Suche löschen...
02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 28.11.1899
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1899-11-28
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18991128027
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1899112802
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1899112802
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1899
- Monat1899-11
- Tag1899-11-28
- Monat1899-11
- Jahr1899
- Links
-
Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
KW. Tie Morgcn-Nusgabe erscheint um '/z7 Uhr, die Abend-Ausgabe Wochentags um 5 Uhr. Filialen: Ltto Klcmm'S Lortim. (Alfred Hahn), UniversitütSstraße 3 (Pautinuni), Lonis Lösche, Katharinenstr. 14 Part, und Königsplatz 7. Redaktion und Expedition: Johannisgasse 8. Die Expedition ist Wochentags ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis Abends 7 Uhr. Bezrrgs-PrekS in der Hauptexpedition oder den im Kkadk- bezirk und den Vororten errichteten AuS» oabestellen abgeholt: vierteljährlich.4(4.50, bei zweimaliger täglicher Zustellung ins Haus ./« 5.50. Durch die Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: viertetiäbrlich X 6.—. Directe tägliche Kreuzbandjendung ins Ausland: monatlich 7.50. Abend-Ausgabe. WpMer Tageblatt Anzeiger. Amtsblatt des Äömgt'ichen Land- und Amtsgerichtes Leipzig, -es Mathes und Polizei-Amtes der Stadt Leipzig. Anzeige«'PreiS die 6 gespaltene Petitzeile 20 Pfg. Reclamea unter dem RedactionSstrich (4gv- spalten) SO^z, vor den FamilirnnachrtchNn (6 gespalten) 40/H. Größere Schriften laut unserem Preis verzeichnis Tabellarischer und Ziffernfatz nach höherem Tarif. Extra-Beilasen (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbefürderung 60.—, mit Postbeförderung 70.—. Anuahmeschlnß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Vormittag- 10 Uhr. Morgen-AuSgabe: Nachmittag- 4Uhr. Bei den Filialen und Annahmestelle« je ein» halbe Stunde früher. Anzeigen find stets an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. P olz in Leipzig. DienStag den 28. November 1899. 93. Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, 28. November. Der Anspruch der Socialdemokratie, als die Siegerin auf dem Felde, wo die „Zuckthausvorlage" zu Falle kam, betrachtet zu werden, wird seltsam illustrirt durch daS, was sich seitdem im Reichstag abgespielt bat. Die Abstimmungen ver vorigen Woche sind zugleich von guter Vorbedeutung für die Behandlung der socialdemokratischen Fasching-anträge zur „CoalitionSsreiheit". Am Freitag und Sonnabend ist von allen bürgerlichen Parteien Alles abgelebnt worden, waS die Socialdemokratie beantragt batte, und das Unreife, Unsachliche, ja geradezu Arbeiterfeindliche der Vorschläge der „Arbeiterpartei" ist gerade von fortgeschrittenen Socialpolitikern, wie Freiherr von Hehl, Or. Hitze und Rösicke, gekennzeichnet und ge geißelt worden. Die Socialdemokraten thaten so, als ob der Ruin der aesammten Hausindustrie ein menschenfreund licher Aweck sei. Die eigentlichen Mißstände in der Heimarbeit, die Einrichtung, daß die Arbeiter sich Arbeitsmaterial, ihre Geräthschaften u. s. w. selbst anschaffen müssen, sowie der Miß brauch der Kinderarbeit, hatten die socialdemokratischen Gesetz geber nicht gekannt oder vergesse», oder wenigstens in ihren Anträgen nicht berücksichtigt. Aus der andern Seite haben die Socialisten auch nicht gewußt, daß die socialen Verhältnisse der Schweiz, die der „Vorwärts" jeden zweiten Taz den Deutschen als Muster vorhält, gerade auf der durch daS ganze Land verbreiteten Heimarbeit in erster Reihe beruhen. Alles das mußte ihnen erst von bürgerlichen Rednern, Angehörigen der „ausbeutenden" Bourgeoisie, vorgehalten werden. Genau dasselbe mußte geschehen und geschah gegen über einem zweiten socialdemokratischen Anträge, der wie der erste durch die Beschränkung aller Haus arbeit der Frauen und jugendlichen Arbeiter die Krankheit durch die Hinrichtung des Patienten heilen wollte. Es war nicht zu viel gesagt, wenn ein Abgeordneter auörief: „Die Arbeiter würden schön raisonniren, wenn wir solche Gesetze machenwollten, wie sie dieSocialvemokratenvorschlagen." