigt werden könnte, auf ihre eigenen nicht allzu hoch zu schätzenden Ersparnisse zurückzugreifen, sie verfiel daher auf den Ausweg, einen ihrer vertrauten Rathgeber in die Na"gtse-Pro- vinzen zu entsenden, um in diesem reichsten Theile Chinas trotz des Widerstrebens der Provinzial-Mandarinen neue Kontri butionen zu erheben. Die Wahl ist auf den Cabinetsminister und Großsekretär Kangyi gefallen,einenbigottenundbeschränkten Mandschuren, neben dem vielgenannten Generalissimus der Truppen in der Umgebung von Peking, Iunglu, der einfluß reichste Rathgeber der Regentin und der eigentliche Urheber aller reaktionären Maßregeln nach dem vorjährigen Staatsstreich. Es soll bislang Kangyi noch nicht gelungen sein, die von ihm bei seiner Abschiedsaudienz versprochene Erhöhung der jährlich von den unteren Jangtse-Provinzen zu den Reichsausgaben beizu steuernden Beträge um zwei Millionen Taels, sondern nur eine solche um eine Million zu erreichen. Da hierdurch aber nur ein kleiner Theil des diesjährigen Deficits gedeckt wird, haben alle hauptstädtischen und Provinzial-Behörden Befehl erhalten, Mittel und Wege zu ersinnen, wie den kranken Finanzen wieder aufgeholfen werden könne. Die dadurch veranlaßten Be- rathungen sind vor Kurzem zum Abschluß gelangt und ihr Resul tat ist in einem kaiserlichen Erlaß zur allgemeinen Kenntniß ge bracht worden. Etwas Neues haben die chinesischen Finanz künstler auch diesmal nicht zu Tage gefördert, das ganze Edikt besteht hauptsächlich in einer Wiederholung früherer Ermah nungen an die Beamten, doch nun endlich einmal mit den ewigen Unterschlagungen und Diebereien aufzuhören und hübsch ehrlich zu werden. Diese Ermahnungen werden auch diesmal fruchtlos bleiben. Da ein chinesischer Beamter schon große Summen aufwenden muß, um sein Amt zu erhalten, dann während seiner gewöhnlich nur einige Jahre dauernden Amtszeit ein lächerlich geringes Gehalt bezieht, außerdem jeden Augenblick ohne Pension abge- setzt werden kann, ist er darauf angewiesen, Heu zu machen, so lange die Sonne scheint. Alles in Allem gewinnt es den Anschein, als ob die chinesisch« Regierung so ziemlich am Endr ihrer Mittel sei, um die drohende finanzielle Krisis abzuwenden. Noch ist es ihr bisher gelungen, die für den Schuldendienst der fremden Anleihen erforderlichen Summen rechtzeitig bereit zu stellen. Sie wird jedenfalls alle Kräfte anspannen, um auch in Zukunft ihre finanziellen Verpflichtungen zu erfüllen. Früher oder später wird aber doch der Tag kommen, wo sie mit den fälligen Zahlungen in Rückstand bleibt. Dann könnten die Ne gierungen derjenigen Länder, in denen die chinesischen Anleihen untrrgebracht sind, Deutschland, England, Rußland und Frank reich, sich veranlaßt sehen, Schritte zu thun, um die Jnreressen der Besitzer von chinesischen Anleihe-Papieren zu schützen. Dies würde am wirksamsten geschehen durch allmähliche Einführung einer internationalen Controle über den chinesischen Finanz - Mechanismus nach dem bewährten Muster der Seezoll-Verwaltung. Schon jetzt stehen die zur theilweisen Sicherstellung der deutsch-englischen Ill-Millionen-Pfund-Anleihe von 1898 verpfändeten Likin-Ein- nahmen der IangtseProvinzen unter der Aufsicht Sir Robert Hart's. Durch eine Ausdehnung dieser Controle auf das Likinwesen des ganzen Reiches würden nicht nur die Ein nahmen der Regierung bedeutend vermehrt, sondern auch alle die Hindernisse aus dem Wege geräumt werden, die jetzt durch die willkürliche und ungleichmäßige Jnland-Besteuerung von hin- und hertransportirten