Suche löschen...
02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 18.11.1899
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1899-11-18
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18991118025
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1899111802
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1899111802
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1899
- Monat1899-11
- Tag1899-11-18
- Monat1899-11
- Jahr1899
- Links
-
Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
Bezugs-Preis kn der Hauptexpedition oder den km Stadt bezirk und den Vororten errichteten Aus gabestellen abgeholt: vierteljährlich^ 4.50, bei zweimaliger täglicher Zustellung ins Haus 5.50. Durch die Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: vierteljährlich 6.—. Directe tägliche Kreuzbandiendung ins Ausland: monatlich 7.50. Die Morgen-Ausgabe erscheint um '/,? Uhr, die Abend-Ausgabe Wochentags um 5 Uhr. Ne-action und Expedition: JohanniSgnssc 8. Die Expedition ist Wochentags ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis Abends 7 Uhr. Filialen: Ltto Klemm s Lortim. (Alfred Hatzum Universitätsslraße 3 (Paulinum), Louis Lösche, Katharinrnstr. 14 Part, und Königsplatz 7. Abend-Ausgabe. MpWcr Tagtblatt Anzeiger. Amtsblatt des königlichen Land- nnd Amtsgerichtes Leipzig, des Mathes und Nolizei-Ämtes der Ltadt Leipzig. Anzeigen-Prei- die 6 gespaltene Petitzeile SO Pfg. . Neclamen unter dem Rrdactioa-strich (4aa- jpalten) 50A, vor den Familieunachrichten (6 gespalten) 40/4- Grötzere Schriften laut unserem Preis- vrrzeichniß. Tabellarischer und Ztsfernsatz »ach höherem Tarif. Extra-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderung ÜO.—, mit Postbefürderung 70.—. Iinnahmeschlnß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Vormittags 10 Uhr. Morgen-AuSgabe: Nachmittag« 4Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Ex-edition zu richten. —-<»»>» - Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. M. Sonnabend den 18. November 1899. 83. Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, 18. November. Nach sehr ausgedehnten und stellenweise auch sehr lebhaften Debatten hat gestern der Reichstag auch über die Ent schädigung der zu depossedirenden Privatpost anstalten Bestimmung getroffen und damit die zweite Lesung der Postvorlage zu Ende geführt. Im Wesentlichen kam eS so, wie eS nach den Beschlüssen in der Commission batte vorausgesehen werden müssen. Mit Hilfe der Social demokraten, die sich in diesem Falle als Regierungstruppe ersten Rangeö erwiesen und deren Redner den Standpunct der Regierung mit besonderem Eifer vertheidigten, wurde eS durckgesetzt, daß der an die Privatbetriebe zu zahlenden Entschädigung eine feste Maximalgrenze gezogen und daö in allen sonstigen Enleignungssachen maßgebende freie richterliche Ermessen über Bord geworfen wurde. Die Zulassung deS ordentlichen Rechtsweges behufs Entscheidung über die Höhe der zu gewährenden Entschädigungen war von nicht weniger als drei Seiten (Süddeutsche Volkspartei, Freisinnige Ber einigung und Eentrum) beantragt worden, begegnete aber von keiner Seite leidenschaftlicherem Widerspruch als gerade von Seiten dec Herren Singer und Stadt hagen, deren Ausführungen wiederum nirgends bei fälliger als vom Staatssekretär deS ReichSpostamtS ausgenommen wurden. Beide socialdemokratischen Redner ließen es sich ganz besonders angelegen sein, die „wobl- erworbenen