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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 07.10.1899
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1899-10-07
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18991007014
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1899100701
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1899100701
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1899
- Monat1899-10
- Tag1899-10-07
- Monat1899-10
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Extra-Beilage« (gefalzt), nur mit de» Morgen-Ausgabe, ohne Postbesörderrmg SV.—, mit Postbeförderung ^l 70.—. Anzeiger. Amtsblatt des Königlichen Land- und Ämtsgerichles Leipzig, -es Aathes und Volizei-Ämtes der Ltadt Leipzig. Sonnabend den 7. October 1899. Annahmeschlnß sir Anzeige»: Ab eud-Ausgabe: Vormittag- 10 Uhr. Morgen»AuSgab«: Nachmittags SUHL Lei den Filialen und Annahmestelle« je eia« halbe Stund« früher Anzeige« sind stets a» die Srpeditia« zu richte». Druck und Verlag von E. Polz ia Lri-jh> 83. Jahrgang. Seutschlaud, England und derZüdaftikastreit. Der Streit zwischen Briten und Boeren versetzt das deutsch« Bolt in eine eigentümliche Lage. Gerechtigkeitssinn und Inter» cstenpolitik scheinen zu einander in Widerspruch zu treten. Die Heißsporne unter den Gcfühlspolitikern wünschen, daß Deutsch land für die Boeren thätig Partei ergreife, während officiöse Preßstimmen verlangen, daß die öffentliche Meinung in Deutsch land aus Jnteresscnpolitik den Boeren Unrecht geben und das Borgehen der Engländer gutheißen solle. Das sind Beides Extreme. Zum Eingreifen würde uns wie das Recht, so die Macht fehlen, und wenn die deutsche Regierung auch nur eine Parteinahme für die Boeren bekundete, so würde ein möglicher weise siegreiches England daraus einen Borwand ableiten, uns in Afrika und Kleinasien den Riegel vorzuschieben, anstatt mit uns zu theilen, wie es letzteres wahrscheinlich nach dem vielgenannten Abkommen thun wird. Andererseits aber, den Engländern recht zu geben und ihre Gewaltspolitik gutzuheißen, daran verhindert unS das Gewissen. Von den Boeren gewiße Reformen zu ver langen, war nicht unbillig und ließ sich gutheißen. Aber daL Resormvcrlangen war für Chamberlain nur die Brücke zu rück sichtsloser Unabhängigteitsberaubung. Und das verdient die ent schiedenste Verurtheilung. Wir sind durchaus der Ansicht, daß Deutschland nicht Ge fühls-, sondern Jnteressenpolitik treiben muß, und vertreten ferner auch den Gesichtspunkt, daß es für Deutschland keineswegs wünschcnswerth ist, sich gänzlich von Rußland ab hängig zu machen, und daß die Politik der freien Hand, die ge legentlich auch ein Zusammengehen mit England ermöglicht, zur Förderung der deutschen Machtentwickelung im Hinblick auf die gegenwärtige Weltlage das Richtigste ist. Aber damit, daß die deutsche Regierung von der britischen das Versprechen gewißer colonialer Vortheile entgegennahm, hat, wie der „Schwäbisch« Mercur", dem wir folgen, treffend ausführt, nicht das deutsche Volk auch sein Gewissen verkauft. Kein Volk darf sich das Recht nehmen laßen, das, was nach seinem Sittlichkeits- und Gerechtigkeitsgefühl eine Gewaltthat ist., rückhaltlos, selbst wenn sie von einer verbündeten Nation begangen würde, als «ine Ge waltthat zu bezeichnen und zu verurtheilen. Und wenn Volk und Preße in Deutschland das unter Beobachtung der Formen inter nationaler Rücksicht thun, so kann dadurch keine Gefährdung der von der Regierung eingeschlagenen Jnteressenpolitik verursacht werden. Der Himmel bewahre uns davor, daß die öffentliche Meinung Deutschlands um den Preis eines Judasschillings er kauft werden könnte. Eine solche Charakterlosigkeit würde der Anfang vom Ende unserer nationalen Größe sein. Jnteeepenpolitik wollen heutzutage unzweifelhaft die meisten Deutschen von ihrer Regierung betrieben wißen, aber sie haben aus der Geschichte der Vergangenheit nur Mißtrauen gegenEngland geschöpft und haben daher auch wenig Ver trauen, daß die Engländer das, was sie in dem vielgerühmten geheimen Abkommen versprochen haben, auch halten werden. Man kann sich des Argwohns nicht erwehren, daß England, wenn es durch eine siegreiche Unterwerfung der Boeren seine Macht in Afrika und sein Ansehen in der Welt ungeheuer gestärkt hätte, eine ganz andere, und zwar eine gebieterische Sprache führen würde, als es bis jetzt zu thun wagt. Das Ministerium Lord Salisbury's erweist augenblicklich der deutschen Regierung ein außerordentliches Entgegenkommen. Aber würde das so bleiben? Würde das siegreiche England nicht die alte Anmaßung gegen uns hervorkehren? Die deutsche Regierung scheint Grund zu der Annahme zu haben, daß sie ein solches Be denken nicht zu hegen brauche. Aber das deutsche Voll hat es zu einer so optimistischen Auffassung noch nicht gebracht und der genannte Argwohn wird in ihm auch nicht vermindert werden, so lange die Regierung es über den In halt, die Form und den Werth des mit England getroffenen Ab kommens im Dunkel läßt, bezw. vielleicht lassen muß. So lang: die deutsche Regierung nicht in der Lage ist, das Volk zu ver gewissern, daß ihre „Jnteressenpolitik" unzweifelhaft «ine Förde rung der deutschen Interessen bedeutet, wird sie auch Schwierig keiten haben, die Oeffentlichleit mit der Schwenkung auszu söhnen, die sie in ihrer Haltung gegenüber England und der Transvaalrepublik vollzogen hat. Inzwischen aber legt man sich in Anbetracht der in officiösen Preßorganen entfalteten Befürwortung der englischen Südafrika politik sehr naturgemäß die Grundfrage vor, ob denn das weitere Aufsteigen Englands unseren eigenen Bestrebungen dienlich sein kann, ob nicht vielmehr die Erschütterung der britischen Macht in unserem Interesse läge und ob nicht dir Vernich tung der britischen Macht am Cap und die Errich tung der „Vereinigten Staaten von Südafrika" uns viel größere Vortheile bringen könnte, als das die aus schließliche Seeherrschaft und womöglich die Weltherrschaft be anspruchende, anmaßende Großbritannien uns bieten wllrd«. Die deutsche Regierung mag an strenger Neutralität festhalten — das ist „correct". Aber das deutsche Volk kann und wird es sich nicht nehmen lassen, im innersten Herzen mit dem Boeren- volk in Südafrika zu sympathisiren und ihm sogar zu wünschen, daß ihm eine gegen die Engländer gerichtete Diversion der Russen in Asien in ihrem Kampfe zum Siege verhelfen möchte. Und das sagen wir ganz offen: das bramarbasirende Angel- scchsenthum» das in allen Welttheilen gegen das Boerenthum wirbt und wüthet, und ein klein«» um seine Unabhängigkeit kämpfendes Völkchen mit seinem von allen Enden des britischen Reiches zusammengelesenen Söldnerthum zu vernichten droht, scheint uns eine recht verächtliche Rolle zu spielen. Die herrschen den Engländer, di« ihre Haut nicht selbst zu Markte tragen, suchen mit Miethlingen, mit den Soldaten eines Volkes ein anderes Volk zu unterwerfen. Das war Roms Maxime, — und es war Roms Untergang. Der Kern Englands ist nicht mehr, was er früher war. Sein alter Adel ist durch einen neuen erseht worden, der im Mammon fußt. Geldbrsitz ist der herrschende Factor in Englands socialem und politischem Leben, und habgieriger Handels- und Erwerbsgeist bildet die Triebkraft des rücksichts losen und jedes Recht in den Staub tretenden Imperialismus, dessen Vorkämpfer der Colonialminister, Herr Josef Chamber lain, ist. Vom La Plata. Nachdruck auch mit Ouellcnanqabe verboten. Vl. X. BuenosAires,I2. September. Am 