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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 20.11.1899
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1899-11-20
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18991120023
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1899112002
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1899112002
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1899
- Monat1899-11
- Tag1899-11-20
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PodbielSki auf oen Hauptgrundsätzen seines Ent wurfs hätten bestehen wollen, so hätte man sich auf langwierige Kämpfe gefaßt machen müssen, und das um so mehr, als einige der zäbesten Dauerredner des Hauses, wie vr. M üller-Saga» uud vr. Dasbach, das Postressort gewissermaßen als ihren Privatsportplatz zu betrachten scheinen. Nun hat sich aber der Staatssekretär mit den Beschlüssen der Commission zufrieden gegeben, die zwar in wichtigen Paragraphen grausame Verheerungen angerichtet, aber im Ganzen doch ein befriedigendes Werk zu Stande gebracht hat. So hatte denn auch das HauS keine Veranlassung, die Abstimmung allzu lange hinzubaltcn. Ter Regierungsentwurf wollte bekanntlich die Gebühren für die Benutzung des Tele phons in eine Grundgebühr und eine Gesprächsgebühr zerlegen. Dieser Neuerung konnte die Commission keinen Geschmack abgewinnen, und das fernsprecheude Publicum wird ihr dankbar dafür sein können, daß sie die einfachere „Bausch-Gebühr" durchgesetzt hat. Diese Gebühr staffelt sich je nach der Zahl der Theiluebmeranschlüsse für jedes Telephon von 80 bis 180 -ckl Die niedrigst« Stufe ist für Netze von nicht über 50, die höchste für solche von 20 000 Tbeilnehmern festgesetzt. Vorläufig kommen hier nur drei Städte, Berlin, Hamburg, Dresden, in Betracht. Man wird ohne Weiteres zugeben, daß die Vortheile, die den Bewohnern der Großstadt auS der Benutzung des Telephons erwachsen, groß genug sind, um eine dreifach stärkere Belastung gegenüber dem Platten Lande und den kleinsten Theilnehmernetzen zu rechtfertigen. Nach dieser Richtung wurden auch kaum Anstände erhoben. Dagegen ließen eS sich einige Redner nicht nehmen, ihre besondere Sorge für das platte Land dadurch zu betbärigen, daß sie eine noch weitere Herabsetzung der niedrigsten Gebühr verlangten. Das Haus konnte sich aber den durchschlagenden Rentabilitäts darlegungen der Postverwaltung nicht verschließen und blieb bei den Beschlüssen der Commission, die der Verwaltung annehmbar erschienen, stehen. Es bleibt noch zu erwähnen, daß der tz 5 der Vorlage in der neuen Form es jedem Theilnehmer freisteUl, an Stelle der Bauschgebühr eine Grundgebühr unv Gesprächsgebühr für mindestens 400 Gespräche jährlich zu zahlen. Die Grundgebühr ist für diese Fälle abgesluft von 00 bis 100 die Gesprächsgebühr beträgt 5 „s für jede Verbindung. Damit ist den meisten Wünschen Rechnung getragen, wenn auch die neue Gebühren ordnung keineswegs als ein Ideal anzuseben ist. Es fehlt eben für die durchgreifende Reform noch eine unumgängliche Vorbedingung, nämlich die Erfindung eines sicher functio- nirenden Gesprächszählers. — Der Entwurf des Gesetzes über die gemeinsamen Rechte der Besitzer von Schuld verschreibungen wurde ebenfalls ziemlich glatt nach den Beschlüssen der Commission erledigt. Das HauS war in Sonnabendkstimmung, zum Reden hatten nur wenige, zum Zuhören noch weniger Abgeordnete Lust. In diesem Augenblicke ist derReichstag in die zweite Be- ratbung des vtcsetzcntwmfs, betr. dcu Schutz SeS gcwcrb- Uchc» Arbeit-Verhältnisse-, und der dazu gestellten Anträge bereits eingetreten. In vorletzter Stunde sind zu den national liberalen noch Anträge der Reichsparlei, die den Namen des Freiherrn von Stumm tragen, hinzugekommen. Ob in letzter Stunde auch noch Vorschläge des CentrumS, darüber liegt zur Zeit noch keine Mittbeilung vor. Die neueste Ausgabe der „Germania" hüllt sich noch in eisiges Schweifen über die eigentlichen Absichten ihrer Partei und beschrankt sich auf die Wiedergabe der auch uns telegraphirten Notiz eines Reporters, wonach die CentrumS- fraction eine engere Commission niedergesetzt hat mit dem Auftrage, ihr, der Fraction, beute detaillirte Anträge vorzu legen. Natürlich glaubt kein Mensch, daß das Centrum nicht schon vor Tagen gewußt habe, was cs in dieser auch politisch wichtigen Angelegenbeit im Reichstage zu thun haben werde. WaS die Vorschläge Stumm anlangt, so haben wir auf ihre von den nationalliberalen Anträgen ab weichenden Bestimmungen,soweit diese in positiver Form hervor treten, bereits aufmerksam gemacht. Diese bestehen in Straf- verschärsungen und in der wichtigen Festsetzung, daß es zur Verfolgung von Ehrverletzungen,Verrusse, klärungen und anderen Antragsvergehen, die im Arbeitskampfe verübt worden sind, keines Antrages deS Verletzten bedürfe. Die Anträge v. Stumm unterscheiden sich jedoch auch noch weiter und zwar principiell von den nationallibcralen. Während diese bekanntlich daS Verbindungsverbot für Vereine aller Art, also nicht bloSderpolitischen, aufbeben und dieCoalitions- freiheit in 8 152 auSdebnen, begnügen sich die Stumm'schen Vorschläge mit der Repression des Mißbrauchs dieser Freiheit, bleiben also hinter der Regierungsvorlage socialpolitisch zu rück. Diese Beschränkung entspricht in der Sache den bereits mitgetheilten Beschlüssen deS CentralverbandeSdeutscher Industriellen, die eine Erweiterung des CoalitionSrechtS im Allgemeinen nicht verlangen und im Besonderen sich gegen die Anerkennung der Berufsvereine mit größter Entschieden heit aussprechen. Der Centralverbanv gelangte, wie er innerlich, zu dem Schlüsse, daß es besser wäre, „auf das Gesetz zu verzichten, als dasselbe um den Preis der Anerkennung oder Verleihung der Rechtsfähigkeit an die Berufsvereine zur Verabschiedung zu bringen." „Das Gesetz", d. h. die Vorlage, wie sie ist, will übrigens der Central verband gar nicht und auch die Anträge Stumm'S geben über den Regiernnzsentwurs zur Tagesordnung über, indem sie gleich den Nationalliberalen anstatt eines besonderen Gesetzes eine Aenderung der Gewerbeordnung anstreben. Ob die Regierungsvorlage, wie ein conservativer Antrag will, nach träglich noch an eine Commission verwiesen wird, ist danach sekr zweifelhaft. Wenn aber die Socialdemokraten mit An trägen auf Erweiterungen deS CoalitionSrechleS erschienen sein sollten, so würden sämmtlickc von Parteien ausgehende Vorschläge voraussichtlich commissarischer Beratbung unterzogen werden. Ausgeschlossen aber ist dieser „längere Weg" auch für den NegierungSentwurf nicht. Man schreibt nämlich hier unv dort dem Centrum daS hübsche Plänchen