Neckte" der Privatpostanstalten in Abrede zu stellen und jede Bezugnahme auf die sonst bei „Enteignungen", „Expropriationen" maßgebenden gesetzlichen Bestimmungen für unzulässig zu erklären. Eine Enteignung, so meinte Herr Singer, liege hier gar nicht vor, sondern nur eine „Gewerbe beschränkung", zu der der Staat, beziehungsweise das Reich sich jeder Zeit befugt gefühlt babe, ohne sich jemals zu einer Entschädigung verpflichtet gefühlt zu haben. Und der Herr Stadthagen fügte gleich haufenweise „Beispiele" hinzu zum Beweis, wie wenig Ätaat und Reich sonst zu Entschädigungen geneigt seien. Er erinnerte an die „Expropriation" deS Helgoländer Pastors, dem seine ganz besonderen und ab sonderlichen Eheschließungs-Rechte ohne jedwede Abfindung genommen worden seien. Und weiter bezog er sich auf die zum Nachtheil Unzähliger dem Hausirbetrieb auferlegten Be schränkungen, für die ebenfalls ein Entgelt nicht gezahlt worden sei. Beide Herren, und mit ihnen der Herr Staats sekretär, vergaßen, daß eine Gewerbebeschränkung doch noch etwas ganz Anderes ist, als eine Enteignung, bei der der enteignende Staat dem Exproprialen seinen Betrieb weg nimmt, um ihn — nicht etwa gänzlich auS der Well zu schaffen, sondern ihn in eigene Ausübung zu übernehmen! Das Ende vom Liede war, daß an den Beschlüßen der Com mission nur die eine wesentliche Aenderung vorgenommenwurde: das den Privatpostanstalten zu gewährende EnlschädigungS- Maximum von dem Achtfachen des Durchschnitts-Reingewinnes der drei Geschäftsjahre 96—98 auf daS Zehnfache zu erhöben. Eine andere Aenderung, welche an den Commissions- bescklüfsen noch vorgenommen wurde, sieht bedeutsamer aus, als sie in Wirklichkeit ist. Sind nämlich die Entschädigungs berechtigten mit der Postbchörde uneins darüber, was ihnen gewährt werden muß, so soll nicht ein Schiedsgericht (von ReichSgerichlsräthen) entscheiden, sondern der ordentliche Richter. Von irgend welcher Bedeutung ist, wie gesagt, diese Abänderung nicht, denn auf alle Fälle hat ja der Richter nicht völlig freie Hand, sondern er bleibt jeder Zeil gebunden an das gesetzlich festgelegte EntschädigungS-Maximum. — Heute kommt die Ferusprechgebührenordnung zur Berathung. Obwohl der „Vorwärts" und andere socialdemokratisch- gouvernementale Preßorgane sich nach dem hannoverschen Parteitage „einen andern DiScurS auSbaten", konnte es keinen Augenblick zweifelhaft erscheinen, daß der Prtncipicn- kampf zwischen «er soeialtstischen Orthodoxie und der Vernstein'schen Lehre alsbald wieder werde aufgenommen werden. DaS ist jetzt geschehen. Natürlich nicht seitens der Hohen priester des von Marx geoffenbarten Glaubens, die froh sind, wenn man sie in Ruhe läßt, sondern von den Ketzern, vr. David, der in Hannover von Bebel persönlich so hart mitgenomme, hat offenbar nicht den Muth verloren, sondern nur etwas Äthern geholt. Er gebt in der „Socialistischen Monatsschrift" mit Bebel unerbittlich ins Gericht und reclamirt schließlich diesen Hauptgegner als Zeugen für Bern stein. Nach seiner auch von Outsiders geldeilten Meinung ist auf dem letzten Parteitage das Elend der Verelendungs theorie so offensichtlich geworden, daß Niemand mehr an dieses „Mätzchen" geglaubt haben wollte. Auch hinsichtlich der Krisentheorie habe sich berausgestellt, daß sie selbst einer Krisis verfallen sei, auch die ZusammenbruckSlehre sei aufs Schwerste compromittirt worden, und der ergötzliche Klad deradatsch deS Kladderadatsch habe dieser Illusion den Nest gegeben, vr. David bezeichnet die ersten vier Absätze deS Erfurter Parteiprogramms als ein „Gemis ch von Wah rheit und Dichtung, Tbatsachen und Hypothesen, Problemen und Prophezeiungen." Bebel habe eine Erklärung des wirklichen Endziels dahin gegeben: die größtmögliche Wohlfahrt Aller. Diesem Endziele habe sich Alles unterzuordnen, selbst das socialistische Princip. Und selbst daS socialistische Wirth- sck aftSprincip, so betont David, müßte sich „Einschränkungen nach Zeit, Art und Umfang seiner Durchführung gefallen lassen, wenn wir eines Tages zu der Ueberzeugung kämen, daß seine radikale Durchführung nicht oder noch nickt der größt möglichen Wohlfahrt Aller diene. Die Gesellschaft selbst steht uns höher, als ihre Form — daS sagt daS Bebel'schc Endziel." Zu der Ueberzeugung von der Unvurchführbarkeit deS „Prin- cipeö" sind die Herren, von einigen Schwärmern abgesehen, alle bereits gekommen. Der Umstand, daß selbst Or. David das nicht zugeben darf, ist eine Stütze der Ansicht, daß der Krisis, in die die Socialdemokratie offenbar eingetreten ist, noch auf geraume Zeit kein Einfluß auf die Stellung des Staates und der Gesellschaft gegenüber der Partei eingeräumt werden darf. Daß es aber überall zu bröckeln beginnt, läßt sich nicht verkennen. Selbst der be rühmte Grundsatz: „Religion ist Privatsache" Hal soeben eine schnöde Verleugnung erfahren. Nickt im Sinne einer atheistischen Propaganda, das ist nichts Neue«, sondern zumZwecke der Unter scheidung unter den verschiedenen.Confessionen. In Schwabach in Mittelfranken ist am Montag der Delegirte vom letzten Parteitage Roßkopf-Nürnberg nach einem Berichte des frei sinnigen „Fränk. Cour." gegen die der israelitischen Religion angehörigen Parteigrößen zu Felde gezogen. „Nichts Heiliges ist mehr, eS lösen sich alle Bande frommer Scheu." Roßkopf bekannte sich im Uebrigen zu Bernstein und nannte den Hinweis auf einen bestimmten Zeitpunkt, an dem die Zu- sammenbruckStheorie in die Praxis übergeführt werde, „ein Verbrechen an der arbeitenden Classe". In London haben die letzten Nachrichten vom Kriegs schauplätze natürlich üble Laune verursacht. Man war ob der SiegeSbulletinS de- KriegSamteS in so gehobener Stim mung, die früheren „Schlappen" waren vergessen, sie waren ja längst wieder auSgewetzt und vollauf wett gemacht, die Entsatzarmee wußte man unterwegs nach Natal, und Lady smith hielt sich immer noch, man konnte sich also in den schönsten Hoffnungen wiegen — und nun auf einmal wieder Hiobspost auf Hiobspost! Wieder ein Panzerzug weggenom men, wieder eine erhebliche Anzahl englischer Truppen den Boeren in die Hande gefallen und vor Allem that- sächlicke, nicht mehr abzuleugnende Avancen der Boeren südlich von Ladysmith, der Feind schon vor den Thoren Estcourts, die Engländer bereit, den Platz zu räumen. Die kalte Touche war zu stark, maliciös stark, und so ist denn wieder Alles verstimmt, ungebalten gegen die Leitung deS Krieges. Ein Londoner Blatt schreibt: „Die ermunternden Berichte aus Ladysmith über erfolgreiche ÄuSsälle der Besatzung und schwere Niederlagen der Boeren, die schließlich nur Gerüchte ohne amtliche Bestätigung bleiben, entschädigen nicht für die unbefriedigende Kunde, daß noch mehr von unseren Leuten durch höhere Feindeslist wenige Meilen von Estcourt abzescknitten worden sind und sich nunmehr unterwegs nach Pretoria be finden, um die bereits große Anzahl der britischen