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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 15.11.1899
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1899-11-15
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18991115020
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1899111502
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1899111502
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1899
- Monat1899-11
- Tag1899-11-15
- Monat1899-11
- Jahr1899
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Größere Schriften laut unserem Preis- verzrichniß. Tabellarischer und Zifferosatz nach höherem Tarif. Extra-Beilage» (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Poslbesörderuug 60.—, mit Postbesörderung 70.—. Ännahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Vormittags 10 Uhr. Morgen.Ausgabe: Nachmittags 4Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. 583. Mittwoch den 15. November 1899. 93. Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, 15. November. Mit einem kleinen Jubiläum hat der Reichstag gestern seinen in das neue Jahrhundert führenden Verbandlungs- abschnitt begonnen. Es war die hundertste Sitzung der 1. Session der 10. Legislaturperiode. Zur Feier des TageS prangten zwei Blumensträuße vor dem Präsidenten, der eine aus Chrysanthemen gebunden, dem modischen Gewächse, daS Bismarck nicht leiden konnte. Der wichtigste Gegenstand der Tagesordnung, daS Postgesetz, gelangte nicht mehr zur Be ratung. Von den verhandelten Petitionen hätte mau die den Erlaß eines Neichswohnungsgesetzes betreffende klüger nach dem Vorschläge des Abg. Hasse späterer Verhandlung Vor behalten, als, wie geschehen, einen freisinnigen Antrag, der die Einsetzung einer Enquete verlangt, anzunchmen. Hierauf gehen die Negierungen, wie aus der Aenßerung eines BundcS- raths-CommissarS hervorgeht, nicht ein, so lange die Frage nicht ausgcreift ist; bei einer späteren Berathung würde sich an praktischen Fingerzeigen mehr ergeben haben, als gestern, wo die Abgeordneten zerstreut waren, ein Umstand, unter dem auch eine verfassungsrechtlich nicht uninteressante Petition wegen einer Officierspeiseanstalt zu leiden batte. Doch wird diese Angelegenheit, da sie in die Budgetcommission verwiesen wurde, daS Hans nochmals beschäftigen. Die geringe Antheilnahme an den Verhandlungen war den Abgeordneten gestern nicht zu verargen. Man war nach Monaten zum ersten Male wieder beisammen und befand sich vor der schweren Aufgabe, Vieles, Vieles zu erzählen und zu er örtern, auch Manches, was daS Hobe HauS nicht formell an geht, wie z. B. die bevorstehende Kaiserreise, deren, wie es scheint, beschlossene kurze Dauer nach Allem, was man hört, höchst beifällig besprochen wurde. Vor der Sitzung hatten zunächst mehrere große Fractionen ihre An- trittSberalhungen gehabt, denen, wie gemeldet, eine Verhandlung des Senioren-Convents gefolgt war, aus der wir zwei beachtenswerthe Dinge berichtet haben: erstens, daß vielleicht der Etat dem Hause erst nach der Weihnachtspause zugeht, was vielleicht mit der Absicht zu erklären wäre, die erste Gelegenheit, die Marinefrage zu erörtern, nicht allzu früh vor der Einbringung einer Marinevorlage oder eines FlottenplanS eintreten zu lasten; zweitens, daß die zweite Lesung des Arbeitswilligen gesetzes demnächst vorgenommen werden soll. Damit käme man thatsächlich trotz res etwaigen Zurückbehaltens des Etats sehr bald in den Mittelpunkt der Schwierigkeiten. Die „Berliner Neuest. Nachr", das Organ des Herrn Krupp, construiren heute einen Zusammenhang zwischen Arbeitsschutz gesetz und Flotte, die „Nationalztg." protestirt gegen ein etwaiges Vorhaben, die Marincangelegenheit zur „Ver tuschung des ConflictcS mit dem Agrarconservatiömus" zu benutzen, bringt also die Flottcnfrage in ein Abhängigkeits- verhältniß zur Canalsache, wogegen wiederum die „B. N. N." Verwahrung einlegen — eine vielversprechende Complication. Herr Eugen Richter hat sich, wie schon kurz berichtet,am Sonn tag aus irgend einem Anlaß in seinem Wahlkreise Hagen feiern lasten. Trotz einem gut functivnirenden Ankündigungsapparat vermochte der Vorfall kein Aufsehen zu erregen. Außer der zurCour befohlenen eigenen Presse waren als Gratulanten nur Zeitungen des Centrums erschienen. Die Partei hat dem Manne aller dings für manchen an ReichSfreunden und Liberalen ver richteten guten HenkerSdienst zu danken. Bei der Gelegenheit sprach Herr Richter auch über „sein" Verhältniß zu Bis marck, und nach der „Voss. Ztg." sprach er wirklich so, wie man uns berichtete, nämlich: Man habe es so dargcstellt, als ob er systematisch Opposition gegen den Fürsten Bismarck getrieben habe, als ob er ein persön licher Gegner Bismarck's gewesen sei. Nichts ist falscher als das. Bis 1876 waren wir Förderer der Bismarck'schen Politik. „Als er aber seine Zollpolitik änderte, La kamen wir", bemerkt Redner, „in die Lage, den alten Bismarck gegen Len neuen Bismarck zu ver treten. Fürst Bismarck ist von uns geschieden, und ich kann sagen, mir fehlt jetzt etwas im Reichstage, denn die kleinen Geister auf der Rechten und die jetzigen Minister können mir den Fürsten Bismarck nicht ersetzen (!), so sehr sie sich auch recken und strecken." Wenn das Wort: „Die Lüge ist ein Compliment, daS daS Laster der Tugend macht", jemals zutreffend gewesen, so gilt es von dem, was in diesen Behauptungen als historisch hin genommen werden soll. Sie beweisen weiter nichts, als daß man selbst vor den Freisinnigen in Hagen, den Bestgezogencn im Reiche, seine Vergangenheit verleugnen muß, wenn sie ein Verhalten gegen den Fürsten Biöniarck auszeigt, wie eS Herrn Richter belastet. Doch ist nicht ganz klar, was er eigentlich dem Gedächlniß seiner Getreuen zumuthen wollte. Sollten die Hagener sich nicht mehr erinnern, daß Fürst Bismarck vor 1876 noch eine andere Politik als Zollpolitik gemacht hat, oder war vorausgesetzt, daß die Hörer vergessen hätten, daß Herr Richter dem Fürsten Bismarck nahezu in Allem außer der Wirthickaftspolitik auch vor 1876 entgegen getreten ist? Die Wirtschaftspolitik des ersten Kanzlers bis zu diesem Jahre war nichts ihm Eigenes, er conservirte entweder Vorgefundenes, oder er setzte die fast allgemein herrschenden WirthschaftSlebrcn in Gesetze um, wie eS jeder Andere gethan hätte. „Daneben" aber hat Bismarck vor 1876 Deutschland geeinigt und Herr Richter hatte gegen die Einigung, gegen die Reichs Verfassung gestimmt; Fürst Bis marck hatte die Heeresgesetzgebung den neuen Zuständen an gepaßt, waS nicht geschehen wäre, wenn eS aus Herrn Nichter'S Agitation und Abstimmung angekommen wäre. Und wäre eS hierauf angeksmmrn, so besäße Deutschland auch daS 1879 in Kraft getretene, aber vorher beschlossene gemeinsame Gerichtsverfahren nicht. Diese Beispiele ließen sich ins Unendliche vermehren für die Zeit vor 1876, und nach diesem Jahre hat Bismarck auch noch manches Andere als Zollpolitik getrieben, nichts jedoch, ohne Herrn Richter auf der Seite