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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 11.11.1899
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1899-11-11
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18991111024
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1899111102
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1899111102
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1899
- Monat1899-11
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In der Th r on red e, mit der vorgestern Kon i g Albert den sächsischen Landtag eröffnete, wird mit besonderem Nach druck betont, daß die „schon längst erstrebte feste Regelung des finanziellen Verhältnisses des Reiches zn den Vundcs- staaten" leider noch nicht erfolgt sei und die königl. sächsische Regierung, bei der bohen Wichtigkeit einer solchen für die Finanzwirtbschaft der Bundesstaaten, im Interesse der end lichen Erreichung dieses Zieles auch ferner bemüht sein werde. Heute schreiben die dem preußischen Finanzminister be kanntlich sehr nahe stehenden „Berl. Polit. Nachr.": „Wie erheblich sich die finanziellen Verhältnisse der Bundesstaaten zum Reiche seit der Gründung des letzteren gebessert haben, beweist die Thatsache, daß in dem Etat des Jahres 1870/71 der Beitrag Preußens an den Norddeutschen Bund aus nahezu 55 Millionen Mark beziffert war. Diesem Beitrage Preußens zu den Kosten des Norddeutschen Bundes stand ein Aus- gleich an UeLerweisungen aus Bundessteuern nicht gegenüber, auch ermäßigte sich der Beitrag nicht, wenn die eigenen Einnahmen des Bundes Mehrerträge gegen den Etat lieferten. In den letzten Jahren haben zwar die Bundesstaaten nach dem Etat einen Beitrag zu den Kosten des Reichs zahlen sollen, welcher sich ungefähr in der Höhe von 7—10 Millionen Mark hielt, allein in Wirklichkeit hat der Mehrertrag der der Klausel Franckenstrin unterliegenden Zölle und Rcichssteuern es bewirkt, das; nicht nur soviel an Ueberweisungen an die Bundesstaaten gezahlt werden konnte, wie uach dem Etat an Matricularbeiträgen zu leisten war, sondern daß den Bundesstaaten auch regelmäßig trotz der Verwen dung eines erheblichen Theiles der Mehrnberschiisse zur Schulden tilgung noch ein mindestens der Spannung zwischen Matricular- umlagen und Ueberweisungen gleicher Betrag aus der Reichscasse zugewiesen werden konnte. Auch im laufenden Jahre besteht trotz des Rückganges des Ertrages der Zölle in Folge der Ver minderung der Getreideeinfuhr, wenn die Einnahmen des zweiten Halbjahres denen des ersten gleichen, die sichere Aussicht, Laß die Bundesstaaten nicht nur den vollen Betrag ihrer Malricular- umlagen erhalten werden, sondern daß ihnen auch darüber hinaus noch ein Beitrag aus den Zöllen und Reichssleuern zur Deckung ihrer eigenen Ausgaben wird zugcsührt werden können, während der Ertrag der zur Reichscasse fließenden Einnahmen die Aussicht auf einen Ueberschuß der Reichscasse eröffnet, der dem ganz aus nahmsweise hohen Ueberschusje Les Jahres 1898 sich mindestens gleichstellt, ihn vielleicht sogar noch übertrifft." Soll daS etwa die Antwort deS Herrn vr. v. Miquel auf die erwähnte Stelle der sächsischen Thronrede sein und unsere Negierung darauf vorbereiten, daß sie bei ihren Bemühungen auf die Unterstützung Preußens nicht zu zählen habe? Das wäre seltsam genug. Früher war es gerade Herr v. Miquel, der die Nvthwendigkeit einer festen Regelung des finanziellen Verbältnisses deS Reiches zu den Einzelstaaten bei allen passenden Gelegenheiten betonte und seine Eollegen aus