Ge fangenen daselbst zu verstärken." Es wird uns noch ge meldet: * London, 18. November. (Telegramm.) Tie „Times" berichten aus Lonrcnvo-MarqneS: 4000 Boeren haben sich mit dem Kommando t» Estcourt ver einigt, um Ser britischcni-tttsatzcolonne BnUer's entgegcnzutretktt. Eine Ser Brücken über Sen Tngcla ist zerstört. Wenn unser Londoner Correspondent recht unterrichtet ist, stehen die Boeren nicht bloß »mittelbar vor Estcourt, sondern bereits auf dem Marsche nach Pietermaritzburg. Uns wird hierüber gemeldet: ?. LonSon, 17. November. (Privattelegramm.) 2« Durban herrscht grotze Panik insolge Seo allseitig gemeldeten Borrnckcns der Boeren. 6000 Boeren avanciren von Ltanger längs der Küste und 3000 Boeren bedrohen sic Verbindung mit Marttz- -nra. Andere Kommandos werden westlich und östlich von Moritzburg gemeldet. Ter Angriff ans Ssteonrt hat begonnen. Ei» Freiwilligcncorps wurde dort abgeschnitten. Joubert ist angeblich vor Maritzbnrg eingctroffen. (Wdrhlt.) Auch die Bahnstationen Westen und Howick zwischen Estcourt und Pietermaritzburg sollen von den Boeren besetzt und Greytown, welches die Landstraße von Ladysmith nach Durban beherrscht, in ihrer Gewalt sein. Von großem Belang wäre, wenn die Boeren wirklich schon bei Stanger, unweit der Küste, nordöstlich von Durban, angekommen wären; dort wären sie in unmittelbarer Nähe von Verulam, der vorläufigen Endstation der Eisenbahn Durban-Tugela-Mündung und so im Stande, Durban auch von Norden her zu bedrohen. Daß die Engländer in ganz Natal ebenso wie im Zululanve der Bevölkerung nicht sicher sind, hoben wir schon hervor. Unsere Auffassung finket Bestätigung in folgenden Meldungen: * Turban, 17. November. (Reuter's Bureau.) Drei Leute, welche Beute aus englischen Läden und Gegenstände, die britischen Soldaten gehörten, sortsckleppten, wurden im Weenen- District von englischen Patrouillen festgenommen. Man glaubt, daß es sich um Spione handelt. Die vom Mooi- River gekommenen Afrikander sind in Pietermaritzburg verhaftet worden, weil sie sich entgegen den Bestimmungen des KriegsrechtS keine Certificate als Nichtortsansässige beschafft hatten. Die Afrikander gaben an, daß ihnen diese Vorschrift nicht bekannt gewesen sei, wurden aber doch der Militärbehörde übergeben. Sie sind der Ansicht, daß man sie schlecht be handelt habe, weil man ihnen nicht gestattete, Bürgschaft zu stellen. — Die „Time- of Natal" veröffentlichen eine Depesche ihres Correspondenten in Nondwene, welcher sich bitter darüber beklagt, daß die britischen Bewohnerdes Zulu landes ihrem Schicksale überlassen seien. Die Läden in der Nachbarschaft würden geplündert und die Einwohner von den Boeren gefangen genommen. DaS Benehmen der Eingeborenen werde unverschämt, da sich die Engländer nicht helfen könnten. Man befürchte, daß die Feindseligkeit der Eingeborenen gegen die Engländer noch schärfer hervortreten werde. Es ist begreiflich, daß auf so unsicherem Terrain, inmitten einer den Englänvern zum mindesten nicht freundlichen Bevölkerung kriegerische Operationen mit den größten Schwierigkeiten verbunden sind. Auch nördlich vom Zululande, auf portu» giesischem Gebiete, begegnen die Boeren großem Entgegen kommen. So hat der Direktor der Eisenbahn von Lourcntzo-Margues nach Pretoria, von den Wall Bake, einem Mitarbeiter des „TempS" Mittheilunzen über die Tbaligkeit der Bahngesellsckafl im Kriege gemacht, nach denen die Bahn der Republik „glänzende Dienste" bei der Beförderung von Kriegsmaterial und Dorräthen aller Art geleistet. Zeder an der Bahn angestellte Weiße sei ein Holländer. Es gebe deren 2214 — lauter zuverlässige Leute, die mit Eifer für die Boeren wirken. — Die Frage, ob Ladysmith bereits gefallen sei, erscheint jetzt, wo die Boeren außer Colenso auch die Höben vor Estcourt besetzt und die Bahnverbindung an verschiedenen Stellen unter brochen haben, ein rasches Vordringen der eng lischen Entsatzarmee also unmöglich ist, nicht mehr von so hervorragender Bedeutung wie vor einigen Tagen. Von zwei Seilen, auch aus Pretoria, wird berichtet, daß Donners tag, 16. November, noch südlich von Ladysmith rin Kampf stattzefuoden hat, bei welchem die Engländer gezwungen wurden, fick auf einen Hügel in der Nähe der Stadt zurück- zuziebeu. Und weiter wird unS gemeldet: * LonSon, 18. November. (Telegramm.) Die „Times' berichten auS Louren^o-MarqueS unter dem gestrigen Tage: Nach Nachrichten aus Ladysmith vom 16. d. M. wird die Stadt Tag und Nacht beschossen und ist hart bedrängt. Demnach ist die Situation noch unverändert dieselbe: Wbite lagert südlich vor der Stadt und macht noch immer verzweifelte Versuche, durckzubrechen. Eine Capitulation kann also bis Freitag Wohl nickt erfolgt sein. Dieselbe wird aber nicht mehr lange auf sich warten lassen, zumal wenn White Kunde davon erhält, daß er, nach Süden vollständig abgescknitten, in der Falle sitzt und weiterer Widerstand zwecklos ist. — Ueber ein am Donnerstag bei Ladysmith stattgefundenes Gefecht und einige« Weitere berichten wir unter „Afrika". Deutsches Reich. U Berlin, 17. November. Der Central verband deutscher Industrieller hielt heute im Kaiserhof zu Berlin eine Delegirten-Versammlung ab, um zu dem Gesetz entwürfe, betreffend den Schutz des gewerblichen Arbeits verhältnisses, Stellung zu nehmen. Die Versammlung war zahlreich auS allen Theilen Deutschlands besucht. Geh. Fmanzrath Zencke eröffnete in Vertretung des erkrankten ersten Vorsitzenden ReichSrathS von Haßler die Sitzung mit H-ttilletsn. 71 Das Pflegekind. Roman von Elsbeth Meyer-Förster. SiaLdiuck verboten. Auf dem Hofe war es still. Von der Straße her tönt« ab und zu das gedämpfte Raffeln eines Wagens, oder der wuch tige Schritt des patroullirenden Nachtwächters. „Um elf Uhr kommt Herr Neumann zu Haus, unser Vice- Wirth, der beim Telegraphendienste ist", sagte Johanne aber mals aus der Wäsche heraus. „Dann schließt er das Haus- thor." „Also werde ich gehen", entgegnete Paul. Langsam erhob er sich. Ihm war, als hielten ihn tausend und abermals tausend feine, eiserne Klammern an diesem rohen Stück Holz, auf dem er gesessen und Johann« zugeschaut hatte, fest. Er würde gehen, und damit war alles zwischen ihm und ihr für ewige Zeit vorüber. Sie hatte ihn nicht anhören wollen. Nicht mit einer Silbe kam sie ihm entgegen. Ein Groll, so verzehrend, wie er ihn noch nie gekannt, stieg in ihm auf. Mit einem kurzen Abfchiedswort wollte er an ihr vorbei. Da fiel ihm ein, daß er ohne ihre Hilfe ja nicht aus dem Hause könne. Wie ein Don Juan, der ein Stelldichein sucht, hatt« er sich auf versteckten Wegen zu ihr geschlichen. Er wandte sich nach ihr um. Aber vor dem rührenden Bilde, das er erblickte, wurde sein grollender Ausdruck weich und mit leidig. Da stand sie auf den Zehen, dir Brust fest an den Rand des Bottichs gedrückt. In ihren Kinderarmen hielt sie ein Wäschestück, ein Laken, das sie auszuringen suchte, und da- wie eine aufgequollene Riesenschlange über den Rand der Wanne hinuntcrhing, wo es Ströme von Flüssigkeit vergoß. Im Augenblick war Paul an der Wanne. „Lassen Sie mich helfen, das können Sie nicht allein!" rief er aus. Und in dem er mit festen Händen die aufgequollene Rolle zusammen- dcehte, fügte er mitleidig hinzu: „Mit diesen Kinderfingerchen!" Johanne hatte im ersten Erstaunen da- Wäschestück los gelassen. Jetzt griff sie mit angstvoller Hast darnach. „Nein, nein!" stieß sie hervor. „Sie dürfen nicht, Herr Paul. Geben Sie her, was thun Sie denn?" Ganz verzweifelt riß sie an dem schweren Stück, das Paul mit so raschen Bewegungen auszuringen begann. Plötzlich — wie war es gekommen? Hatte sie ihr Händchen nach ihm ausgeftreckt — hatte er sich's genommen? Ueber der feuchten, dicken, weißen Schlange fanden sich ihre Finger. -Johanne!" flüsterte Paul. Er hielt die schmale Arbeitshand fest in der seinen. „Liebe — kleine Johanne!" sagte er. Noch nie hatte Jemand ihren Namen in diesem Ton« aus gesprochen. Sie hob langsam die Lider und blickt« ihn mit thränen- schweren Augen an. „Herr Paul", murmelte sie wie im Traum. Er war schon an ihrer Seite. „Ich habe Sie ja so lieb, Johanne", sagte er. „Darum kam ich her." Es wurde ganz still in dem trüb erhellten Keller raum. Die beiden sehnsüchtigen Hrrzen lehnten eng aneinander. — Schauer einer nie gekannten Seligkeit wogten in Paul's Seele. Zum ersten Male in seinem Dasein fühlte er ein Leben an das seine geschmiegt — ein so hilfesuchendes Leben! Johanne's weicher, seidener Scheitel glänzte dicht vor seinem Blick. Er beugte sich ein wenig vor und drückt« seine Lippen darauf. Aber mit diesem ersten Kuß durchströmte ihn eine Fluth von Wärme. Jetzt fand er ihre Lippen. Und die Tante, die droben in ihrem verriegelten Jungfrauen gemach an schweren Träumen litt, hatte nicht Unrecht, wenn sie zur selben Zeit mit dem Aufschrei „Ein Dieb!" aus ihren Kissen flog. Aber nicht zu ihr war der Dieb gekommen. Unten im Keller hatte er diesen einzigen, diesen kostbarsten Schatz de alten Hauses geraubt. „Herr Neumann, der Bicewirth, kommt nach Haus!" flüsterte Johanne unter Paul'- seligen Küssen hervor. Er gab sie sanft au- seinen Armen frei und schaute sie an. „Wie schön Du bist, Johanne!" sagte er. Ihre Wangen waren roth. In ihren Augen lag ein seliger, beglückter Glanz. „Und Du!" sagt« sie bewundernd. Ja, es war nicht mehr derselbe trübe Paul. Mit unendlich«! Zärtlichkeit betrachtete sie sein Gesicht. Das Knarren eines Schlüssels am Hofthor unterbrach die Stille. „Ich wußte es", flüsterte Johanne. „Ich hörte ihn schon die Straße heraufkommen. Er schließt die Hausthür hinter sich ab. Sie müssen gehen, Herr Paul." „Wer?" fragte er, indem er sie noch einmal an sich zog. „Du!" entgegnete sic. Eine Welt von Glück lag in dem Wort. Dann war Johanne allein. Sie setzte sich auf den Block, auf den Paul sich niedergelassen und ihr zugeschaut hatte. Ihr Sinn war wirr vor Glück. Und sie konnte noch nichts fassen. Nur daS Eine wußte sie, daß sie das dem Geliebten gegebene Versprechen brechen und die angefangene Wäsche trotz allem zu Ende bringen würde. Sie hatte ihm schwören müssen, zu Bett zu gehen und die Sorge um die Wäsche, sowie die Sorge um das ganze bevor stehende „Morgen" ihm zu überlassen, seinem Einschreiten. — Aber mit der Skrupellosigkeit und der Leichtigkeit eines Kindes, für das ein Schwur keine andere Bedeutung hat, als den bittenden Theil für den Augenblick zu beruhigen, eilte sie über dies von Paul so feierlich behandelte Versprechen hinweg. — Es war ja zum letzten Mal, daß sie im Hause der Tante ihre Pflicht tdat! Morgen würden sie sie holen — als kleine Braut! Und bis zum Tage ihrer Hochzeit würde sie bereits bei ihnen leben — bei diesen guten Menschen, di« ihr dankbares Herz jetzt mit anbetender Liebe ikmschloß. Und dann würd« Paul sie küssen wie heute Abend, auf den Mund, auf die Stirn, auf die rothgewaschenen Hände! Zum letzten Male würde sie heute waschen! Und glänzend, schneeweiß sollte es werden. Als der Morgen kam, war es Johanne, als zwitscherten draußen im Hof die Vögel. Sie öffnete das kleine Fenster und horchte entzückt hinaus! Wie schön die Spatzen sangen! Wie laut und hell und melodisch schrie in der Fern« ihr Freund, der Hahn. Alles war schön und melodisch an diesem Morg«n, der stille, kleine, graue Hof, in dem Herrn Neumann's Hosen zum Au-- klopfen auf der Lein« hingen, war voll von phantastischem Leben, überall sah Johanne etwa- blühen, etwa- glänzen und schimmern. Die Wäsche blähte sich auf zu einem seifenschaumbedeckten Berge und Johanne versenkte wieder und wieder ihre Arme hinein. Jetzt hörte si« es fünf Uhr schlagen von der alten Schiffs uhr, die droben im Handarbeitszimmer hing. Wie müde sie war, wie matt im Kreuz, und wie ihr Herz vor Seligkeit bis in alle Himmel schlug. An den Kuppen ihrer Finger hatten sich rothe Striemen gebildet, und sie hob die Hände gegen das Helle Tageslicht und beobachtete den matten, rosigen Schimmer, der durch die frucht; aufgeriebene Haut leuchtete, di« runzlig geworden war vom Waschen, wie ein welkes Rosenblatt. In den Hof war der Müllkutscher eingetreten, stieß mit der eisernen Stake an die gefüllte Abfallkiste und wünschte der einsamen Wäscherin einen „guten Morgen". Johanne sah ihm nach, wie er davonging, Sonnenstäubchen tanzten vor ihren Augen, sie sah nicht den Müllkutschir, sie hörte nur taufend, tausend fröhliche „Guten Morgen!" Und noch immer sangen die Spatzen. Nettchcn war in ein Leben untergetaucht, das so bunt und ver zerrt war, daß cs ihr manchmal schien, das stille, bürgerliche Dasein, welches sie ehedem bei d«n Brinkmann's geführt hatte, sei nur ein Traum gewesen. — Von Ort zu Ort, von Flecken zu Flecken zog si« mit einer Wandertruppe. Nach ihrer Flucht aus dem Brinkmann'schen Hause hatte sic das erste, beste Unterkommen b«i gewöhnlichm Leuten gesucht, um von da aus die Schritte zu einer Artistenlaufbahn einzuleiten. Aber st« mußte einsehen, daß ohne ein festes System auch auf diesem Wege nichts zu erreichen war. Mit lxr bloßen Phantasie war's nicht gethan. Ueberall hieß es: „Was könmn Sie?" Niemand wollte sich an ihrem hübschen Gesicht, ihrem guten Willen und ihrer Aben teuerlust gegnügen lassen. So glühend ih-e Wünsche, ein Metier zu erlernen, auch waren, alle Mittel und jede Gelegenheit, sich »uszubilden, fehlten ihr. Von äußerster Noth bedrängt, schlüpfte sie endlich al- Helfers helferin eines Lachcabinetbesitzers in die erst« sich ihr darbietende vacante Stellung «in. Von da aus avancirte sie zu dem Posten einer Programm verkäuferin im Circus Salomonsky. Sie fand nun Mittel und Wege, bei Gelegenheit kleiner Be stellungen und Aufträge, die si« au-zuführen hatte, in di« ManSg«
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)
- Doppelseitenansicht
- Vorschaubilder
Erste Seite
10 Seiten zurück
Vorherige Seite