Maaren den Handel beeinträchtigen. Damit würde ein langgehegter Wunsch der fremden Kaufmannschaft erfüllt werden. Als weitere Objecte, die sich für Unterstellung unter fremde Controle eignen, sind die unter rein chinesischer Verwaltung stehenden Dschunken - Zölle und die Salz monopol-Administration zu nennen. Dabei darf jedoch nicht außer Augen gelassen werden, daß eine derartige tief einschneidende Aenderung eine lange Zeit erheischen und auf große Schwierig keiten stoßen würde, da die Mandarinen, denen damit eine reich lich fließende Quelle unerlaubten Gewinns verstopfte, erbitterten Widerstand leisten würden. Deutsches Reich. * Leipzig, 3. October. An die sächsischen Conser- vativen glaubt die „Leipz. Ztg." am Schluffe einer Besprechung der in Preußen durch die „Canalaffäre" hervorgerufenen Wirren die folgende Mahnung und Warnung rickten zu müssen: „Eine andere Folge der leidigen Cavalasfäre und ihrer Begleiterscheinungen bekommen wir vielleicht in Sachsen zu fühlen. Dank den Fehlern der Liberalen in den 70er Jahren und ihrer klugen Ausnutzung durch d ' konservativen in den 80er Jahren hatte sich das gebildete Bürgerthum unserer Städte und Jndustriebezirke mehr und mehr konservativen An schauungen zugewendet. Die jetzigen Vorgänge in Preußen können leicht die Reflexwirkung haben, daß sich das nunmehr ändert. Bei den preußischen Conservativen im Reichstag hat es immer hohe Achtung und Bewunderung erregt, daß es möglich war, in einem so ausgesprochen industriellen Lande, wie Sachsen, das man scherz, weise so oft eine weitläufig gebaute Stadt genannt hat, eine confer» vative Partei von solchem Einfluß und in dieser numerischen Stärke zu gründen. Ueber das Geheimniß dieses Räthsels haben die Herren des Ostens aber wohl niemals ernstlich nachgedacht. Es besteht darin, daß Landwirthschaft und Industrie, die beiden großen Erwerbsstände des Landes, es bisher immer noch verstanden haben, einen Pflock zurückzustecken, wenn ihre Einzel» interessen mit denen der Gesammtheit collidirten. Jc dem Grade, in dem diese löbliche Gepflogenheit unter dem Eindruck: der jetzigen Jnteressenkämpse in Preußen schwindet, kann Icicli auch der Einfluß der conservativen Gesammtvartei in Lochien eine Einbuße erleiden, oder mindestens die Gefahr einer sk>cessio in parces, einer Spaltung in ländliche und städtische Eon» fervative heranrückcn. Wir wollen Las Gespenst nicht an die Wand malen, sondern nur dazu beitragen, daß diese Gefahr recht zeitig erwogen werde." Die sächsischen Nationalliberalen haben jedenfalls der Versuchung widerstanden, die Fehler der preußischen Conservativen zu Ungnnsten der sächsischen Conservativen durch Schulung des Mißtrauens der Industriellen anS- zubeuten. Es ist also ihre Schuld nicht, wenn die sächsischen Industriellen von dem agrarischen Flügel der Conservativen, dem die Mahnung der „Leipz. Ztg." in erster Linie gilt, abrücken und Anschluß da suchen, wo man ihre Interessen zu würdigen versteht, ohne die agrarischen zu mißachten. L2 Berlin, 3. October. Der „Fall Kirschner" wird zur Zeit wieder lebhaft besprochen. Es liegt dazu ein doppelter Anlaß vor. Zunächst bespricht man, und auch die „Kreuzztg." stimmt mit ein, baß, wenn die Bestätigung oder Nicktbestätigung nicht binnen kurzer Zeit erfolgt, die preu ßische Landeshauptstadt in der nächsten LandlagSsession, w e während der abzelaufenen, im Herrenhause unvertreten sein wird. ES ist zwar nicht nolbwendig, daß diese Vertretung nur durch den Oberbürgermeister geschieht, die städtischen