zu, die „Zucht hausvorlage" so lange zu conserviren, bis die Flotten frage, wenn auch nur principiell, entschieden iverden muß. Gelangt das Centrum hier zu einer ablehnenden Stellung, dann — so soll man in der Partei des Herrn Lieber calculiren — erschwert oder verhindert die Existenz jenes nun einmal unpopulär gewordenen und vorerst un populär bleibenden Entwurfes die Auflösung des Reichstages. Leiber sind die übrigen Parteien zu zerspalten, um dem Pater Lamormain einen Strich wenigstens durch diese Rech nung zu machen. Der katholische Dichter Peter Rosegger hat sich abermals in classischrr Weise über KatholiciSmus und Protestantismus ausgesprochen. Wie erinnerlich hatte er kürzlich einen Aufsatz über den evangelischen CbristuS versaßt, dessen Abdruck im „Heimgarten" die österreichische Cenjur nicht gestattete. Der für Oesterreich unterdrückte Aufsatz ging inbeß in deutsche Blätter über und wurde hier viel bemerkt und lebhaft besprochen. Nun kommt der Dichter auf diesen Artikel zurück, um sich u. A. folgendermaßen zu äußern: Oft habe ich es mündlich und auch schriftlich versucht mit katho lischen Geistlichen mich über das Evangelium auszusprechen, doch, wenn sie sich überhaupt in ein Gespräch einließen, so kamen sie gleich auf die Kirchengebote. Die Leser meiner Schriften braucht man kaum zu erinnern, in welchem Verhältnisse ich zum katholische Gottesdienste stehe. Allein auch Betrachtungen über daS Evangelium mit Rede und Gegenrede hätten mich gefördert. So weit kam es mit Priestern nie; sie verwiesen mich auf die Predigt, bei der man kein Zwie gespräch führen kann, auf die Beichte, bei der kein Einwand geduldet wird, im klebrigen wichen sie stets aus, als ob sie selbst nicht Bescheid wüßten, oder als ob ein Laie nicht würdig wäre, über so hochstehende Sachen mit ihnen zu reden. Es hat Zeiten gegeben da ich nach ihrem Zuspruch lechzte, doch Mißtrauen und nichts als Mißtrauen haben sie mir geschenkt. Einen Verirrten und Ver lorenen haben sie stet- an mir gesehen, aber Keiner kam, um mich liebreich zu suchen. — Hingegen habe ich Anregung undErhebung gefunden imGespräche mit evangelischen Geistlichen. Ohne zu protestantisiren haben sie sich gern finden lassen, mit einem Katholiken gemüthlich und innig über unseren Heiland zu sprechen und über seine göttlichen Lehren, die immer tiefer und höher werden, je mehr und vielseitiger man sich mit ihnen besaßt. Zudem bat sich eine Bibliothek über den evangelischen Christus um mich aufgehäuft, Betrachtungen und Studien be schäftigen die dürstende Seele, und je mehr sie schöpft, desto un erschöpflicher ist der Gegenstand. Diese Wendung ist gekommen durch jene Beschlagnahme des belanglosen Jesu-Aufsatzes. Eine geringe Ursache zu einer für mich bedeutiamen Entwickelnng. Und doch ist ein schwerer Con slict in mir. Ein Conflict, den mir gewiß nicht Alle nachempfinden können, der Manchen ganz überflüssig und thöricht erscheinen wird, weil eben Mancher keine Ahnung hat von der Macht der Gottessebnsucht. Ich bin von meinen Vorfahren her Katholik. Ich bekenne und ehre so Vieles der katholischen Kirche, sie ist meinen Kindes erinnerungen, meiner Mystckneigung und meiner Sinnensreude eine Heimath. Und doch zieht es mich hinüber zu den Evan gelischen, weil dort nach meiner Erfahrung und Ueber- zeugung die Lehre Christi reiner verkündet wird, als gemeiniglich in den katholischen Kirchen. Besonders in unseren Tagen ist eine evangelische Predigt eine wahre Labniß. Es kommt selten vor, daß man dort schimpft, poltert, hetzt, andere Bekenntnisse verflucht und deren Seelen verdammt. Käme es aber vor, so liefe ich aus einer protestantischen Kirche so rasch davon, als aus einer katholischen. — Mir würde es bitter hart ankommen, aus der katholischen Kirche zu treten und doch muß ich so oft die Partei der Protestanten nehmen, ihre christ lichen (nicht etwa politischen) Bestrebungen unterstützen, wie und wo ich nur kann. Das ist nun der Zwiespalt. Ich warte immer darauf, daß die katholische Kirche sich von der Welt lichkeit, der Macht Und Politik mehr abkehre «ad der Lehre Jesu sich zuwend». Eiastweileu muß ich es mit meinem Gewissen vereinbar finden, als Katholik dem evangelischen Gottesdienst« beizuwohnrn, dort Trost und Kraft für das Leben zu holen. Manchmal ist mir in solchen Stunden, als ging« mir ei» neues Leben auf. Und doch zittere ich. Dean wer kann wissen, wie weit die Gnade gehen wird? Wenn Noth und Jammer kommt, ob die Zuversicht vorhalten wird? Wenn dauernde» Unheil Körper und Geist niederdrückt, ob dir göttliche Stärke da sein wird? Und weun's zum Sterben kommt —! ES ist wohl mein Gebet jeden Tag nm Gnade, so zu Lenken und so zu sein, daß Christus, der Heiland, neben mir stehen bleiben kann. Ein Verdienst habe ich doch auch selbst, rin einziges: den guten Willen. Sonst habe ich nichts. — Im Ganzen gehöre ich halt auch zu jenen Leuten, die gern besser und christlicher werden möchten, heißt das, wenn es — der Censur recht wäre. Welch' ergreifendes Ringen einer Menschenseele nach un mittelbaren!, von der Vermittelung de» Priester» unabhängigen Verkehr mit Gott! WaS einst in Luther vorging und als innerer Conflict sich in den äußern Bruck mit Rom umsetzte, vollzieht sich fast mit photographischer Treu« von Neuem in der Brust des großen steiermärkischen Dichter». Rosegger ist innerlich längst Protestant, sein Uebertritt kann nur noch eine Frage absehbarer Zeit sein. Ist er erfolgt, so darf man bei der großen Volksthümlichkeit des Dichter» als sicher annehmen, daß Hunderte sich ihm anschlicßen werden. Aus Athen wird uns unterm 15. November geschrieben: Der Conflict zwischen Dem Kr-n-rtnze» Konstantin Aon Griechenland und Sem Krieg»mtnifter Eomundurvs, der schon vor der Abreise des König- aus Athen über verschiedene Einzelheiten der HeereSorganisation entstand, brach bald nach der Rückkehr deS Königs in verschärftem Maße wieder aus, und ist augenblicklich Gegenstand der allgemeinen Erörterung. Bekanntlich hatte der Kronprinz, nachdem der letzte Krieg die vielen Mängel in der Armee so deutlich zum Vorschein gebracht, einen eigenen HeereS- reform-Entwurf bearbeitet, der dahin zielte, gewisse Dienst zweige der Armee vom KriegSmioisterium unabhängig zu macken und so die Trennung derselben von der Politik zu erreichen. Der Kriegsminister, der eifersüchtig über seinen Vorrechten wackte, hatte seinerseits ein Gegenprogramm ent worfen und bestand auf dessen Annahme, sowohl durch die Krone, wie durch den Ministerrath. Der König hatte sich damals die Entscheidung darüber bi» zur Beendigung seiner Reise Vorbehalten, und eS wurde» die Streit fragen vorläufig