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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 09.10.1899
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1899-10-09
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18991009028
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1899100902
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1899100902
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1899
- Monat1899-10
- Tag1899-10-09
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Abend-Ausgabe MMr.TllMaü Montag den 9. October 1899. Die Morgen-Ausgabe erscheint »» '/,7 Uh«, di« Abend-Ausgabe Wochentag- um b Uhr. Filialen: Niemi»'» Lo ti«. tAlfred Hahn), Universitätssrraße S (Pauliuum^ vont« LSsche. Latharmenstr. 14. »art. und Kdutg-vlatz 7. Ne-action »n- LrpeLitton: Johannts«affe 8. ^i« Expedition ist Wochentag» nnunterbroche» geöffnet von früh 8 bi» Abend» " Uhr. Bezugs-Preis hl der tzauptexpedition oder den k« Etudd» bezirk und den Vororten errichteten AuS» aadrstellen abgeholt: vterteljäbrlich ^lt.üO, vri zweimaliger täglicher Zustellung tu» Haus »l -.SO. Durch dir Post bezogen für Deutschland und Oesterreich - oierteljäbrlich ^l 6.—. Direkte tägliche jrreuzvandieudung in» Ausland: monatlich 1.50. Anzeiger. Ämtsbtatt des Äönigtichen Land- und Amtsgerichtes Leipzig, des Rathes nnd Notizei-Ämtes der Stadt Leipzig. Nnzeigen-Prei- die Kgespaltme Petitzeile L0 Pfg. Krclamea unter dem Redaction-strtch sige spalten) üO>^, vor den Familien Nachricht« (Sgejpalten) 40^. Gröbere Schriften laut unserem Preis- verzrichnib. Tabellarischer und Ztffernsa» nach höherem Tarif. Extra-veilage» (gefalzt), nur mit xr Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderuag SV.—, mit Postbeförderung 70.—. Annahmeschluß für Anzeigen: Abend-AuSgabe: vormittag» 10 Uhr. Morgen-Ausgab«: Nachmittag» »Uhr. vei den Filialen und Annahmestellen je ein halbe Stunde früher. Anzeige» sind stet» an di» Er-editia» zu richten. Druck und Bering von E. Polz in NeivzI» 83. Jahrgang. Politische Tagesschau. " Leipzig, 9. October. Ta» politische Elend in Prenften! Man muß e» au- Grünven, die wir in entschuldigender Absicht wiederholt dar gelegt, sorgfältig verfolgen. Der Entschuldigung bedarf es jedoch nicht mehr, nachdem die conservattve Partei in Sachsen e» für unumgänglich fand, sozusagen officiell auf die Tinge im größten Bundesstaate Bezug zu nehmen. Zn dem von conservatioer Seite drrrübrenven Bericht über die Dresdner Generalversammlung de- conservativen LandeS- vereinS im Königreich Sachsen wird, wie hier wiederholt sei, gesagt: „AuS der Mitte der Versammlung wurde sodann und zwar von Vertretern städtischer und ländlicher Kreise srstgestellt, daß die Vor kommnisse in Preußen keinerlei Reflexwirkung auf Sachsen auSgeübt haben, die Einheit der sächsischen conservativen Partei nirgends ge fährdet sei und bei ihr der beste Wille herrsche, künftig wie bisher alle Interessen, die landwirthjchastlichen wie di« von Handel und Industrie, gleichmäßig wahrzunehmen." Mit anderen Worten: die preußischen Conservativen lasten sich diese gleichmäßige Wahrnehmung nickt mehr an gelegen sein. So sckarf wie hier von Parteigenossen ist da» Verhalten der Conservativen in Preußen selbst von national liberalen nichtpreußiscken Blättern noch niemals beurtheilt worden. Die Dresdner Feststellung hat aber inzwischen auf- Neue Bestätigung gefunden und zwar, vom Standpunkt der Herren vr. Hahn, von Wangenheim u. s. w. gesehen, eine „glänzende". Die Leitung des Bunde- der Landwirtbe, z. Z. auch ohne Frage die der conservativen Partei Preußens, sagt die Politik der Sammlung ausdrücklich ab. Zn der „Corresp. des Bundes der Landwirtbe" ist zu lesen, die Regierung „würde sich täuschen, wenn sie glauben sollte, daß Conservative und Agrarier dadurch für die Canalvorlage zu gewinnen wären, daß man ihnen einen weitgehenden Schutz der lanbwirthsckaftlichen Produkte imneuenZoll- tarif und in den darauf zu begründenden neuen Vertrags abschlüssen mit dem Auslaute in Aussicht stellte". Die Bundesleitung giebt vor, jede Rücksichtnahme auf die In dustrie in der Canalangelegenheit auS dem Grunde zu ver weigern, weil dies nickt mehr nötbig sei. Die Durchführung der Schutzzollpolitik sei schon jetzt in der Hauptsache al- gesichert zu betrachten, weil auch die große Mehrheit de- Reichstags, wie Centrum und Nationalliberale, sich dazu in den Reichstagsdebalten bekannt hätten und weil die Negierung nicht mehr „zurück" könne. Die preußischen Conservativen sind zu klug, um sich ernstlich aus eine solche Rechnung zu verlassen, nach den neuesten Vorgängen muß man sie aber für frivol genug halten, um ihnen zuzutrauen, daß sie ihre handelspolitische Sacke auf NicklS stellen, um die Regierung, die Nationalliberalen und einen beträchtlichen Tbeil des CentrumS zu demülhigen und zu unterdrücken, also die drei Factoren, die sie zur Wahrung deS zollpolitischen Zateresses der Landwcrthschaft nöthig zu haben nickt ver kennen. Was die „Correspondenz des Bundes der Landwirtbe" proclamirt, ist die bedingungslose Unterwerfung alles dessen, was nicht in ihrem Sinne agrarisch ist, unter da- Agrarier- tbum, wie es durch Herrn v. Wangenheim repräsentirt wird, und dies bedeutet, da die Zndustrie denn dock auck ihre I Zntereffen hat, die völlige Lossagung von der Politik der I Sammlung. Was das BundeSorgan zur Canalfrage selbst z bemerkt, zeigt sich al- eine Fortsetzung der Verhöhnung-- campagne, di« die Conservativen gegen die Regierung begonnen: „Mit Lockungen ist e- ebensowenig etwa» wie mit Drohungen. Wenn die Lanalvorlag« wieder ringebracht werden sollte, so müßten gründliche, zuverlässige Vorarbeiten vorgelegt werden, wie man sich die weitere Lerkehrsentwickelung und -Förderung in Preußen über haupt denkt. Hierfür möge die Regierung daS Beispiel der Reichs- regirrung mit der Berufung de» Wirthschaftltchen Aus schusses nachahmen. Erst wenn »ine eingehende, detaillirte Untersuchung eine» solchen verkehr-politischen Ausschusses die festen Grundlagen für eine Ausgestaltung de» preußischen Verkehrswesens ergäbe, würde man bereit sein können, in die Prü fung einer diese Ergebnisse vollauf berücksichtigenden neuen Canal- Vorlage rinzutreten".... Indessen würden „wir auch hierbei mit aller Bestimmtheit darauf halten müssen, daß die bei der bisherigen Bevorzugung der BerkehrSinterrffen leider so vielfach vernachlässigten Meliorationen, Lut- und Bewässerungen großer Gebiete vorher zu der ihrer Bedeutung entsprechenden Berücksichtigung gelangen müßten". Eugen Richter weiß, wa- er thut, wenn er diese Willens kundgebung in der „Freisinnigen Zeitung" folgendermaßen commentirt: „Der Artikel der bündlerischen Correspondenz läßt keinen Zweifel darüber, das dir Conservativen und die Agrarier mindestens in der nächsten und übernächsten Session in starker Opposition gegen die Canalvoclage verharren werden. . . . Der gegenwärtige In haber der Krone befindet sich in mittleren Lebensjahren; aber selbst wenn er das Alter Methusalem'- erlangen sollte, würde er, wenn es nach dem Programm der Bündler geht, die EinweihungSfeier de-Mittellandkanals nicht mehr erleben. Selbst der jugendliche Kronprinz würde nach dem Programm der Bündler als Kaiser dazu kaum Aussichten haben." Die „ DeutsckeTageSztg." setzt der verächtlichen Behand lung der Sache in dem andern BundeSorgan die veräcktlicke Behandlung derPersonen an die Seite. Sie verwahrt sich gegen die „Unterstellung", als ob die Conservativen Hohen lohe und Miquel beseitigen wollten. Aber mit welchem Hohn geschieht die»! „Der Minister v. Miquel", so schreibt da- Blatt, „ist gar nicht der Mann unseres Vertrauen- — daraus haben wir niemals ein Hebl gemacht —, aber er ist ein kluger und tüchtiger Mann, der eine Politik macht, die mit den Thatsachen rechnet". Es sei fraglich, ob der Mann, der an seine Stelle treten würde ihm an Klugheit gleichen werde. WaS den Reichskanzler anlange, so wisse man, daß er für die agrarische Bewegung recht wenig übrig hat. „So lange er aber im Amte ist, wird nach Lage der Sacke der Biccpräsident deS StaatS- ministeriumS einen ziemlich bedeutenden Einfluß ausüben, der möglicherweise unter einem neuen Reickskanzlek wesentlich verringert werden könnte." Weiter beißt eS: „Wir sehen gar nickt ein, wcSbalb wir darauf binarbeiten sollten, die beiden Männer an der Spitze der Regierung durch andere zu ersetzen. WaS wir haben, wissen wir und können damit rechnen; ob daS, WaS wir dafür bekämen, bester sein würde, ist außerordentlich zweifelhaft." Zeder Mensch, so sagt die „D. T." nock, wisse, wie wenig eS jetzt auf die Persönlich keiten der Minister aukomml. Letzteres Thema variirl auch der konservative, aber die gegenwärtige Politik seiner Partei nicht billigende „Reichsbote": „Man redet von ZickzackcurS, steht die Minister schwankend und unsicher, spricht von Meinungsverschiedenheiten unter ihnen, die ihre Reflexe in die Presse werfe» und, statt einen Au-gleich zu finden, sich dort nur erweitern, verschlimmern und zu Angriffen auf einzelne Minister verdichten — bi- wieder ein Ministerwechsel stattfindet. Aber dann erhebt sich bald dasselbe Spiel mit einer kleinen Verschiebung; die Jntriguea werden immer häßlicher, richten immer größere Verwirrung an — und ihr Niederschlag ist wachsende Unzufriedenheit und Verdrossenheit in immer weiteren Kreisen. Man sühlt sich unbehaglich und unsicher wie auf einem Schiffe, auf dem der Lommandant nicht am Platze ist, und verliert das Vertrauen. Man ruft nach einem starken Manne, der die Zügel straff und fest in seine starke, sichere Hand nehmen soll. Durch das Alle- fallen Schatten auf dir Männer an der Regierung, und dann jagt wieder eia anderes Blatt: was scheeren uns Minister, sie sind nur Nummern, sie haben nur einen höheren Willen auszuführen." Wie der „NeickSbote" selbst über die Bedeutung der Minister denkt, sagt er nicht, deutet eS aber nach einer Schilderung bekannter Vorgänge mit den Worten an: „ES ist »in widerwärtiges Jntriguenspiel, was sich da abspielt, und erinnert an das Wort: „Wenn der Herr nicht zn Hause ist, tanzen die Mäuse auf dem Tisch."" Nach dieser Bemerkung zu schließen, erwartet der „ReickS- bote" jetzt die Beendigung der Krisis, die „gründliche Luft reinigung", wie die „Magdeb. Zkg." sich auScrückt. Wie sich daS Cent rum die Lüftung denkt, verrätb eines seiner Preß organe in einem „AngesicklS der Rückkehr" überschriebenen Artikel: „Ein ferneres Nebeneinander des Reichskanzlers Fürsten Hohenlohe und des Ministers v. Miquel", so heißt eS da, „muß nach den Vorgängen der jüngsten Vergangenheit als nahezu ausgeschlossen erscheinen". Das ist ein Rückfall in die Mainzer Miquelslürzerei des Herrn Lieber. Vielleicht weiß man im Centrum etwas. Wir wissen nichts und schließen deshalb unser Referat mit einer Bemerkung der „Köln. Zrg.", die lautet: „Freunde verwirrter Verhältnisse müßten sich augenblicklich in Drutlckland ungemein wohl fühlen, denn nachgerade geht bei uu» Alles derartig durcheinander, daßBielr sich überhaupt nicht mehr werden zurechtfinden können." Freunde verwirrter Verhältnisse giebt eS in Deutschland. Da in wenigen Wochen, am 14. November, der Reichstag wieder zu neuer Arbeit Zusammentritt, regen sich naturgemäß schon jetzt im Lande in Ueberfülle Wünsche und Anregungen, die auf dem Wege der Reichsgesetzgebung dringend Verwirk lichung suchen. Darum ist es angezeigt, schon jetzt auf das Uebermaß von Arbeiten hinzuweisen, die der Reichstag im kommenden Winter zu bewältigen hat. Zunächst ist das Material zu erledigen, das der erste Sessions abschnitt bei der Vertagung zurückgelassen hat. Fünf wichtige Vorlagen sind in der Commission so weit vorbereitet, daß ungesäumt die zweite Lesung im Plenum beginnen kann: die Novelle zu den Po st ge sehen, die neue Fernsprechgebührenordnung, die Novelle zu den I u st i z g e se tz e n, worin u. A. der Nacheid und die Bestrafung uneidlicher falscher Aussagen vor Gericht und die Berufung in Strafsachen eingeführt wird, die Novelle zum Strafgesetzbuch, allgemeiner bekannt unter dem Namen „lox Heinze", und schließlich die Novelle zur Ge ¬ werbeordnung, welche die Verpflichtungen der Gesinde- rermiether und Stellenvermittler regelt, für die Kleider- und Wäscheconfection u. A. Lohnbücher und Arbeitszeit«! einführt, im Handelsgewerbe die Nachlruhezeit und die Mittagspause der Gehilfen und den Ladenschluß, schließlich den Bauconsens ge nehmigungspflichtiger Betriebsanlagen behandelt. In der Com mission stecken noch das Fleischbeschaugrsetz, daS dem Reichstage bereits am 17. Februar zugegangen ist; das Tele graphenwegegesetz, das am 10. März vorgelegt, und die Reichsschuldenordnung, die am 4. Mai ein gebracht wurde. Dazu kommt noch eine ganze Reihe, ins besondere gewerbepolitischer Initiativanträge, die ebenfalls die zweite Lesung bereits passirt haben, und schließ lich die Vorlage zum Schutz des gewerblichen Ar- britsverhältnisses, die sogleich in zweiter Lesung im Plenum verhandelt werden soll. Unter normalen Verhältnissen würde dieses Material hinreichen, um neben dem Etat eine Session auszusüllen. Es stehen aber bereits noch weitere Vorlagen in sicherer Aussicht. Zunächst die Novelle zum Wein gesetz, das bereits in dem sogenannten „Weinparlament", der mit Weinintereffenten im Hochsommer gepflogenen Rücksprache, vorbereitet ist. Dann ist im Hinblick auf dir Pestgefahr an zunehmen, daß ein Reichsseuchengesetz vorgelegt wird. Sehr wahrscheinlich sind Vorlagen über die Regelung des privaten Versicherungswesens und den Schutz des Urheberrechts. Dazu kommt als eine der Hauptauf gaben der Session schließlich die Reform des Unfallver sicherungsgesetzes, als deren Vorbedingung die in dem bisherigen Sessionsabschnitte mit der Mehrheit von allen gegen drei Stimmen geschickt und glücklich durchgeführte Jnvaliden- versicherungsnovelle seiner Zeit vom Staatssekretär des Innern bezeichnet und deren Einbringung im Laufe des Winters jetzt auch officiös angekündigt ist. Entlastet ist die Session insofern, als die Forderungen der Marine- und der Heeres verwaltung durch das Flotten- und das Heeres- gesetz vorgezeichnet sind. Bei alledem wird ein be sonderes Maß von Arbeitslust und Arbeitskraft dazu gehören, jenes Riesenpensum zu erledigen. Und wenn der Reichstag dies mal auch schon Mitte November Zusammentritt, so ist darum doch nicht gesagt, daß er auch bi» in den Hochsommer hinein sich Zusammenhalten läßt. Darum ist Selbstzucht der partei politischen Initiative nöthig, wenn di« Session fruchtbar werden soll. Zn Frankreich scheint sich eine LoS-von-Ram-vewegun» unter der Führung des radikalen Publicisten Aves Guyot aus der Dreyfus-Affäre und der mit ihr eng zusammenhängenden klerikal-royalistischen Propaganda zu entwickeln. Uebertritte französischer Priester zum Protestantismus sind gerade in letzter Zeit in Frankreich häufiger als sonst wo vorgekommen, sie erregten Aufsehen, vermochten aber keine weiteren Kreise zu ziehen. Das dürft« jetzt, nachdem die Republik wieder gesehen hat, wessen sie sich von der jesuitisch geleiteten Priesterschaft zu versehen hat, anders werden, ein Wandel, den wir mit Freuden begrüßen würden. Die Bewegung setzt — jedenfalls nicht zum Nachtheil der Sache — in dem Augenblick ein, wo der Budgetausschuß der Kammer den Antrag der Radicalen und Socialisten, dieBot« schäft beim Vatikan aufzuheben, mit 13 gegen 7 Stimmen angenommen hat. Die Kammer wird voraus sichtlich, wie alljährlich, die Aufhebung verwerfen und die vom I Minister des Aeußeren verwilligten Credite bewilligen, aber ohne I Sturm dürfte es diesmal nicht abgehen. Die Haltung der Regie- I rnng in der Angelegenheit ist noch schwankend und unsicher. Als Feuilletsn. Aus freien Lahnen. Roman von Rudolf von Gottschalk. Nachdruck verboten. „Durchaus nicht, ich bin nur Dilettantin in Allem, was die Milchwirthschaft betrifft, und benutze, wie Sie sehen, diese nutz bringenden Geschirre nur zu unnützen Spazierfahrten." „Auch meine anderen Wagen stehen zu Ihrer Verfügung — ich lasse gern anspannen, wenn Sie es wünschen!" „Ich danke, Herr Baron! Ich will nicht in Ihren Equi pagen fahren; Dorf und Stadt würden darüber ihre Glossen machen — so weit haben Sie es gebracht durch Ihre große Liebenswürdigkeit." Der Baron lachte und drohte mit dem Zeigefinger. „Ei, ei, Alicechen — ich sah bisher nur die schöne, blaue Blume, jetzt merke ich's, daß fie auf einer Distel wächst. WaS «in Dörnchen werden will — nun, auf Wiedersehen!" Herr Blank,uhorn war diesmal bei besonders guter Laune. Alice zeigte so viel Verständniß und Talent, daß er mit Recht hoffen durfte, sie werde auf der Bühne ihre Schuldigkeit thun, vielleicht ihr Glück machen. Vor Allem war sie wohlfeil; fie konnte ganz gut ein naives Fach vertreten, gelegentlich in ein ernstes übergreifen. „Die Frauen", sagte er, „sind geborene Comödiantinnen. Sie, Fräulein Alice, sind doch wild auf dem Lande aufgewachsen, und ich bin erstaunt, wie rasch Sie sich in die Schauspielerei hinein finden. Das Seelenvolle ist Ihr Fach, Sie haben einen sehr verwendbaren Augenaufschlag; auch für das Naive haben Sie einig« brauchbare Accente. Nur die höhere Tragödie ist nicht für Sie." „Doch Sie haben mir ja selbst Maria Stuart und die Jung frau von Orleans einstudirt", versetzte Alice, in der sich bereits die Kllnstlereitelkeit regte, die Alles spielen will. „Das war nur der Uebung wegen, mein Kind! Wer wei^ ob Sie sich bei uns behaupten werden — das ist vom Zufall abhängig, vom Publicum, von der Kritik, vom Direktor, von hundert kleinen Räderchen im Räderwerk des Theaters — und wenn da» nicht der Fall ist, so müssen Sie zunächst an einer kleinen Bühne Ihr Glück versuchen und da müssen Sie eben Alles spielen, auch Heroinen. Deshalb studire ich Ihnen Rollen «in, die Sie an unserem Theater nie spielen werden." „Doch gerade für diese größeren Rollen in den schönen bleiben den Dichterwerlen schwärme ich." „Sie declamiren ja auch nicht schlecht, nicht ohne Wärme, aber zu weich, zu weich, mein Kind! Solch' eine Heldin muß von Erz sein, und das ist nicht Ihr Genre. Solch' eine Medea, Judith, Brunhilde — das können Sie nur in der Provinz spielen, vor den kleinen Leuten, die sich diese Personagen nicht so großartig