seiner Gegner zu finden. Und unter diesen war er der gehässigste persönliche Gegner, was er jetzt am angelegentlichsten in Vergessenheit zu bringen wünscht. Seine Angriffe waren nur persönlich, er schreckte selbst vor der Verunglimpfung von Familienangehörigen, vor der Unter stellung unlauterer, selbstischer Absichten nicht zurück, und noch als die Stellung des ersten Reichskanzlers aus Ursachen, die Jedermann bekannt waren, erschüttert war, schrieb Herr Richter, Fürst Bismarck sei in Folge zu starken Cognac- genusseS zu der Weiterbekleidung seiner Aemter unfähig. So widrig dies Alles gewesen, so ist doch noch widerwärtiger, daß dieser politische Bankrotteur, um die ConcurSanmeldung hinauszuschieben, ein wenig Credit bei dem Andenken deS tödtlich Gehaßten und — soviel eS die Kräfte er laubten — Verfolgten aufnimmt. Freilich, Herr Richter träumt von ausgiebigem Credit. Seine Selbstüber schätzung gestattet ihm nicht, die Lächerlichkeit zu er kennen, die in der Gleichstellung mit Bismarck als mit einem andern großen Geiste und in der Klage über das Fehlen eines ihm allein Ebenbürtigen liegt. Die Schätzung beruhte bekanntlich nicht auf Gegenseitigkeit. Richter fehlte „Bismarck" nie, der Kanzler verließ gewöhnlich den Reichstag, wenn Richter zu sprechen anfing, da er er kannte, daß eS sich mit einem niemals von einem eigenen politischen Gedanken geplagten, von keiner Ueberzeugung ge leiteten oder von keinem staatlichen Wollen beseelten Rabulisten deS Streitens nicht verlohne. Und selbst in Hagen wird man sich deS Lachens nicht erwehrt haben, wie der Zwerg sich „reckte und streckte", um sich daS geistige Maß eines Bismarck zu geben. Die Bilanz der Politik des EabinctS WaUlcck- Nousscau, wie sie beim Beginn der Wintertagung der fran zösischen Kammern von den verschiedenen Parteiorganen ge zogen wird, befriedigt eigentlich Niemanden. Den Freunden der Republik ist Herr Waldeck-Rousseau zu lau, den Feinden zu scharf. Man sollte hiernach annehmen, daß der Conseilsvorsitzcnde gerade das Rechte getroffen hat, indem er sich auf einer mittleren Linie bewegt. So lange den parlamentarischen Ränkeschmieden keine Gelegenheit ge geben war, durch ihre Quertreibereien den Gang der Ne- gierungsthätigkeil zu hemmen, hat sich die Methode des Herrn Waldeck-Rousseau den Anforderungen der politischen Situation gewachsen gezeigt. Um es auch fernerhin zu bleiben, wird das Ministerium sich aber nicht auf die reine Defensive beschränken dürfen, sondern wird auch gelegentlich angriffsweise vorgehen müssen. Sein ernstestes Augenmerk verdient natürlich nach wie vor die monarchistische Verschwörung, deren Fäden nur erst zum Tbeil bloßgelcgt sind. Daneben aber dürfen auch die socialdemokratischen Umstnrzmachinationen nicht un beaufsichtigt bleiben, denn wenn die große Masse deö erwerb- lich thätigen französischen Volkes auch von einem orleani- stischen Staatsstreich nichts wissen will, so erwartet sie von der Regierung doch ebenso bestimmt, daß sic das Land gegen die Folgen schütze, welche das parlamentarische Spielen mit dem Feuer der proletarischen Revolution nach sich ziehen könnte. Wenn daS Cabinet ein in sich gleichartiges und geschloffenes wäre, so würde es das Vertrauen der öffentlichen Meinung in ganz anderem Maße genießen als jetzt, wo eS eine Anzahl gar nicht zusammen passender Mit glieder äußerlich vereinigt und bei jeder Action, die eS unter nimmt, mindestens ebenso sehr an seine eigene Sicherheit als an vaS Wohl deS Staates denken muß. Die Interpellationen, denen Herr Waldeck-Rousseau Stand zu ballen haben wird, stellen den inneren Zusammenhalt des CabinetS auf eine schwere Probe, und aus der Ungewißheit, ob es dieselbe be stehen wird, erklärt sich der Ton deS Zweifels, der aus allen Kundgebungen der Pariser Parteiorgane über die Lage der Dinge bei Beginn des parlamentarischen Herbstfeldzuges spricht. Die von manchen Seiten gehegte Annahme, die Ver stärkung der amcrikanifchcn Kriegsflotte bei Manila habe den Zweck, England in Ostasien zu unterstütze», wird jetzt von dem Washingtoner „Star", dem anerkannten Hauptorgan der Mac Kinley'schen Regierung, freimüthig bestätigt. Das Blatt führt aus, daß die nach Manila ge schickten Schlacht- nnd Panzerschiffe im Kriege mit den Philippinern nur geringe Dinge leisten könnten, und schreibt dann: „Diese Flottenverstärkung erfolgt im Einklang mit den Forderungen einer weitsichtigeren Politik, als cs die bloße Unterwerfung der Philippiner ist. Die Regierung hat die Absicht, auf der asiatischen Station eine größere Flotte anzu sammeln, wie sie in jenen Gewässern irgend eine Macht mit Ausnahme von England besitzt. Rußland wird seine Flotte bedeutend verstärken, allein England und die Vereinigten Staaten werden über Seestreitkräste verfügen, die allen anderen zusammengcnommeu gewachsen sind. Als Herr Hay, der Nachfolger des Herrn Day, Staatssekretär wurde, übernahm er seine Pflichten, durchdrungen von dem Ge danken, freundschaftlich mit England zusammenzuwirken, um die gemeinsamen Interessen beider Länder gegen die drohenden Anmaßungen anderer Länder zu schützen." Genau in demselben Sinne hat sich ein Bundessenator, dessen Name zwar verschwiegen wird, von dem man aber weiß, daß er ein einflußreiches Mitglied des Senats- AuSschusses für auswärtige Angelegenheiten ist, ausgesprochen. Der Senator sagte u. A.: „Wir müssen unsere Flotte bei Manila verstärken, um nicht gegen andere Mächte im Nach tbeile zu sein. So verstärkt z. B. Rußland seine Flotte gegen wärtig, und man weiß, welche Absichten diese Macht auf Cbina bat. Frankreich bat auch ein starkes Geschwader dort, Deutschland ebenfalls. Sollte eine europäische Coalition gegen England im Orient zu Stande kommen, so wäre es unsere Pflicht, uns ohne Zögern auf Englands Seite zu stellen. Es muß also dafür gesorgt werden, daß die Flotten Eng lands und der Vereinigten Staaten im Orient zu sammen mindestens ebenso stark sind, wie die aller anderen Mächte zusammen. Unsere Expansionspolitik ist nocb lange nicht entwickelt» und es ist schwer gewesen, den Präsidenten zn überzeugen, daß unsere Interessen viel weiter als nach den Philippinen reichen und wir bereit sein müssen, sie zu vertheidigen, oder aggressiv für sie einzutreten. Von einem Fallenlaffen dieser Politik zu reden, ist lächerlich oder viel mehr feige. Vorwärts ist die Losung." Wenn der Senator- Recht bat, so bestände allerdings ein englisch-amerikanisches Bündniß, obwohl die republikanischen Wablredner im Westen bemüht gewesen sind, die deutschen und irländischen Wähler vom Gegcntheil zu überzeugen. Vom Kriegsschauplätze erfahren wir auch heute nicht viel Neues. Wir lassen das Wenige hier folgen: * Kapstadt, 14. November. Die Transportschiffe „Harleh Castle" und „Carisbrook Castle" sind mit Truppen gestern hier eingetroffen. * London» 14. November. Das Kriegsmlnisterium bezeichnet die Blättermeldung, daß Präsident Krüger gedroht habe, in Pre toria gefangen gehaltene britische Officiere erschießen zu lassen, falls die Engländer einen gefangenen Spion der Boeren erschießen würden, als absurd. — Zum Commandeur der 5. Division, die jetzt für den Dienst in Südafrika mobil gemacht wird, ist General Sir Charles Warren ernannt worden, der bereits Erfahrungen in der Kriegführung in Südafrika besitzt. * London, 15. November. (Telegramm.) Tie „Times" berichten aus Mafeking unter dem 31. v. M.: General Cronje beklagte sich darüber» daß die Flagge des Rothen Kreuzes I von mehreren Gebäuden der Stadt zugleich wehe, Laß Dynamit- Iminen gelegt seien, und Laß Eingeborene wider die Weißen I verwendet würden. Baden-Powell erwiderte, Mafeking habe Fsuilletsn. Das Pflegekind. Roman von Elsbeth Meyer-Förster. Siacbtruck vrrbotrn. „In Nettchen's Todesstunde trink' ich keinen Kaffee nicht", brach sie hervor. „Meine Ahnung trügt mich nicht, Marie. Die kommt nicht heil wieder 'runter von dort oben. Ich hab's die Nacht im Traume gesehn. Mit zerschmettertem Kopf lag sie da — die wilde, schlechte Mariell." Paul saß mit zusammengepreßten Lippen. Sein Blick hing au dem in der Sonne grell flimmernden Ballon. „Sie sagt doch, daß die Probefahrt ihr gut gelungen war", begann Frau Brinkmann mit leiser, angstvoller Stimme. „Es wäre ihr wohl erst gruslig gewesen, wie sie zwei Kirchthürme hoch über der Erde den Fallschirm hatte ergreifen sollen — aber da hat sic die Augen rasch geschloffen und krampfhaft fest gehalten, und wie im Fieber hat sie geschrien — „los!!" und da hat sie nichts mehr gefühlt, als daß sie sich von der Gondel entfernte und langsam, wie auf Flügeln, hinabgeschwebt ist, bis ihre Füße den Boden berührten." „Aber es sollte polizeilicherseits verboten sein!" rief Pauk, indem er aufsprang und förmlich die Hände rang. „Der an dem Fallschirm schwebende Mensch kann unterwegs schwindlig werden — die Kraft kann ihn verlassen" „Oder vor allen Dingen, der Mechanismus an dem Dinge versagt, wie ich es seinerzeit einmal in München in Bayern aus der Vogelwiese miterlebt habe", mengte sich hier ein unter setzter, kleiner Mann in's Gespräch, der am Nebentisch« gesessen und bereits mehrere Seidel sehr eilig heruntergegossen hatte, „da war der Casus dieser, daß der Schirm, der anfänglich ge faltet ist, sich durch den Widerstand der Luft nicht öffnen ließ, sondern zusammengeklappt blieb, so daß er pfeilschnell die 800 Meter hinab in die Tiefe schoß" „Halten Sie ein, lieber Herr!" rief Frau Brinkmann, indem sie zitternd ihre Hand auf den Arm des Fremden legte. „Sie sehen, der alten Dame meiner Mutter, wird schwach. O mein Gott", setzte sie hinzu, „warum muffen wir diesen Tag erleben. Das junge Mädchen, das Sie auf dem Bilde sehen, ist unser Pflegekind. Man giebt sie für eine Türkin aus, man knüpft Lügen an ihre Person und Vergangenheit — und wir stehen machtlos dabei und können sie nicht zurückhalten vor dem Ver derben —, sie hat sich losgesagt von dem Einfluß, von dem Schutz der Ihrigen." Ein lauter Böllerschuß unterbrach diesen ersten Redestrom des bedrückten Mutterherzens. „Es geht los", sagte der kleine Mann, der mit neugierig-dummdreister Theilnahme dieser Er öffnung gefolgt war und nun näher, wie ein Zugehöriger, an den Tisch heranrückte. „Da ist nichts zu machen, meine liebe Ma dam'. Sehen Sic hin, da tritt das Fräulein aus dem Artisten raum. Horchen Sie, wie man Hurrah schreit. Steigen Sie auf den Tisch, Frau Großmama, und stützen Sie sich nur auf mich. Ei, ei, ei, seht! Niedlich ist sie ja, die kleine Türkin vom Strande der