so lange beigelegt. Jetzt ist die Angelegen heit wieder auf die Tagesordnung gebracht, unv da der Kronprinz beharrlich auf der Durchsetzung seine- Plane bestand, so hatte sich der Conflict derart zu gespitzt, daß gestern und vorgestern vielfach von einer Minister krisis die Rede war, und zwar zog man nicht nur den Rücktritt deS Kriegsminister», sondern auch den deS Iustizministers in Betracht, deS Letzteren wegen MeinnngS- versckicdenheilen mit dem Ministerpräsidenten TheotokiS über einige Ressortsfragen. Heute aber wird versickert, daß auf per sönliches Eingreifen de» König- die Streitsache dahin beigelegt wurde: keiner der beiden Reformentwürfe wird vor die demnächst zusammentretende Kammer gebracht, vielmehr wird der Kriegsminister auS eigener Initiative für daS vom Kronprinzen verfolgte Ziel, der Trennung der Armee Feuilleton. Sj Vas Pflegekind. Roman von Elsbeth Meyer-Förster. Nachdcuil verbot«,. Ohne einen solchen klingenden Namen geht es nun einmal bei diesen Leutchen nicht ab. Der Director, ein früherer Zuschneider, hieß in Wirtlichkeit W. Bleikapsel, aber mit der ihm zu Gebote stehenden Uebersetzungskenntniß hatte er Stanioli aus seinem Vatersnamen gemacht. In dem großen, grünen, nagelneuen Wagen, der eines Tages den Berliner Vorort Rixdors verlieh, um über Halle und Naum burg ins Thüringische hinaus zu kutschiren, tvar nach dem Vor bilde der Arche Noah Vorkehrung für eine Ansammlung Menschen getroffen, die auch des lieben Viehes nicht vergessen durften; und so theille sich das Apartement in die Sabinen der Aufrechtgehenden und in die Käfige unv Kammern der Kriechenoen, Hüpfenden, Mucksenden, Bellenden und Beißenden. Nettchen hatte mit der Tochter des Directors ein Kämmerchen inne, so eng, daß sie sich gerade darin umvrehen konnte. Aber dicht über ihrem Bett war «in Schiebefenster angebracht, das sie Tags über und oft auch des Nachts geöffnet hielt, und da sie gerade vom Kopfpolster aus durch dieses Fenster hinauSschauen konnte in die Landschaft, merkte sie die Enge ihres Käfigs nicht, sondern es gehört« ihr die gang«, groß«, vorbeifliegende Welt. Der Frühling war da, als sie ins Thiiringensche ernzogen. Es war so grün und warm unter Gottes blauem Himmel, daß den Menschen das Herz in der Brust lochen mußt« Um den grünen Wagen herum und hoch über ihn hinweg schwirrten die Schwalben. Die blühenden Apsedzweige, die zarten Tcauben des Goldregens und die lila Farbenbüschel des Flitders streiften die winzigen Schiebefenster, wenn da» ungeheure Ge fährt durch enge Wiesenwege mußte. Auch das Häuslein Männer und Weiber, das der Wagen mit sich führte, spürte den Frühling. Auf den fahlen, von der Schminke zerbissenen und vom Schicksal wie mit eisernem Griffel gezeichneten Gesichtern glänzte etwas wie Lebenslust. Welche Last rauher und oft verzweifelter Geschicke — diese für den Augenblick aneinandergereihten Zigeunerleben, die der Herbst wieder auseinanderschütteln wird, wie wette Blätter von «inem Baum«. Wo kamen sie hin, wo blieben sie dereinst, wo ließen sie eine Spur zurück?!? — Nettchen saß auf der kleinen Treppt, die von der Wagenthür zum Erdboden Hinuntergelaffen wurde, sobald das Gefährt an seinem Ziele hielt. In der Nähe eines Kurortes vor einem Gasthause hatte man Halt gemacht. Das Haus lag eine Strecke vor dem Ott, und kein neu gieriges Volk bildete wie an belebten Puncten eine Ansammlung rund um den Wagen. Die Männer und Frauen waren ausgestiegen, um sich im Wirlhszimmer zu erquicken. Auch Nettchen erhob sich und gesellte sich ihnen zu. Um den großen Tisch in der Gaststube hatten sie sich ?m Kreise nieder gelassen. Der Wirth hatte Brod, Schinken, Eier ausgetragen, und da die Einnahme der letzten Tage eine gute gewesen, kargten die Männer nicht und bestellten Bier, Branntwein und Grog. Grog fand b«i All«n die beifälligste Aufnahme. Trotz der lauen Frühlingsnächte fror«n sie durchgängig in den dünnen und dürftigen Betten, über die durch die unsichtbaren Fugen der Bretterwände des Wagrns die kühle Nachtluft dahinstrich. — Eine der Frauen, deren Ernährer, ein kleines, zartes Männchen, der artistische Leiter des Unternehmens war, säugte ihr Kind an d«r Brust. Eine zweite, ein schönes, aber ver blühtes Weib, die Trapezkünstlerin, scharmutzirte mit dem Gast- Wirth, was dessen ab- und zugehende Gattin mit Achselzucken übersah. Ein junges Mädchen in einem entwachsenen Matcosenanzug stand am Fenster und blickt« gelangweilt hinaus, Rosi, die Anti podenkünstlerin, — deren Schwester, «in zartes Kind von acht Jahren, sich neben sie drängte, um auch etwas zu sehen. Un- muthig schob Rosi das Kind bei Seite, dos sich aber nicht ab weisen ließ, sondern, geschickt wie ein Kätzchen, der Schwester am Rücken hinauftletterte. Diese Beiden waren die Kinder des Directors. Draußen auf dem Hofe wurden Kühe aus dem Stall geführt, und der Knecht, welcher die Thier« trieb, blickte mit weit aufgeriffenen Augen auf dir beiden nie gesehenen zarten Gestalten hin, die sich mit kindlich«« Graz» weit aus dem Fenster lehnten. „Drück« mich nicht", rief Rosi plötzlich aus. „Du stößt mir noch den Kopf ein, Thier. Mach', daß Du weiter kommst." Sie schüttelt« sich so heftig, daß die Schwester von ihrem Rücken herunterfiel wie eine Raupe von einemLlatten Stamm.— Am Tische lachten Alle, während Minja, die kleine Abgeworfene, mit empörtem Schluchzen durch die offen stehende Thür hinauslief. Nellchen war ihr nachgefolgt. „Komm", sagte sie freundlich zu dem Kind«, das im Hausflur heftig weinens an die Kalk wand gedrückt stand. „Wir wollen ein wenig spazieren gehen." Sofort war Minja getröstet. „Bei die Kühe?" fragte sie in ihrem Straßenkindsjargon. „Auch vahin", sagte Nettchen, „wenn Du willst." Sie schritten über den sonnigen Hof in den Stall. Der Knecht, welcher Heu in die Raufen that, starrte die Beiden fast blödsinnig an. „Wir wollen uns ein wenig die Kühe ansehen", sagte Nettchen, indem sie ihm zunickle. Leicht, mit ihrem freien, lebhaften Wesen schritt sie an dem wie verdummt Dastehenden vorbei. „Js der dämlich!" erklärte die kleine Minja. „Du, Nettka", setzt« sie dann enthusiastisch hinzu, „darf ich auf so eine Dicke reiten?" Nettchen setzte das Kind auf den breiten Rücken einer platt am Boden liegenden Kuh, die nicht einmal die Augen nach ihnen hinbewegte. Der Knecht war hinzugekommen. „Gutes Vieh", stieß er einleitend hervor, indem er zinnober- roth erglühte. „Ja", sagte Nettchen, „und thut uns auch nichts — nickt wahr? Wie Hübsch sauber Sie sie gehalten haben. Und der ganze Stall. Das glänzt ja nur ordentlich so." Das war so ihr Kunstgriff, aller Welt, auch den ihr gleich- gütigsten Menschen, etwas