1. October werden Abgeordnete der in den drei La Plata- Staaten — Argentinien, Uruguay und Paraguay — bestehenden deutsch-evang epischen Kirch«ngem«inden sich in der Stadt Buenos Aires zu einer Vorsynode vereinigen, deren Zweck es ist, alle diese Gemeinden in enge Verbindung mit- und untereinander zu bringen. An den Beralhungen dieser Vor synode werden der Gesandte, Herr von Treslow, und der General konsul, Herr Steifansand, iheilnehmen. Die bestehenden 14 Ge meinden hatten bisher kaum einen weiteren Zusammenhang, als daß einige von ihnen schon seit vielen Jahren in dem preußischen Oberkirchenrathe ihre vorgesetzte geistliche Behöroe erblickten. Wie es nicht anders sein konnte, erkannte man zwar allseitig der Buenos Aires-Gemeinde die größte Bedeutung zu; da aber diese nicht immer in der Lage war, den an sie von kleineren Gemeinden gestellten Anforderungen zu entsprechen, so machte sich von Zeit zu Zeit eine gewisse Verstimmung geltend, deren jetzt erzielte Be seitigung groß« und hingebende Ausdauer seitens des ersten Geistlichen der Buenos-Aries-Gemeinde, Herrn Pastor E. W. Buhmann, erforderte. Der Geldpunct spielte auch hierbei sein« selten erfreuliche Rolle, denn es erheischt ja die Bildung und der Bestan!) einer Gemeind« recht beträchtliche Opfer, di« um so schwerer ins Gewicht fallen, als sie ausschließlich durch frei willige Besteuerung aufzubringen sind, zugleich aber von der in allen Fällen beschränkten Zahl der Gemeindemitglieder eine Menge anderer, gleichfalls freiwillig übernommener Lasten zu tragen ist. So unterhalten Vie hiesigen Deutschen außer der Kirche, an welcher zwei Pfarrer wirken, vier mit der Kirchen gemeinde verbundene Schulen, ein als ganz vorzüglich an erkanntes Spital, zwei Krankenoereine, einen Hilfsverein, Frauenverein, Einwanderer verein, eine beträchtliche Anzahl geselliger Vereine, auch einige nicht mit der Kirchengemeinde in Verbindung stehende Schulen. Das ließe auf eine starke deutsche Bevölkerung hier schließen, die letzt« Volkszählung (1896) wies jedoch nur 5297 deutsche Bewohner der Stadt auf, von welchen 2911 männlichen Geschlechts und über 14 Jahre alt waren. Wenn nun auch in den Beitragslisten für die Kirchengemeinde die Namen so ziemlich aller Bemittelten, dir der alten Heimath Liede und Anhänglichkeit bewahren — ohne U n ter schied der Religion — zu finden sind, so stellt sich doch das Verhältniß zwischen der Zahl der Beisteuernden und der Höhe der Leistungen al» geradezu Staunen err«g«nd dar. Im Gegensätze zu England, das alle gemeinnützigen «nglischen Anstalten im Auslande, Kirchen, Schulen, Spitäler u. s. w., auf Grund «ines Parlamentsbeschlusses ausgiebig unterstützt und daraus mannigfache Vortheile zieht, g«wäbrt das deutsche Reich wohl den Schulen, nicht aber den deutschen Kirchengemeinden im Auslande seine Unterstützung. Nur der preußische Staat läßt einigen nicht genügend kräftigen Gemeinden seine Hilfe zu Theil werden. Di« Gemeinden am La Plata aber sind nicht preußisch, sondern deutsch, nur deutsch, und sie bilden hier, wie überall, die stärkste Stütze d«r nationalen Gesinnung, noch mehr als selbst die Schulen, weil die Abkömmlinge deutscher Ein wanderer mit den Kirchengemeinden noch verbunden bleiben, wenn sie der deutschen Schule bereits entfremdet sind. — Neben der Währungsfrage steht zur Zeit die für Deutsch land in mehrfacher Beziehung wichtig« Frage des Zoll tarifs im Vordergrund« des Interesses. Das hiesige Zoll system kann ja leider nicht als Muster aufgestellt werden, daS hat man endlich auch an leitender Stelle erkannt und insbesondere eingesehen, daß der Zollwerthtarif, dem die zur Einfuhr gelangen den Maaren unt«rworfen sind, eine gründliche Sichtung erheische. Ueber diesen Punct werden jetzt eingehende Erhebungen angestellt; die Behörde hat sich dazu verstehen müssen, Vertret«! der Im porteure zu Rath« zu ziehen, und es darf mit ziemlicher Sicherheit die Ausmerzung mancher gar zu haarsträubender Bestimmung erivartet werden. Von den in Aussicht stehenden Verbesserungen wird auch die deutsche Ausfuhr Vortheile ziehen, obwohl der hiesige deutsche Hanoelsstand bei den betreffenden Besprechungen nich: so gut vertreten ist, als der französische, der italienische und der spanische, von welchen «in jeder mit fortdauernder Unter stützung der heimathlichen Regierung eine nationale Handels kammer nicht nur an diesem Hauptplatz, sondern auch an mehreren Nebenplätzen errichtet hat, deren Vertreter immer zu solchen Be- rathungen zugezogen werden. Derartige deutsche Handels kammern aber fehlen vollständig. Noch sind die Besprechungen nicht zum Abschluß gelangt; immerhin kann heute schon gesagt werden, daß in der Textil-, der Strumpf- und der Klein-Eisrn- waaren-Vranche die weitgehendsten — d. h. verhältnißmäßig weitgehendsten Verbesserungen zur Annahme gelangen dürften. Der neue südamerikanische Staat, die Republik Acre, von deren Begründung man in Europa bereits unterrichtet ist, könnte von eiirareifender Rückwirkung auf einen blühenden Zweig der Groß-Industrie sich erweisen. Diese Republik umfaßt nämlich die reichsten an dem Fluß gleichen Namens gelegenen Gummi- Bezirke, deren Ausbeute auf dem mächtigen Amazonen-Strom, der die periodisch sehr großen Wassermassen des Acre dem Atlan tischen Ocean zugeführt, nach den Weltmärkten verschifft Wird. Der brasilianische Staat Amazonas hat aus dem bisher von ihm erhobenen Zoll auf den Gummi von Acre eine Einnahme von jährlich etwa 5 Millionen Mark erzielt, die er nicht missen wollte, und da er als Theil des brasilianischen Staatenbundes nicht direcr mit Bolivien, das einen Theil des Acre-Gebietes formell in Be sitz genommen und daselbst eine Zollstätte errichtet hatte, an binden resp. die lästige Zollstätte aufheben durfte, so machte er sich den Umstand zu Nutzen, daß die Arbeiter in jenen Gummi- Wäldern ausschließlich brasilianischer Nationalität, während die Unternehmer unbedingt auf Brasilien und speciell auf Amazonas angewiesen sind- In Acre wird nichls Anderes -l- Gummi pro- ducirt, alle Lebensbedürfnisse, uiier welcben Schnaps mit die be deutendste Rolle spielt, werden auf dem Amazonas jenem Gebiete zugeführt, andererseits ist der Noh-Gummi für Aufbereitung und Verschiffung auf di« brasilianischen Hafenstädte ManaoS und Para angewiesen. So konnte es nicht schwer fallen, Bolivien matt zu setzen durch eine in Scene gesetzte Proclamirung der Un abhängigkeit des Gebiete?. Zwei Fremde, Uthof (Deutscher?) und -Golvez Nodriquez, Spanier, beide Gummi-Unternehmer, stellten sich an die Spitze der „Volksbewegung", wie man in Süd amerika solche Possen benennt, und zum Präsidenten der neuen Republik wurde der erwähnte Luis Golvez erwählt Deutsches Reich. * Leipzig, 6. Oktober. Der Ortsgruppe Leipzig de- Alldeutschen Verbände- ist auf ihr an die Königin Wilbclmina von Holland als „buchste Vertreterin de- so schwer bedrohten Brukcrstammes" gerichtetes und gestern mitgetbeilteS Telegramm die folgende Antwort zugegangen: „Ihre Majestät die Königin haben Ihr Telegramm empfange» und beauftragen mich, allerhöchsten Dank oasür aii-zufprecheu. Privotiekretär Vanderstaal." Berlin, 6. October. (Schwurgerichte und S o c i a l d e m o k r a t i e.) An die Angriffe der socialistischrn Presse auf die „ C l a s s e n j ust iz " ist man ja nachgerade ge wöhnt, jetzt unterliegen aber nicht nur die Berufsrichter, sondern auch die aus Laien bestehenden Schwurgerichte dem socia- listischen Anathema. So hält sich die „Sächs. Arbeiterztg." Aus der Welt der Spieler. Eine Skizze von E r i ch R a v i tz k y. Nachdruck vrrl'otm. Am 2. October begann in Berlin ein Spielerproceß, der schon durch seine Vorgeschichte des allgemeinen Interesses sicher ist. Es ist üer Proceß gegen die Mitgliever jener Gesellschaft, die unter vem sanften Namen des „Clubs der Harmlosen" dem Spielteufel einen Tempel errichtete. Es konnte diese Angelegen- heit im Vereine mit den großen Spieler-Affären vom Jahre 1885 und ven Thaten und Erlebnissen des „ollen ehrlichen See mann" wohl auch dem Gutgläubigsten die Aug«n darüber öffnen, daß auch in unserem lieben Vaterlande die Spielwuth schlimmer grassirt, als der brave deutsche Pfahlbürger sich das auch nur entfernt ahnen läßt. Dennoch bleibt das klassische Land des Spieles nach wie vor — Frankreich. In Paris entstand da erste öffentliche Spielhaus der neueren Zeit, und zwar war es keine Geringere, als Olympia Mancini, die Nichte des all mächtigen Cardinals Mazarin, von der diese ingeniös« Idee wahrscheinlich herrührt. Der Spielsinn lag bei ihr in der Familie; ihr würdiger Oheim selbst war nicht allein «in leiden schaftlicher Spieler, sondern zugleich auch — «in sehr gewandter Falschspieler, ein Vorfahr d«s Lessing'schen Niccaut de la Marlinwre, sür dessen „oorri^vr la kortune" er „prenärs 803 avantasros" zu sagen pflegte. Seit damals hat la bslls b'rancs die Ehre, die Hochschule des Falschspieles und der Falsch spieler zu sein. Frankreich gab der edlen Zunft ihren Namen und hieß sie Trecs (Griechen) nach dem dreisten Griechen ApouloS, der am Hofe Ludwig's XIV. in hohem Ansehen und reicher Gunst lebte, ebenso eifrig als kühn jeute und mit unnachahm licher Dreistigkeit und Geschicklichkeit betrog, wobei er selbst Seine allerchristlichste Majestät nicht verschonte, — und das brach ihm schließlich doch das Genick! Aber vornehmer« „Grecs", wie die Prinzessin d'Harcourt und den Ritter von Langte, ließ man laufen, obwohl Jedermann ihr« „Praktiken und bösen Kniffe" kannte. Es kam so weit, daß ein Herr de Grammont in dieser Epoche das Recht, beim Spiele (entschuldigen Sie da- harte Wort!) zu mogeln, in seinen Memoiren ganz kecklich verthridigte und den Betrug — Notabene den geschickten Betrug! — al- da» Vorrecht der Geschickten vor dem Ungeschickten in Anspruch nahm. Als sich bereit- da» Donnerrollen der nahenden Revolution in Frankreich vernehmen ließ, grassirte da- Spiel und mit ihm sein finsterer Schatten, da» fftrschspiel, in Pari» in dem Grade, daß daselbst eine eigen« Zeitung für die Ereignisse und Scandälchen in der Spirlerwelt erschien; sie hieß „Diogenes in Paris" und charakterlsirt« sich so schon durch ihren Titel als ein echtes ,Miechen"-Blatt. Viele Revolutionen sind seitdem über Frank reich hingebraust — das Spiel aber und die Spielsucht sind geblieben. Adolphe Belot schrieb 1885, das Spiel habe noch nie wölder gehaust, es trete nicht mehr als eine Krankheit, sondern als eine Epidemie auf. Fast alle großen Clubs in Paris sind Stätten des Spieles, und wie hier die vornehme Welt, so huldigt leiderauch(was vielgefährlicher ist) der Bürgerstand in zahlreichen, von der Polizei schweigend geduldeten, als Geselligkeitsvereinen maskirten Cercles dem Jeu. In den besseren dieser Cercles wird der abendliche Unternehmergewinn auf 4—5000 Francs geschätzt, was «inem Jahresertrage von eineinhalb bis Mei Millionen gleich kommt! Old England kann sich nicht rühmen, für die Ent wickelung deS Spielwesens «twas Originelles „geleistet", noch auch die Technik des Falschspieles entwickelt zu haben; aber an Spielwuth stehen die wetttoll«n Briten kaum ein«m Volke der Welt nach, nur daß sie ihre Leidenschaft zum großen Theile auf dem Turf befriedigen. Aber