den übrigen Bundesstaaten zu Borschlägen über die Art dieser Regelung veranlaßte. Trotz der günstigen Lage der preußischen Finanzen weiß er auch gut genug, wie fühlbar der Mangel einer solchen Regelung bei der Ausstellung der Etats in den Einzelstaaten wird, und die Wahr scheinlichkeitsberechnung, welche die „Berl. Polit. Nachr." über die Höhe der Reichsüberschüffe im laufenden EtatSjahr anstellt, wird gerade den weitblickenden nnd vor sichtigen Leiter des preußischen Staatsfinanzwesens nicht darüber Hinwegtäuschen, daß die Höhe des NeichöüberschusseS im laufenden Jahre eine gleiche Höhe im nächsten Jahre noch lange nicht verbürgt. Ueberdies kann es Herrn v. Miquel nicht entgehen, daß die neuen Flottenpläne den Bundes staaten den Wunsch einer festen Regelung des finanziellen Verhältnisses des Reiches zu den Bundesstaaten besonders nahe legen müssen. Freilich machen cSdie bisherigen Erfahrungen nicht eben wahrscheinlich, daß der jetzige Reichstag die Hand zur Herbeiführung einer organischen ReichSfinanzreform bieten werde. Aber das ist jedenfalls kein genügender Grund für daS Unterlassen eines Versuches. Die verbündeten Regie rungen haben schon manchen vergeblichen Versuch gemacht und sich mit einer „Quittung" für ihre Vorlagen begnügt. Und wenn ein solcher Versuch gerade setzt wieder gemacht würde, so würden sich die Herren NeichSboten gewiß der Ueberzeugung nicht ver schließen, daß bei den wachsenden Ansprüchen des Reiches die Einzelstaaten ohne eine feste Regelung des Verhältnisses der NeichSfinanzen und der Slaatsfinanzen auf die Dauer in die Brüche kommen können. Wird trotzdem ein ReichS- sinanz-Neformplan abermals abgclehnt, so dringt wenig stens in immer weitere Kreise die Erkenntnis; der Nothwendigkeit einer solchen Nesorm und diese Erkcnntniß führt dem ersehnte» Ziele näher. Wir hoffen daher, daß die königlich sächsische Regierung durch die preußisch-officiöse Be schwichtigung sich nicht von der energischen Betreibung der Angelegenheit abhalten läßt; der Unterstützung der königlich bayerischen Negierung ist sie, wie aus der kürzlich ge- hatlenenen Etatsrebe des bayerischen Finanzministers hervor- gcht, sicher. Wie unter den Klerikalen Belgiens hat das Wahl- reformproject de Smet de Najer's (Verhältniß- wahl) auch unter den S o c i a l i st e n eine Spaltung her vorgerufen. Während die parlamentarischen Socialisten nicht gegen die Vorlage sind, wird dieselbe aufs Aergstc von den revo lutionären bekämpft. Nur scheint die Uneinigkeit hier nicht so schroff zu sein als bei den Klerikalen, denn dieselbe besteht eher bei den Führern und bei den Abgeordneten, als bei den Massen, die dem Socialismus immer treu bleiben. Ueber die Aussichten der Socialisten gab eine leitende Persönlichkeit einem Mitarbeiter der „Etoile Beige" einige Andeutungen. Es ist gewiß, sagte dieser Socialist, daß nach Annahme der verhältnißmäßigen Wahl einige Abgeordnete der Partei abgehen werden, aber es giebt ihrer ziwei öder drei, deren Austritt nur von ihnen allein be dauert werden wird. Die Socialisten werden bei dem neuen Wahlsystem ungefähr zehnMandateverlieren,dafür aber viergehn neue g ewinnen. Die Partei macht weitere Fortschritte, wie es die Brüsseler Municipalwählen ge zeigt. Was- die Verluste in den Provinzen Lüttich und Henne gau anbetrkfft, so haben dies die Socialisten den von ihnen begangenen Verwaltungsfehlcrn zuzuschreiben. Auch wurden ihr« Kooperativ-Gesellschaften von dem Mittelstände arg be kämpft. Für die nächsten Wahlen werden die Socialisten vielleicht in kleinen Districten, um keine Stimmen zu verlieren, mit den Radikalen Wahlbündnisse schließen, in größeren Wahl kreisen aber allein vorgehen. Mit einem Kartell wäre der Er folg vielleicht schneller erreicht, aber es ist vorzuziehen, langsamer vorzuschreiten, damit die Arbeiter eine größere politische Bildung sich aneignen. Trotz dieser optimistischen Aussichten werden die bestehenden Uneinigkeiten nicht so leicht verschwinden, und Die jenigen, deren Mandate bedroht sind und die Jntercsscnpolitik verfolgen, werden das Spiel so leichten Kaufes nicht verloren geben. Am 9. November begann nn Luxembourgpalaste in Paris vor dem Senat als Staatsgerichtshof die Verhandlung gegen Teranlbde nnd Genossen wegen „Verschwörung gegen die Sicherheit der Republit und wegen eines die gewaltsame Aenderung der Staatseinrich tung bezweckenden Attentats, dessen Ausführung bereits begonnen lvar und dessen Vollendung nur durch Umstände, die außerhalb des Willens der Angeklagten lagen, verhindert worden ist." Unter dem umfangreichen Material, welches die AnÄagcbehörde in zahlreichen dicken, gedruckten Bänden den Mit gliedern des Gerichtshofes unterbreitet hat, befindet sich eine Menge von Polizeiberichten, denen wohl nur geringe Beweiskraft beigemessen werden kann. Allein auch nach Ausscheidung aller im Geringsten fragwürdigen Documente bleibt noch immer eine wuchtigg Masse schwer belastender Schriftstücke zurück. Wenn man bereits ein vollkommen neues Beamtenpersonal von den Präfectcn und Generalprocuratoren bis zu den Flurschützen herab für den „lonckonaain", den Tag nach dem Staatsstreich, bezeichnet hat und die Generale nach ihrer größeren oder ge ringeren Geneigtheit, an diesem Tage mit zu operiren, unter der Bezeichnung „gut" und „schlecht" claffificirt, so handelt es sich offenbar nur noch um die Wahl des Tages oder der Gelegenheit. Der Umstand, daß die Verschwörer an Geriebenheit weit hinter den Männern des 18. Brumaire und des 2. December zurück standen, sowie die Thatsache, daß die dritte Republik besser bewacht war, als ihre beiden Vorgängerinnen, vermag an der Strafbarkeit des Delikts nichts zu ändern. Wohl aber dürfte die relative Harmlosigkeit der Persönlichkeiten, die sich verbanden, um den Herzog von Orleans auf den Thron zu setzen, auf das Strafmaß mildernden Einfluß haben. Vielleicht wird einigen von ihnen, die noch nicht bestraft sind, sogar das Gesetz, das den Namen des Präsidenten des Gerichts hofes trägt, die „loi Dsron^er", zu Statten kommen die erlaubt, den Vollzug der Strafe bis zu einem etwaigen Rückfalle auf zuschieben, d. h. bedingungsweise zu erlassen. Und auch die jenigen, welche dieser Milde des Gesetzes nicht theithaft werden können, dürfte keine allzu schwere Strafe treffen — nach der Trufclsinsel wird man keinen von ihnen schicken, und dir bei Er öffnung der Weltausstellung geplante Amnestie wird ihr Mar tyrium auf wenige Monate beschränken. Schlimmer als das Ur- theil ist für die Sache der verbündeten Royalisten, Nationalisten undAntisemiten die Verhandlung, aus der sich ihre Leichtfertigkeit, Selbsttäuschung und Skrupellosigkeit ergeben wird, nicht zuletzt auch die geringe Meinung, die sie vertraulich gegenseitig von ein ander kundgeben. Man wird über sie lachen und sie nicht zu be dauern brauchen. Bemerkenswerth ist die Sorgfalt, mit der die Untersuchung die in der Sache bloßgestellten Generale und anderen höheren Officiere aus dem Spiele gelassen hat. Einige erblicken darin eine Schwäche, andere einen Act patriotischer Klugheit. Welche Meinung die richtige ist, wird sich aus dem weiteren Verhalten der Armee ergeben. In Frankreich vermag eine einzige militärische Schlappe irgendwo im fernsten Osten oder Süden des fran zösischen Colonialreiches erfahrungsgemäß verhängnißvolle Folgen auf dem Gebiete der inneren Politik nach sich zu ziehen. In England ist von derartigen Wirkungen der südafrika nischen Hiobsposten bisher nichts zu merken; die be wunderungswürdig« Kaltblütigkeit, mit der die Nation die Un- glucksnachrichten von Dundee und Ladysmith ausgenommen, hat sic nicht verlassen. In der letzten Octoberwochc wurde in Bow and Bromley gewählt; die konservativen behaupteten nicht allein den Wahlsitz, sondern erlangten so eine wesentlich größere Mehr heit, als bei den allgemeinen Wählen von 1895. Das war noch vor der, Gefangennahme der beiden Bataillone und einer Berg- balterie bei Ladysmith, aber doch schon zu einer Zeit, wo die militärische Lage in Natal recht bedenklich zu werden begonnen hatte. Letzten Montag gab es eine Nachwahl in Exeter. Dieser Wählsitz gehört zu den treuen Burgen de: conservattven Partei, ist aber bei jeder Wahl kräftigen Anstürmen der Liberalen aus- gssetzt. Im Jahre 1885 betrug die conservative Mehrheit 241, das Jähr darauf 343, im Jahre 1892 555 Stimmen; bei den letzten allgemeinen Wahlen siegten die Conservativen mit 3867 gegen 3363 Stimmen über die Liberalen, ihre Mehrheit betrug sonach 494 Stimmen. Am Montag schwoll diese, trotz Dundee, Ladysmirh und Colenso, um 165 Stimmen an, indem die Eon- servativen mit 4030 gegen 3371 Stimmen das Feld behaupteten und ihren Kandidaten Sir Edgard Vincent gegen Bright durch brachten. Eine Regierung, die sich auch in kritischen Zeiten so sicher auf ihre Partei verlassen kann, darf allerdings Manche- wagen, dessen eine andere sich nicht unterfangen dürfte. Außer dein neuen Verlust, den die Engländer auf dem Kriegsschauplatz, und zwar auf dem nördlichen Theil desselben, im Matabelelande bei Bulawayo, erlitten habe» — vielleicht ist noch mehr verloren gegangen als eine „kleine Wagenkolonne" nnd die Begleitmannschaft von 6 Mann — ist abermals nichts Neue- passirt, wenigstens ist es so im Rathe der englischen Vorsehung bestimmt. Man muß sich also weiter in Geduld fassen. Wie uns aus London, 10. November, gemeldet wird, macht ein Armeebefehl bekannt, daß die einberufene» Reserven sich noch vor dem 20. d. MtS. bei den Fahnen zu stellen haben. Ein weiterer Armeebefehl ordnet die schon vor ein paar Tagen angekünrigte sofortige Mobilmachung der 50. Infanterie-Division für den Dienst in Südafrika an. Der officiösen Wiener „Polit. Corresp." wird auS London gemeldet, man versichere in unterrichteten Kreisen, daß die in Südafrika operirende englische Armee erforderlichen Falle- auf die Stärke von 100 000 Mann gebracht werden wird, da, wie maßgebende Stellen betonen, der Endzweck deS Krieges, die definitive Unterwerfung der süd afrikanischen Republik unter die Suzeränetät Englands, schlechterdings erreicht werden müsse. — Ein Vertreter dcS „Neuter"-Bureaus sprach bei dem General agenten für die Eolonie Natal, Sir Walter Peace, vor, um zu erfahren, in welcher Weise in Durban den Ofsicieren, die Len Transport der nach Südafrika beorderten Truppen leiten, bei der Ausschiffung und Weiterbeförderung der Truppen und deS Proviants an die Hand ge gangen werden würde. In englischen Zeitungen ist vielfach die Meinung geäußert worden — und auch wir gaben derselben Ausdruck — daß eS bei der Lan dung allerlei Schwierigkeiten geben werde. Sir Walter Pcace erklärte, daß man nicht den geringsten Grund zur Befürchtung habe; die Landung würde ohne Verzögerung und ohne Hindernisse vor sich gehen können. Die zahlreichen Transportschiffe, die aus Indien und anderen Gegenden gekommen waren, konnten fast immer bis an den LandungS- damm herankommen und hier mit der größten Bequem lichkeit ihre Truppen und Vorräthe ausschiffen. UebrigenS hätten sich die Landungsbedingungen in der letzten Zeit noch erheblich verbessert und auf nahezu eine Meile hinaus könnte man die Schiffsladungen vom Dampfer direct auf die Güterwaggons der Eisenbahn hinüber schaffen. Auch eine Anzahl von Locomotiven — von größeren Dimensionen als die bisherigen — seien bereits nach Natal eiiigeschiffl und zum Theil sogar schon ausgeschiffl worden. Ebenso sei eine Anzahl von Güterwagen,von denen jeder20Tonnen Feuilleton. Das Pflegekind. Roman von Elsbeth M e y e r - F ö r st e r. riawdvuck vcvbvlrn. Die Brinkmanns lebten nicht übermäßig sorgenlos, aber sie lebten das Dasein von Menschen, die sich mit ihrem Schicksal be scheiden und die Arme nicht nach unmöglichen Glücksgütern ausiftrecken- Zwei Wittwen — eine junge und eine alte, Mutter und Tochter — bewohnten sie mit dem kleinen Paul, dem Sohn und Enkel, ein kleines Quartier in Berlins Vorstadt, weit draußen, wo die Fluthen der Millionenstadt verebben und kleinbürgerliche Ruhe und Behaglichkeit zu beginnen scheinen. Wie es daS Loos der Wittwen ist, war es auch das ihre, sich im stillen LöbenskreiS der alleinstehenden Frau ohne Aufsehen und Variationen fortzubcwcgen, den eng gezogenen Pflichten nach gehend, die in der Erziehung txs Kleinen gipfelten. Still und bescheiden, wie sie Beide selbst, wäre der Kleine ein« völlig anspruchslose Existenz gewesen, wenn sie nicht in übergroßer Zärtlichkeit ihn zum Inhalt ihres ganzen beider seitigen Daseins, aller ihrer Hoffnungen, Wünsche, aller ihrer Schmerzen und Freuden gemacht hätten. ES war vielleicht zu viel, was so Jahr aus Jahr «in an Uebergetwalt der Liebe auf den Knaben h'ereinbrach; sein zartes Dasein schien dem Ansturm nicht gewachsen. Denn je mehr er heranwuchs, desto stiller, verschlossener wurde er, desto mehr begann er einem kleinen, ernsten Herrn zu gleichen, der sich keinen Überschwang der Freuden mehr gestattet. Mit zehn Jahren hätte er als Musterkind gelten können, was seine tadellose Artig-, kett, seine Stillheit, unmenschliche Folgsamkeit und Bescheidenheit anbetraf. Mer sein Gesichtchen war bleich, sein Blick voll schwer- müthiger Frage, und der kurze Fuß, der ihn von Geburt an mißstaltete, schien schwerfälliger und unfroher zum Laufen zu werden von Tag zu Tag. „Der Junge war zu einsam", sagte der Arzt. „Er welkt. Ihm fehlen Geschwister. Geben Sie Acht, daß er nicht ganz melancholisch wird." Die ärztliche Mahnung veranlaßte größte Bestürzung im Hause. Wenn das Kind melancholisch wird, wenn Paulchen nicht mehr mit seinen kurzen Sätzen durch die Stuben eilen wird, mein 'Gott, wie wird ihnen da zu Muthe sein? Diese beiden Frauen, Mütter und Großmutter, leben ja nur in dem Kinde, das Stelzen des kurze» Fußes ist in seinen verschiedenen Abstufungen der Gradmesser für ihr bischen menschliches Leid und Freud', und der Ausspruch des Arztes versetzt sie in dumpfe Beklemmung. Ja, wenn Paulchen Geschwister hätte! Dew ganzen Tag curstrt dieser erfolglos« Wunsch zwischen ihnen; die Groß mutter blickt die Tochter an; diese verstohlen während ihrer Küchenarbeit immer wieder zur Großmutter hin. Sie grübeln über den Worten, die eine so neue Perspective für das Dasein des Kindes eröffnen. Endlich kommt der Großmutter ein Blitzstrahl der Erleuchtung: „Wir nehmen ein Pflegekind." Nach Tagen der Berathung, Tagen der Aufregung in dem sonst so stillen Hausstand wird die Sache perfect gemacht. Die Großmutter schreibt an die Armendirection in ihrem ostpreußi schen Heimathsort: Sie bäte um „ein Waisenkind". Und über- pünctlich, ja mit der Promptheit eines Eilpacketes, trifft das kleine Unglückswesen in Berlin ein. Es ähnelt durchaus nicht einem verhungerten Zicklein, wie die mitleidige Großmutter von vornherein vermuthete. Es ist vielmehr «in dickes, hübsches, dralles Ding, von strotzender Ge sundheit, das in das kleine Hauswesen hine'mwirbelt wie ein Sturmwind. Annette heißt es. Aber die Großmutter, die den Namen für „ausländisch" erklärt, tauft's in Nettchen um. Es macht sich's gleich schön mollig und bequem im Hause, langt sich sofort ein Glas Bier vom Tische, das für die schwäch liche Mutter hingestellt war, und springt dann der Großmutter auf den Schoß, von dem eS Paul hinunterslvßt. Alle sind etwas 'lxprimirt. Sie dachten sich mehr so ein lenksames Waisenkind, mehr automatenhaft, das mit dem Paul spielt, wenn es spielen soll, und dann für die übrige Zeit wieder hübsch zusammcnzurollen und beiseite zu legen geht. Davon ist aber bei Nettchen nicht die Rede. Das müssen sie bald einsehen lern«n. Das Nettchen dominirt gar bald im Hause. Es ist ge schwätzig wie eine Elster, wild wie ein Bock, und führt das große Wort. Mit dem Paul geht's gar nicht sanft um- Er springt ihr nicht rasch genug, was er macht, ist Alles schwächlich und halb, seine Peitfchenschmitze gehen von selbst auf, wenn er tuscht, ist es blaß wie Wasser, was er klebt, fällt auseinander, und das Nettchen giebt ihm Püffe, damit er's besser macht. Eines Tages wird die Mutter gewahr, daß Nettchen den Paul schlägt, sie ruft die Kleine herbei und schickt sich an, die Ruthe für si« zu gebrauchen. Da schreit Nettchen gellend auf: „Ja, schlagt mich nur, — ich bin ja ein Waisenkind." Die Mutter läßt die Ruthe sinken und ist ganz blaß. So erschreck! haben sie Nettchen's Worte. Die Großmutter tritt rasch hinzu und nimmt die Ruthe fort. „Schlag sie nicht", sagt sie, „cs ist ja wahr, sie ist ein Waisenkind. Sie soll uns nicht nachsagcn, daß wir sie schlecht behandelt hätten." So trägt Nettchen von vornherein den moralischen Sieg aus dieser Angelegenheit davon. Seit diesem Tage wagt keine der Frauen, ihr noch einmal mit Züchtigung zu drohen. Ja, selbst zu dem kleinen Paul, der Abends in seinem Bette über einige von Nettchen erhaltene S'iöße sich weinend beklagt, sagt die Mutter, ganz unter dem Einfluß der gegen sie gerichteten An klage: „Schlag' sie nicht wieder, wenn sie Dich schlägt; sie ist ein Waisenkind." Dem Paul will zwar nicht einleuchten, was daran so Bedauernswerthes sein soll; er, so schwächlich und klein, mit seinem kurzen Fuße kommt sich viel waisenkindmäßiger vor als das starke, kräftige Nettchen. Aber er nimmt die Worte der Mutter auf Treu und Glauben hin und giebt sich zufrieden. Nach und nach gewöhnt er sich an die wilde Schwester, und bald ist sie ihm, so sehr sie ihn auch tyrannisirt, unenibehrlich. Die Frauen sehen das, sie athmrn auf. Im Innern ist ihnen das allzu kecke Ding, das den Paul so ganz in die Gewalt bekommt, fast zuwider, aber da sie den Jungen heiter und glücklich sehen, fügen sie sich. Paul nimmt täglich seinen Weg ins Real-Gymnasium, Nctt- chen besuch: die Gemeindcschule. „Wir sind einfache Leute", sagt die Mutter, „wir können kein Fräulein aus Dir machen." Aber Nettch«n hat für die Rangunterscheidung, die zwischen Paul und ihr sich eröffnet, sofort die Pfeile der Vergeltung zur Hand. S:e muß mitunter ddr Pflegemutter, die keinen dienstbaren Geist be sitzt, iw der Küche helfen, abtrocknen, Teller spülen und der gleichen- An diese häuslichen Pflichten, zu denen si- herangezogen wird, knüpft sie ihre Vergeltungstaktik. „Großmutter", sagt sie bei Tische, als zum Geburtslage der Mutter ein paar Bekannte da sind, dürftige Beamten frauen, die für ihr Leben gern dahinter kämen, ob der Luxus eines Pflegekindes nicht irgend welchen gewinnsüchttgen Absichten entspringe. „Großmutter, was bin ich bei Euch im Hause?" Die Großmutter, die sich schon aus Angst vor Nettchen's Ueberfällen einen Platz ganz außer ihrer Nähe gewählt hat, wird roth und blaß in Erwanung der kommenden Bösheit. „Ach, laß mich sein", wehrt ste ab, „was sollst Du bei uns wohl sein?" „Was bin ich bei Euch im Hause?" fragt Nettchen zum zweiten Male mit unerschütterlicher Ruhe. „Was will das Kind?" sagen die Bekannten, di« jetzt die Gelegenhei: erspäht zu haben glauben, wo ihre Ahnungen sich bewahrheiten, daß dem Kinde irgend welche Ungerechtigkeit widerfahren wird, — „immer sprich mal, Kleine." — „Köch'sche (Köchin) bin ich bei Euch im Hause!" ruft Nett- chrn triumphirend. „Die ganze Schule sagt, daß ich bei Euch im Hause Köch'sche bin- Aber ich thu' es gern. Ich kriege ja mein Essen und Trinken dafür." „Gott, was 'ne Mariell!" flüstert die Großmutter ganz ver stört. „Was müssen die Menschen wohl von uns dcnken." Die Bekannten thun zwar, als hätten sie Nettchen's Worte nicht ganz verstanden oder ihnen nich: genügend Beachtung ge schenkt; aber als sie sich verabschieden, drücken sie der Hausfrau rasch und scheinbar erregt die Hand. „Sic ist ein Waisenkind", flüstern sie, „seien Sie nicht zu hart zu ihr." Und nach diesen Worten, gegen die sich die Sprachlose in ihrer Betroffenheit gar nicht zu vertheidigcn weiß, gehen sie davon, ganz erfüllt von dem Gedanken an das unterdrückte Waisenkind. Nettchen und Paul werden größer, und so oft die Erstere auch noch eine Tracht Prügel verdient. Dank ihrem Talente, das Loos eines Waisenkindes von vornherein dramatisch zu schildern, entgeht sie jeder häuslichen Execution. Sie hat eine Art übernatürliches Gewissen in den Seelen ihrer Pflegerinnen aufgeweckt, gegen das sich diese erfolglos wehren. Bald entwickelt sich in Nettchen eine starke Neigung, nur Knaben ihres Umganges zu würdigen, während sie gegen Mädchen völlige Gleichgiltigkeit an den Tag legt. In der That sind bald alle Jungen der Straße hinter ihr her, und bei deren wilden Spielen nimmt si« die Rolle einer Rädelsführerin ein. Eines Tages hat Paul sehr vornehmen Besuch. Die Söhne des Majors, die im Vorderhause wohnen, sprechen mit einer sich auf Schulaufgaben beziehenden Ausrede bei ihm vor, im Grunde kommen sie jedoch Nettchens halber. Sie schleppen ihren kleinen Bruder im Gefolge mit sich, der bereits ein starkes Bewußtsein seines militärischen Herkommens besitzt, und auf die Frage von Paul'S Mutter, waS er einmal werden wolle, vernehmlich antwortet: „Potiepeestihnris." Inzwischen aber futtert er die ihm angebotenen gebratenen Aepfel, und auch seine Herren Brüder sind in diesem Puncte nicht unzugänglich. Nettchen ist wie vom Schnürchen los. Die Gymnasiasten, das weiß sie, sind nur ihrethalben gekommen, und es schmeichelt ihr ungeheuer, an Stelle der Straßenjungens diese kleinen, pomadisirtrn Herren zu Verehrern zu haben.
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