Körperschaften können auch ein anderes Mitglied des Magistrats für daö Herrenbaus präsentiren. Aber die Ent sendung des obersten städtischen Beamten ist doch sachgemäß und bildet weitaus die Regel. Ueberdies ist Berlin noch gar nicht aufgefordert worden, mit einer Präsentation Vorzuges en. Die Stadt ist also nach dem Gesetze zur Zeit nicht in der Lage, der Krone irgend eine Persönlichkeit zu benennen. Einen weiteren Anlaß zur Erörterung der Bestätigungsangelegcuheit bildet der vom Magistrat und den Stadtverordneten einstimmig gefaßte Beschluß, dem Bürgermeister Kirschner für die ihm durch die Nichtbesetzung der Stelle des Oberbürgermeisters erwachsene amtliche Mehrbelastung durch die Summ: von 12 000 jährlich zu entschädigen. Damit sind die Bezüge des Herrn Kirschner tbatsächlich die eines Obcrbüraerlnei'tciS; da er auch die Functionen eines solchen in aller Vollständig keit ausübt, kann man mit vielem guten Willen die Frage der Bestätigung schließlich als eine Titelsrage ansehcn. Dio Gleich stellung mit einem Oberbürgermeister in den Bezügen ist freilich noch nicht gesichert. Der Oberpräsidcnt der Provinz Branden burg — soeben ist bekanntlich Herr von Bethmauu- Hollweg als solcher ernannt worden — kann die Aus führung deS Beschlusses inhibiren. Tbut er es, so werden Magistrat und Stadtverordnete nochmals mit der Angelegen- FeieiHetsn. Der Vater der Wasserheilmethode. Zum 100. Geburtstage von Vincenz Prießnitz, 4. Oktober 1899. Von Or. nwck. Heinrich Waldmann. Nachdruck verboten. Wunderbar und gewaltig sind die Wandlungen, die die medi- cinische Wissenschaft im Laufe des zur Neig« gehenden Jahr hunderts durchgemacht hat. Während man in früheren Zeiten dem eigentlichen Wesen der Krankheit, die man als etwas für sich Bestehendes, Fremdes im Organismus ansah, rathlos gegen über stand und bei der Behandlung aus Medikamente und Heil methoden angewiesen war, die erfahrungsgemäß die Leidens symptome besserten, geht man heut zu Tage nicht mehr den Symptomen, sondern den Leiden selbst zu Leibe. Es ist unserer Zeit gelungen, Len geheimnißvollen Schleier zu lüsten, die tiefsten Tiefen in der Zusammensetzung des Körpers zu erforschen, zu er kennen, daß jede Krankheit nur in einer Veränderung der Lebens bedingungen gesunder Gebilde in ihren normalen Functionen be deutet. So wird die modernste Wissenschaft in gewissem Sinne zur Naturheilmethode, denn auch ihr Endziel ist nur ein Wieder herstellen der natürlichen Lebenübedingungen, der normalen Functionen. Ist das Endziel das Gleiche, so ist der Weg, der zum Ziel« führen soll, verschieden genug. Aber während die Verfechter der natürlichen Heilmethoden, unter denen die „Wasserdoctoren* stets die bedeutsamste Rolle spielten, sich strikt ablehnend gegen die Errungenschaften moderner Wissenschaft verhalten, haben sich die Aerzte Vieles aus dem Erfahrungsschätze der anderen Partei zu Nutze gemacht und verwerthet, nur daß sie die Wirkung der Mittel auf andere Ursachen zurückführen. Die Humoralpathologie, die Lehre von den verdorbenen Säften, die wegen des populären Schlagwortes noch immer tief in fast allen Schichten der Bevölkerung wurzelt, ist für die Aerzte «in längst überwundener, tausendfach widerlegter Standpunkt. Aber gar manche Mittel, die die Verfechter der „Bösensäftetheorie" zur Verbesserung der Säfte angewendet haben, sind bereitwilligst als werthvoll« Bereicherung und Ergänzung anderer Heilmethoden übernommen worden. Man erklärt die Wirkung kalten Wassers auf den Organismus physiologisch ander- als früher, aber man leugnet die Wirkung nicht und nützt sie aus. Und wenn ein Mittel zum eisernen Bestände in dem Arsenal ärztlicher Waffen gehört, so ist es der „Prießnitz'schr Umschlag" und manche andere Wasser- cur. die Vincenz Prießnitz, der Bauer auS Freiwaldau, am An fänge dieses Jahrhundert- zu Ruhm und Ansehen gebracht hat. Vincenz Prießnitz, dessen hundertster Geburtstag am 4. Ok tober dieses Jahres wiederkehrt, ist keineswegs der Erfinder oder Entdecker der Kaltwassercur. Wir können die planmäßige An- Wendung kalten Wasser- zu Heilzwecken bis in di« ältesten Zeiten zurückverfolgen. Wir sehen sie an der Wende des 16. und 17. Jahrhunderts von Alpienus neu empfohlen, wir hören, daß Wright 1777 auf der Seefahrt ein typhöses Leiden durch kalte Einwickelungen heilte, wir vernehmen von den erfolgreichen Wassercuren von James Currie, dessen Schriften 1801 in's Deutsche übersetzt wurden und vieles Aufsehen erregten; und wir wissen, daß etwa gleichzeitig mit Prießnitz Doctor Oertel in Ansbach «in fanatischer Verfechter der Kaltwassercur war. Aber Prießnitz hat durch die suggestive Macht seiner Persönlichkeit, durch den sieghaften Glauben an sich selbst und seine Cur und durch ein« Reihe anderer günstiger Umstände einen Zulauf gehabt und seine Heilmethode populär gemacht wie kein Anderer. Auch darf man nicht vergessen, daß er — im Gegensatz zu Pfarrer Kneipp — seine Cur und die zahllosen Variationen seiner Be handlungsart ohne jede Kenntniß anderer Forschungen und Ver suche auf diesem Gebiete völlig aus sich selbst heraus erfand, und daß gerade der Reichthum seiner Behandlungsmethoden und die dadurch möglich werdende Jndividualisirung der Behandlung, sowie der wahrhaft staunenswerthe thatsächliche Erfolg seiner Euren ihm «in Uebergewicht über gleichstehende Zeitgenossen und Nachfolger verleiht; «in so starkes Uebergewicht, daß wir unwill kürlich stets in Prießnitz den Vater der Wasserheilmethode er blicken. Der Lebensgang von Vincenz Fran- Prießnitz ist einfach genug. Er wurde als sechstes Kind eines Freiwaldauer Acker bürgers geboren, der eine jener kleinen Wirthschaften besaß, die sich in der Thalschlucht am Gräfenberg« befanden. Da sein ältester Bruder frühzeitig starb, ein zweiter sich dem Priester stande weihte, so hatte Vincenz früh in der Wirthschaft selbst thätig zu sein; er wurde regelmäßiger und energischer zum Weiden der Kühe als zum Schulbesuch angehalten. So war seine wissenschaftliche und Schulbildung nur recht gering, und wenn er auch nicht, wie Widersacher ihm aufgebracht haben sollen, ein halber Analphabet war, so hatte er doch noch in späteren Jahren zu schriftlichen Ergüssen und Arbeiten wenig Neigung, und überließ sie meist seiner Frau oder seinem Secretär. Um so freier und offener wurde sein Blick für die taufend Wunder der Natur; er war ein Heller, klarblickender Knabe, ein scharfer Beobachter. Die Beobachtung, daß verletzte Thiere sich mühsam zum Wasser schleppten, um in dem frischen Naß die brennende Wunde zu kühlen, die Beobachtung, daß die Wunden wirklich bei dieser einfachsten aller Behandlungen heilten, legte ihm den Gedanken nah«, durch Bespülen mit kaltem Wasser oder durch Auflegen kalter Umschläge Verletzungen bei Thieren und auch bald bei Menschen zu heilen. Die vielfach verbreitete Ver sion, daß er seine Behandlungsart auf Wunsch de- Vaters einem Hausirer, der zugleich an Thieren allerhand Wundercuren vor nahm, ablauschte, dürfte in'- Bereich der Fabel gehören. Prießnitz wandte als junger Bursche bereits ein paar Jahre lang sein Mittel bei Thieren und Menschen, im eigenen Hause und bei Nachbarn bei äußeren Verletzungen an. Erst ein schwerer Unfall, der ihn selbst betraf, brachte ihn auf die Idee, auch bei inneren Leiden da- kalte Wasser als Heilmittel anzuwenden. Er wurde nämlich im Frühjahr 1816 von einem schwer beladenen Wagen überfahren. Die Verletzungen, namentlich die eingedrückte Brust, waren so schwer, daß der Arzt das Schlimmste, den Tod oder ewiges Siechthum, befürchtete; die verordneten Mittel fruchteten nichts. Da nahm Prießnitz sich selbst in die Cur. Er nahm ein großes Linnen, tauchte es in Wasser, wand es gut aus und umgürte« sich damit; ein trockenes größeres Tuch band er darüber. Bald merkte er sichtliche Besserung, aber er fuhr doch ein ganzes Jahr mit dieser Behandlung fort, ehe er sich für völlig genesen erklärt«. Trotzdem sind — wie nach der interessanten Prießnitz-Biographie von Philo vom Walde dte Section ergab — die schweren Verletzungen jenes Unfalls an dem verhältniß- mäßig frühen Tode Prießnitzens schuld gewesen. Schnell verbreitete sich der Ruf seiner Euren; oft ließen ihn Kranke nach fernen Ortschaften rufen, noch öfter aber suchten ihn Patenten, die anderwärts keiUe Heilung fanden, auf. Er be handelte zuerst, ja noch lange Jahre hindurch, alle Patienten un entgeltlich. Bei Vielen, die längeren Aufenthaltes bedurften, über nahm er sogar die Beköstigung; als Aequivalent ließ er sich dann wohl von den Patienten in seiner Ackerwirthschaft helfen. Denn der ständige Genuß frischer Luft gehörte ebenso zu seiner Cur wie die naturgemäße Diät, und die eigentlichen Heilmittel, dir Anwendung deS kalten Wassers äußerlich und innerlich. Auch am Bau des neuen steinernen Wohnhauses betheiligten sich manche Kranke thätig. Daß die immer größer werdenden Erfolge von Prießnitz den Neid der Berufsärzte erregten, ist nur selbstverständlich. Sie konnten seine positiven Erfolge nicht leugnen und ärgerten sich über die Heilungen um so mehr, als sie in dem ärztlichen Amateur stets nur den ungebildeten Bauern sahen. Doch ein mal brachten sie es durch eine Denuncicrtion soweit, daß er wegen Curpfuscherei zu vier Tagen Arrest, verschärft mit Fasten, ver- urtheilt wurde. In der Berufungsinstanz wurde dar Urtheil aufgehoben. ES war auch schwer, ihn zu verurtheilen, da er als Mittel nur Wasser gab und die Euren umsonst ausführte. Erst 1831 erhielt er die Genehmigung zur Errichtung einer Badeanstalt, die natürlich ihrem Wesen nach ein« Curanstalt war. 1834 errichtete er «inen Neubau auf dem Gräfenberg, und wieder einige Jahre später wurde das groß«, jetzt noch be stehende Curhaus errichtet. Die Zahl der Curgäst«, unter denen sich stets Personen vom höchsten Range befanden, stieg von 60 in Jahre 1830 auf 400 im Jahre 1836. 1837 waren bereit über 500 anwesend. Wie billig Prießnitz seine Gäste verpflegte, mag eine Tabelle von 1836 beweisen. Zimmer 2 Gulden, Früh stück und Abendbrot» zusammen 50 Pfennige, Mittagessen 70 Pfennige. Und dabei gesteht sogar einer seiner größten Gegner zu: „Die Tische biegen sich unter der Wucht von Speisen*. Den Höhepunct seines Ruhmes und seiner Praxis, der es auch sehr zu statten kam, daß er 1833 nach Trienne zu einer Consultation bei der Kaiserin Mutter berufen wurde, bildete wohl dar Jahr 1839, in dem er bei 1700 Patienten an meist freiwilligen Hono raren 120 000 Gulden einnahm. So scheint eS bei seiner be- scheidenen Lebensweise und absoluten Bedürfnißlosigkeit wohl möglich, daß dieser einfach« Bauernsohn, „der