auch Spielhäuser gab es schon 1669 zu London in großer Zahl und selbst die Ladies nahmen an dem Modelaster eifrig Theil. Um 1736 gab es Spielhöllen, in die Damen von mäßigem Vermögen durch geschickte Werber, heruntergekommene Gentlemen, gelockt wurden, um dort ihre Glücksumstände leicht und schnell zu verbessern, — sie verloren dort regelmäßig Vermögen und Reputation. Gegen die Mitte unseres Jahrhunderts wimmelte das Londoner Westend förmlich von Spielhöllen; höchst berühmt war vor Allem der 1828 er öffnete Club William Crockford's, vertraulicher Crockey genannt. Dieser Club war mit der höchsten Pracht und Bequemlichkeit aus gestattet, war nur Mitgliedern zugänglich, nahm aber ohne Um stände jeden präsentirbaren Menschen aus und zählte die ganze tlins klevr zu seinen rnernbsrs. u. A. den Herzog von Wellington, die auswärtigen Botschafter, DiSraeli, Bukwer u. s- w. Der brave Crockey hatte einmal „auf einem Sitz" (allerdings einem Sitze von 24 Stunden) von den Lords Thanet und Granville und zwei Anderen das runde Sümmchen von 100000 Pfd-, gleich 2 Millionen Mark, gewonnen, und davon baute dieser Menschen freund seinen Palast, in dem er während der beiden ersten Saisons imm«rhin die schöne Brutto-Einnahme von 300 000 Pfund gleich 6 Millionen Mark, gemacht haben soll. Um nun auf unser liebes Vaterland zu kommen, so hieße es Eulen nach Athen tragen, wollten wir von der Spielwuth der alien Germanen oder von der im Mittelalter sprechen, in dem doch auch schon da- öffentliche Spielhau- zum Geisterstein in Frankfurt a. M- während jeder Messe im 15. Jahrhundert 400 Gvldgülden «intrug. Genug, wir wiederholen: r» wird auch heute in Deutschland ganz ausgiebig gespielt. Die vornehme Welt hat auch bei uns ihre Clubs; man erinnert sich noch der schrecklichen Scandalaffäre des Berliner Union-Clubs, in dem einzelne Personen in ein«r Nacht über 300 000 verloren hatten. Aber so manche anscheinend höchst harmlose Einladung, die ia den Zeitungen erscheint oder mündlich weitergegokxn wird, lädt auch die bürgerlichen Kreise zu einem Jeuchen ein; so war früher in Berlin, wie Signor Domino, der vorzügliche Kenner der Spielerwelt, «rzählt, «in „Erbsenessen" das gewöhnliche Aus hängeschild, hinter dem sich die Spielgesellschaften verbargen. Ein Theil dieser Spielgesellschäften wird von den Spielsüchtigen selbst organisirt und geleitet; in der Mehrzahl aber werden sie von Spielunternehmern ins Leben gerufen und nach einer be stimmten Technik geführt. Zu einem solchen Cercle gehört vor Allem der „Colonel", ein Angestellter, der als der Miether der Wohnung fungirt, übrigens gewöhnlich ein« niedere plebejische Persönlichkeit ist. Dagegen muß die „Madame" oder „Tante" gute Manieren haben, da sie dem Ganzen vorsteht und die Re präsentation ihr obliegt; übrigens ist sie natürlich fast immer eine Dame von mehr oder minder 'leichten Sitten. Endlich wird daS Personal des Cercles gewöhnlich durch einen „Schlepper", und wenn möglich, auch durch ein« „Amazone" ergänzt, worunter man nichts Anderes, als einen ins ewig Weib liche übersetzten Schlepper zu verstehen hat. Diese Amazon« muß natürlich wieder elegant und gewandt sein; auf tadellose Ver gangenheit wird auch in diesem Falle geringerer Werth gelegt. Das ist in der Hauptsache die Organisation des normalen CercleS. Am zahlreichsten dürfte diese Einrichtung jetzt in Berlin vertreten sein, doch bilden ferner Hamburg, Dresdcn, Leipzig, Baden, Wien Hauptcentren der deutschen Spielerwelt. Welche Existenzen finden sich unter diesen Berufsspielern! Männer, die vor der Welt unantastbar als tadellos: „feine" Leute dastehen und deren Leben doch eine einzige, nur durch die Sommerruhe unterbrochene „Campagne" ist.' Agenten, denen