denken, weil sie überhaupt nichts Großartiges denken können, aber nicht in der großen Stadt. Die Jungfrau von Orleans — das mag allenfalls gehen; die soll ja eine zarte Jungfrau sein und kein Mannweib, obschon sie von den klobigsten Heroinen gespielt wird. Ihr Organ werden Sie freilich dabei anstrengen müssen — ein paar Gläser Schnaps vorher haben mir bei großen künstlerischen Aufgaben meist die besten Dienste gethan. Das giebt auch Feuer m der Darstellung. Ich kenne einig« berühmte Sängerinnen, die aus diesem Feuerquell schöpfen: die Kritik nennt fie dann gottbegnadet, wenn sie mit ihren Stimmmitteln und ihrem Spiel gehörig inS Zeug gehen; man könnte sie ebenso gut schnapsbegnadet nennen." „Das ist Ihr Ernst nicht, Herr Blankenhorn!" „Man sollt« die tieferen Geheimnisse der Kunst nicht schon den Kunstnovizen mittheilen, welche dadurch leicht confuS ge macht werden können. Doch da Sie vom Lande stammen und auf Ihrem Dominium doch auch eine Brennerei ist, so werden Sie die selbe jetzt mit freundlicheren Augen betrachten, mit höherer Werthschätzung, da sie nicht blos den armen Leuten über das Elend deS Lebens hinweghilft, sondern auch den Künstlerinnen zu stürmischen Applausen verhilft. Doch genug davon — nehmen wir noch einmal die Rolle der Jungfrau durch." Herr Blankenhorn zeigte beim Einstudiren derselben rin so feines Verständniß, auch für da» dichterisch Schön«, daß man dies schwer in Einklang bringen konnte mit seiner hohnlachenden Auffassung deS ganzen BlthnenwesenS. Doch welcher Mensch wäre frei von inneren Widersprüchen — und wie sollte ein Oberreaisseur nicht daS allgemeine Look vrr Menschheit theilenf Der Schluß des ersten großen Monologs tn der Jungfrau gelang seiner Schülerin nicht sonderlich - für da» steigende Schlachtroß und die klingenden Trompeten hatte sie nicht genug kriegerisches Metall in ihrer Stimme. Doch den Monolog deS vierten Acte» mit seiner inneren Zerrissenheit, dem Kampf zwischen der himmlischen Sendung und der irdischen Liebe sprach sie vortrefflich, und der Regisseur nickte vergnügt über das neuentdeckte dramatische Talent. Der Vater war heute bei den Herren Tram» in Geschäften abwesend und wollt« erst am Abend zurückkehren, wo leider die beiden Herren mit ihm kommen sollten: es lag Unheil in der Luft. Zunächst aber konnte Alice auf ihren Milchwagen verzichten und bedächtig zu Fuß nach Hause wandern; der schöne Vormittag lud zu einem solchen Spaziergange ein. Sie ging über die Promenade des Stadtwalles — wie das Städtchen zu dieser Umwallung gekommen war, wußte man nicht genau, eine Festung war es nie gewesen. Doch war der Wall mit schönen Linden und Kastanien bepflanzt — und die Ruhebänke hatten einen anmulhenden Fernblick aus die Bergkette, an welcher sich überall wie ein Wasserfall von Häusern und blitzenden Dächern die langen Fabrikdörfer durch die Thäler hernieder schlängelien. Kinder spielten an der einen Bank, ein rothwangiger Flachstopf fragte die Dame, wir viel Uhr es sei? Doch Alice vermochte nicht Auskunft zu geben; ihre Confirmandenuhr lickte zu Hause in ihrem Schlafzimmer. „Warum fragst Du mich nach der Zeit?" sagt« Alice, ihm daS semmelblonde Wirrsal von Haaren streichelnd, das er auf dem Kopfe trug. „Ich bin dort aus Lindenthal", versetzte der Knabe, „und habe mich hierher verlaufen. Wir fanden dort Schulgenossen aus der Stadt und sind ihnen nachgesprungen. Mein Vater weiß nichts davon; ich erhalt« Schlage, wenn ich nach Hause komme, und jetzt ist er schon vom Felde zurück." Alice gab dem kleinen Flüchtling zu seiner Beruhigung einen Groschen. Das war ein Leidgenosse — auch er hatte, wie sie, Furcht vor dem