Panke. Aber sehen Sie blos, wie sonderbar! Warum besteigt sie die Gondel nicht? Der Herr da, der sie am Arm erfaßt und sie so elegant hineinnöthigt, das ist Herr Hasemann. Was redet er denn auf sie ein? Sehen Sie nur, sehen Sie! Sie will nicht! Sie schüttelt den Kopf. Schauen Sie blos um Alles in der Welt, wie roth sie ist! Wie sie zittert, sehen Sie doch! Sie will nicht! Sie wehrt sich! Was sagt er denn, was schimpft er denn auf sie ein? Wie er keucht, wie er pustet, und sie nur immer „nein!" und wieder „nein" und nochmals — und schüttelt wie wild den Kopf —, und da fängt man auch schon an unruhig zu werden im Publicum — horchen Sie blos das Johlen — und das Trampeln — Kinder — da muß ich hin." Auch Paul war fortgestllrzt, beinah rascher noch als der kleine Mann, der vor Hast gegen alle Tische taumelte. Fast das gesammte Publicum hatte sich zu der Stelle hingedrängt, von der aus das Schauspiel des Aufstiegs erfolgen sollte, und ein dumpfes Gemurmel, das wie das Geräusch empörter Wellen klang, aber von johlenden, zischenden Stimmen in kurzen Zwischenräumen unterbrochen wurde, pflanzte sich über die Köpfe des Menschen knäuels fort. Im Jnnenpunct dieser Ansammlung, auf dem abgegrenzten Raum, der für den Umfang des Ballons abgestcckt war, stand Nettchen, die Aeronautin, im rothen Fez, im rosa Tricot, und zitterte am ganzen Leib wie Espenlaub. Sie stand wie betäubt. Sie begriff nichts, was geschehen war, vor ihren Augen tanzten Erde, Himmel und Ballon, sie sah, wie in Wester Ferne, die tausend höhnischen und grinsenden Gesichter — und sie wußte nur das Eine, daß sie die grausige Fahrt nicht machen könnte, daß dumpfe, bleierne Angst in ihre Seele gezogen war und daß im entscheidenden Augenblick ihre Füße schwer wie Eisen sich gegen das feste und sichere Land stemmten, das sie zu schwindeln der Luftfahrt verlassen sollte. Sie hörte die schimpfende, von Erregung geradezu heisere Stimme des Luftschiffers, dem sie sich verpflichtet hatte, vernahm Worte wie „Niedertracht" — „Schande" — „Blamage vor dem gcsammten Publicum". Sie hörte das Johlen und Hohngelächter der Menge, und angstvoll, wie ein bedrohtes Wild, das ringsum von Jägern umlauert ist, spähte ihr Blick die Menschenmauer auf und nieder, eine Lücke zur Flucht zu entdecken. Plötzlich sah sie eine Gestalt sich durchdrängen, durch den immer verworrener werdenden Knäuel ihr zustrebcn. „Paul!" schrie sie leise auf. Mit einem einzigen, blitzschnellen Sprunge war sie vom Rande der Gondel, stieß «in paar Frauen bei Seite, die sich neugierig bereits über den abgesteckten Kreis gedrängt hatten, und während sic durch die entstandene Lücke in den Knäuel des Publicums schlüpfte, rief sie mit weinender Stimme: „Lassen Sie mich durch. Ich kann nicht mit. Ich habe so viel Angst!!" Jetzt hinderte sie Niemand mehr, neugierig wich Alles zurück, und nur spöttische, ordinäre oder auch mitleidige Scherzworte flogen zu diesem seltsamen Flüchtling hin, dem großen, in Tricot gekleideten Mädchen, dieser imitirten Türkin, der die Hellen Thränen aus den Augen stürzten, während das im hastigen Laufe ihr abgefallene Fez wie ein rother Capuchon auf ihrem Nacken hing. Im selben Augenblicke jedoch ließ der Luftschiffer, der seine Geistesgegenwart wieder gefunden hatte, einen zweiten Böller schuß abgeben, schwang sich auf die Gondel und gab durch ein Schwenken seiner rothen Fahne das Zeichen zur Abfahrt. — Aller Augen richteten sich nach dem aufgeblähten Riesenballe, der langsam, majestätisch in die Höhe zu schweben begann, während der Aeronaut auf dem schmalen Rande der Gondel, in der Schwebe zwischen Himmel und Erde stand, und einen leichten Sprühregen von Sand herniederriescln ließ. Nur Wenige noch weihten ihre Aufmerksamkeit dem jungen Mädchen, das halb ohnmächtig an die Brust eines jungen Mannes gesunken war. Nur der kleine Zettelträger, Nettchen's früherer Berufsgenoffe, hatte kein« Augen für das Ballonschauspiel, mit aufgerissenem Blick betrachtete er die Gruppe. Das Kuchenweib hatte sich an seinen Stand zurückgezogen und wehrte mechanisch den Fliegen, die auf dem türkischen Honig dunkle Schattirungen verursachten. Es kränkte sie, daß Nettchen, ihre eifrigste Kundin, sich diese öffentliche BlLmc zugezogen hatte. Aber die Schießbudendame schwamm in Genugthuung. Bolzen laden ist freilich «in leichter Ding, als per Luftballon durch di« Wolken schießen. — Sie hatte es ja vorausgesagt. Aber hatte man ihr denn geglaubt? Ruhige Tage zogen ein bei der Familie Brinkmann. Nettchen, die an dem verhängnißvollen Tage mit der Familie hcimgekehrt war, schien still und verschlossen. Der Sommer verging, der Winter, ein Jahr neigte sich seinem Ende. Paul war glücklich. Die Unruhe war von ihm gewichen. Nettchen war in seiner Nähe! Sie athmete mit ihm wieder unter demselben Dach! Mehr verlangte er nicht. Die beiden Frauen beriethen längst mit Ruhe die Dinge, die sie kommen sahen: Die beiden jungen Menschen waren heran gewachsen; Paul konnte ohne dieses Mädchen nicht leben. Es war das Richtigste, sie einander zu geben. Unmerklich, von den Frauen auf leise Weise geleitet, ver schob sich das bisherige Verhältniß von Bruder und Schwester, um einem bräutlichen Zustand Platz zu machen. Niemand sprach feierliche oder ceremoniclle Worte aus. Aber die Großmutter und die Mutter begannen schaffend die Hände zu regen, und wenn Paul mit scheuer Befangenheit zwischen Vorbereitungen gerieth, von denen er tbat, als begriff er sie nicht, hieß eS lächelnd: „Hier wird ein kleines Nest gebaut. Es soll ein fremder Herr einziehn mit seinem Weibchen." Zwei Zimmer der Wohnung wurden auf dies« heimlich frohe Weise hergerichtct, mit theilweise neuen Möbeln, frischen Gardinen und manchem modernen Stück, das in den Haushalt einer jungen Ehe paßte. Nur die „Berliner" Stube behielten die beiden Frauen für sich. Nettchen ließ alles stillschweigend geschehen. Sie war äußer lich eine andere geworden, ihr Wesen schien gesittet und still, ihren Straßenkind-Jargon hatte sie abgelegt, von leidenschaft lichen Ausbrüchen hörte und sah man nichts mehr. Wider spruchslos nahm sie die Glückwünsche der wenigen Bekannten entgegen, die bei gelegentlichen Besuchen ihre mit Neu gier gemischte Theilnahme wortreich zum Ausdruck brachten. „Nun sind Sie ein Bräutchen, Kleine", sagte eine der Haus- freundinnen, die seinerzeit so stark um das Wohl d«s anscheinend so sehr zurückqeseh:«n Pflegekindes besorgt gewesen war, „nun werden Sie keine Gelegenheit mehr haben, mit einem Ballon in die Wolken zu fliegen. Der Herr Paul wird sein Frauchen fest am Schürzenband halten, daß es nicht mehr davonflattern kann, etwa nach der Hasenhaide hin, oder sonst an einen Ort, wo sie nicht hingehört." — — Nettchen blickte mit einem seltsamen, starren Ausdruck auf; aber sofort fielen die Lider wieder über ihre Augen. Blitzesgleich waren in diesem Momente verwirrende Bilder an ihrem Blick vorbeigeflogen. Sie sah die Hasenhard«,
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