irgend eine in fashionablen Kreisen leicht abzusetzende Waare den Vorwand dazu bietet, sich ihre Opfer zu holen. Heruntergekommene Verschwender und — wenn man so will! — „heraufgekommen«" Plebejer. Wirklich ehrenhafte Personen, die indeß dem Spielteufel mit Haut und Haaren verfallen sind. Kurz, «S ist ein wahres Pandämonium, in das man sich hineinverseht sieht, wenn man hinter die Coulissen der Cercles und der Clubs blickt. Und wenn nun das Spiel unter allen Umständen höchst corrumpirend wirkt, so kommt nun noch die furchtbare Ver suchung dazu, „seine Avantagen zu nehmen", — falsch zu spielen. Bi» in welch« Kreise das gemeingefährliche Verbrechen des Falsch spiele- sich erstreckt, davon ließe sich au- der neuesten Zeit so manche» picante Beispiel erzählen; nennen wir hi«r nur den kaiserlich brasilianischen Gesandten am römischen Hofe, der 1885 im Club della Caccia als gemeiner Falschspieler entlarvt wurde. Die Trics der Falschspieler sind wohl durchweg bekannt; und so mag ein naives Gemüth glauben, daß man sich doch in Acht nehmen und vor Betrug beim Spiele sichern könne. Weit ge fehlt! Ein Anderes ist es, die Spieler-Trics zu kennen, ein Anderes, diese meist äußerst fein und schnell ausgeübten Kunst griffe zu erkennen, wenn man selbst vom Rausche des Spieles überwältigt ist. Der richtige Grec ist in seiner Art ein Künstler, der nicht allein die Technik seines edlen Handwerkes vollkommen beherrscht, sondernauchein fein berechnender Psycholog, der seinem Publicum sich trefflich anzupassen, den geeigneten Moment ab zuwarten versteht. Ohne die Beherrschung dieser „Impon derabilien" würde ihm seine Kunst wenig nützen. Nun murmelt der Laie, wenn er von Falschspielern hört, gewöhnlich mit frommem Schauder das Schreckenswort: „Die Volte!" Ach, die gute Volte — sie ist ganz mit Unrecht zu ihrer dämonischen Berühmtheit gelangt. Denn der Tric, bei dem heimlich in zwei Päckchen getheilten Talon die beiden Päckchen miteinander zu vertauschen, läßt sich eigentlich nie so ausführen, daß er nicht bemerkt würde; er muß daher stets irgendwie cachirt werden, und das wäre gerade das rechte Mittel, um Mißtrauen und Verdacht zu erregen. So blind ist selbst der wüthendste Spieler nicht, daß er es nicht bemerkte und sich gefallen ließe, wenn der Talon momentweise mit der Hand verdeckt wird. Nein, die Volte ist ein gutes Taschenspielerstückchen, aber kein Falsch- spieler-Tric. Er hat ganz ander: Kniff:: er macht die „Maquillage", d. h. zeichnet die Karten; er „transportirt" sie, d. h. bringt eine oder mehrere Karten unbemerkt ins Spiel oder entfernt sie daraus; er führt die „Portöe" aus, indem er versteckt gehaltene Karten in das Spiel hineinschmuggelt; er fröhnt dem „Salatmachen" (mischt falsch); er arbeitet mit der „falschen Coupöe", wobei er falsch abhcbt, oder er versucht die schwierige „Filage", will sagen: er zieht statt der ersten Karte die nächst folgende oder zweitfolgende ab. Das ist wohl eine hinlänglich reiche Auswahl von Kniffen. Dabei haben wir immer nur den Falschspieler „höherer Ordnung" im Auge; von dem Bauern fänger, der beim Kümmebblättchen plump betrügt, wollen wir gar nicht erst reden. Aber freilich, will man sich von der Welt der Spieler eine Vorstellung macken, so muß man auch an all' diese verbrecherischen Existenzen denken, und an den blasirten Der- sckwender, den vom Spielteufel Besessenen, den Verzweifelten, der Alles auf eine Karte seht, den Habgierigen, der die Karten zu zwingen hofft, den Systematiker, der sie studirt, — an sie Alle muß man denken, und man wird sich einen Begriff von dieser Hölle machen können, über deren Eingang wahrhaft da- furcht bare „I-oscist' oxrn speravra!" steht.
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