Schwammel- doctor", wie ihn seine Gegner verspotteten, bei seinem Tode ein Vermögen von drei Millionen Gulden hinterließ. Sein Privatleben war da« denkbar glücklichste. JmJahr« 1828 führte er ein« Schulzentochter — als Honorar für eine glänzende Cur an der Mutter! — als Gattin heim. Doctor Coloniu:- schreibt in einer Schrift über Prießnitz und Gräfenberg: „Frau Prießnitz hängt mit einer wahren Schwärmerei an ihrem Gatten. Bereits achtzehn Jahre vcrheirathet, kann man am Morgen nach der Hochzeit nicht verliebter sein." Am 28. November 1851 erlag Prießnitz einem hartnäckigen Lungenkatarrh, dessen Heilung die schweren Verletzungen ves Brusitorbes und der Lunge vom Jahre 1816 unmöglich machten. Sein Tod rief bei seinen Freunden tiefste Trauer hervor, seine Feinde aber frohlockten, daß „der große Charlatan" gestorben. Jetzt, wo fast ein halbes Jahrhundert verstrichen, können wir sein Wirken und sein Leben ohne Haß und Eifer und auch ohne Uebcr- schätzung würdigen. Wir können ihm das Verdienst nicht ab sprechen, daß er trotz der mangelnden wissenschaftlichen Basis ein vollkommenes, logisches und zweckmäßiges System der Wasser behandlung construirt und in diesem System auch der ärztlichen Wissenschaft manche Anregung gegeben hat, in anderen Fällen durch reiches Erproben bereits anderweitig versuchter Methoden Manches erst allgemeiner bekannt und beliebt gemacht hat. Es wäre auch undankbar, wollte man vergessen, daß fast alle die Methoden, die spätere Wasserheilärzte anwandten, besonders au. > die des Pfarrers Kneipp, sich bei ihm schon in den Anfängen oder ganz ausgebildet vorfinden. Wenn wir Gräfenberger Bild:.- ar den dreißiger und vierziger Jahren dieses Jahrhunderts nnd-. und darauf die elegantesten Herren und Damen barfuß ü Wiesen stoliziren sehen, so glauben wir wirklich uns nach Wö:._- hvfen versetzt. Wenn wir seine Heilerfolge einer Kritik unterziehen, so werden wir finden, daß er sicherlich nicht den kleinsten Theil der überzeugenden Macht seiner Persönlichkeit verdankte, die Patienten oft Monate, ja manchmal ein Jahr lang an Gräfen- berg fesselte, bis bei rationeller Lebensweise und seiner Cur die Heilung erfolgte. Wenn er auch aussichtslose Patienten nicht aufnahm, so ist es immerhin ein erstaunliches Resultat, daß er bei 40 000 Patienten nur 45 Todesfälle zu verzeichnen hatte. Er war ehrlich von seiner Kunst überzeugt, von ernstem und doch liebenswürdigem Wesen und von echter Bescheidenheit. Die abso lute Lauterkeit des Charakter- haben ihm selbst seine Gegner — und er hatte viele — nicht abzusprechen gewagt. Doch auf jeden Gegner kommen hundert Freunde und unter ihnen ganz fanatische Schwärmer für ihn und seine Lehre. Wenn auch viel leicht manches Wort übertrieben ist, so möge doch hier zum Schlüsse noch Einiges auS der Schilderung Platz finden, die Hieronymus Torne (1848) in seinen Gräfenberger Aquarellen von ihm entwirft: „Ein Christus der Materie, ein Erlöser von den Uebeln de- Leibes, braucht er nicht zum Märtyrer zu werden an seiner Sendung; denn seine Lehren find von zu greifbaren, sinnlichen Erfolgen begleitet, um mißverstanden werden zu können. In der Kulturgeschichte ist ihm ein wichtiger Raum aufbehalten, und er wird den größten für die Menschheit wirken den Geistern nur insofern untergeordnet sein, als die Materie dem Geist untergeordnet ist, ohne fi« deshalb für weniger wich; q zu halten, da Geist und Materie nicht zu trennen find und erst in ihrem Zusammenhänge die Welt bilden."
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