Angenehmes zu sagen. Sic kannte genau die Schlüssel zu den Herzen ver versckiedenen Menschen. Auf diese Weise zog sie siegend durch die Welt, überall dankbare, glühende und ihr ergebene Herzen zurücklassend. Auch der blöde Knecht richtete einen Blick auf sie, in dem alle Empfindungen lagen, die er wrnlick nicht au-zudrücken verstand. „Jetzt möcht' ick auch auf da» Pferd!" rief Minja, indem sie vergnügt mit ihren schlanken Bcincn wippt». Noch tiefer als zuerst erglüdend, ergriff der Knecht daS schöne Kind und setzte es auf da« Pierd. Aber Nettchen drängte nun weiter. „Wir wollen uns auch den Garten anseben" tagte sie. Es zog sie eigenidümlick hinaus in dieses Stück Frühlings welt. Alle Bäume standen in duftigem Blüthenzauber, und zarte, grüne Keime lugten aus den Gemüsebeeten. Zwischen den Sträuchern flatterte auf dichten Leinen blendend klare Wäsche, und es sah aus, als winkten die im Winde flatternden Hemdsärmel den lustig hin- und hecschaukelnden Schürzen zu. Nettchen und das Kind gingen langsam zwischen den schmalen Wegen auf und ab. Oft bückte sich Minja, um einen Käfer, eine Blum« oder einen Stein emporzuheben. Ihr bronizesiarbenes Gesicht hatte sich leicht geröthet. Jede ihrer Wendumgen war voll Anmuih, und in froher Bewegung durften sich die schlanken Glieder ausdehnrn, di« «von klein aus geknechtet, gerenkt und ge dehnt und zu einer unnatürlichen Elasticität künstlich ausgezerrt worden waren. Nettchen liebte dieses Kind, das ihr in Vielem ähnlich war, wie sie alles Glänzende und Bestechliche li«b!e. Sie waren an dem Zaun de» Gärtchen» angelangt uns blickten aus die Landstraße hinaus. „Sieh!" schrie Minja, indem sie mit beiden Armen hiNaus auf den Fahrweg wies, „da kommt Monsieur Seitre." Monsieur Seitre war die neue Specialität, die sich der Director, durch seine guten Kassengeschäfte von Unternehmungs geist erfüllt, aus Berlin hatte Nachkommen lassen. Nettchen erblickte einen großen, schlanken, jungen Mann, der auf einem blitzenden Zweirad die Landstraße daher- gesaust kam. . Das ist Herr Seitre?" fragte sie ganz perplex. „Ja!" sagte Minja, „der aus Richter'? BariLt4. Haben Sie nickt sein Bikd schon an den Anschlagssäulen gischen? O, das ist ein eleganter Herr. Mutter sagt, alle Artistinnen find immer ganz verliebt über ihn." Mit altklugen und doch so unschuldigen Kinderaugen schaute sie zu Nettchen auf. „Papa muß ihm auch die Hälfte von der Einnahme geben", fuhr sie fort, „das verlangt Herr Seitre. Er ist schon in Moskau gewesen und in Wien. Und in Paris, glaub' ich, ist er geboren." Nettchen hörte dem kindlichen Geplauder mit gespannter Auf merksamkeit zu. In ihrer Phantasie verdichtete sich sofort Alles, was Minja erzählt batte, zu einer ergänzenden Histone. Das Glän.renSc, das in der Schilderung von Herrn Seitre'» Per sönlichkeit lag, zog sie sofort an, und rasch ging sie nun mit Minja der Wirthsstube zu, um den Anyekommenen näher in Augenschein zu nehmen. D«r junge Mann ftaNd inmitten des Zimmer», von dem Kreise der Artisten dicht umgeben. S:« reichten ihm collegialisch die Hände, aber nur die wenigsten davon ergriff er, um sie flücktig zu schütteln. E» war ihm nicht möglich, auf die vielen, zu gleicher Zeit an ihn ge richteten Fragen zu antworten. Er war von der raschen Fahrt
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