Vater. Dann setzte sich ein« junge Frau mit dem Marktkorbe zu ihr und begann nach kurzem Gruß ein Gespräch nach Art der Leute aus dem Volke, die daS Herz auf der Zung« tragen, weil dadurch ihr Inneres ihnen erleichtert wird. „Schönes Wetter, doch unsereins hat nichts davon. Nichts als Arbeit — schwere Arbeit und wenig Lohn. Ja, wer da» vorher gewußt hätte! Ich lebte in ganz guten Verhältnissen, da kam der Franz — der Franz Kilian. — Doch Sie kennen ihn ja nicht! Er war ein wackerer, flotter Bursche, und schön und blank, wie auS dem Ei geschält, doch meine Eltern wollten nichts von ihm wissen, da rr nichts besaß und nur von seiner Arbeit lebte, ich sollte den Sohn de- reichen Großbauern hecraihen. Da lief ich von Hause fort. Der Vater machte drei Kreuze hinter mir. Und aus dem Franz ist auch nichts Rechter geworden — er bringt's zu Nichts. Er Ist eben ein Pechvogel — und die müssen andere Leute mit ins Unglück reißen." „So solltet Ihr nach Hause zurückkehren!* „Vater läßt nicht mit sich spaßen; er will von mir nichts wissen, und wenn ich so al» die durchgegangene Liebste de» Herrn Kilian nach Hause käme, würde ich überall verschlossen« Thllre» finden." Die junge Frau fing zu schluchzen an und trocknete sich mit der Schürze ihre Thränen ab; es war ein« ganz artige Blondine mit Sommersprossen im Gesicht und rothgeschminkten Händen und Armen, doch sie war schwächlich und zu grober Arbeit nicht geschaffen. Alice hatte Mitleid mit ihr, doch als die Frau eben wieder den Korb in die Höhe genommmen halt« und mit traurigem Gruß fort gegangen war, da kam ihr der Gedanke, daß sie vielleicht einmal so mit sich selbst Mitleid haben müßte. O die blauen Berge drüben, das lockt in die Ferne — doch wie es dahinter aussieht, wer kann es wissen! Ein eleganter, junger Herr erschien auf der Promenade in Begleitung zweier Damen, die mit sichtlichem Stolz an seiner Seite gingen. Nicht weit von der Bank verabschiedeten sie sich von ihm. Während er auf ein Rondell zuging, das eine weitere Aussicht gewährte, gingen die beiden Damen an Alice vorüber, und sie hörte, wie die Brünette mit den feurigen Augen zu ihrer Begleiterin, einer unausgebackenen Blo.ckin« mit einem auf gedunsenen Gesicht und verquollenen Augen, aber einem süßen Lächeln, sagte: „Schon im Photographiekasten ist er unwiderstehlich — und nun gar im Leben!" Wie erstaunt war Alice, als der Unwiderstehliche, nachdem er sich an der Aussicht vom Rondell aus erquickt, plötzlich auf sie zukam und mit einer höflichen Begrüßung sagte: „Irre ich mich nicht, gnädiges Fräulein, so sind Sie die Schülerin deS Herrn Blankenhain, von der er mir so viel Schönes erzählt hat; ich wohne gegenüber und sah Sie mehrmals zu ihm inS Haut gehen. Es war noch sehr früh, und ich genoß sic gleichsam mit d«m Morgenkaffee; denn ich stehe etwas spät auf. Ich bin Letory und glaube, in Ihnen «ine künftige Lollegin begrüßen zu können." Alice erkannte ihn wieder, es war der Lord Rochester au» „Die Waise von Lowood", «in schlanker Herr von tadelloser Eleganz, der den Bewohnern des Städtchen» so imponirt«, wie seinerzeit die Weißen in dem neuentdeckten Amerika den Roth- däuien. Sein kleidsamer Gehrock, seine schönen, braungelben Handschuhe, sein glatter Cylinder und dazu sein ganze» Wesen, das Wesen eines siegreichen Eroberers, hinier dessen Triumph wagen zwar nicht gefangene Könige, doch gefangen: Königinnen schritten, mußt« in der Kleinstadt den Eindruck eines leuchtenden, diirck die Gassen schwärmenden'Meteor» machen. Er war brünett, mit schönen, dunklen Augen, einem edel geschnittenen Profil, und
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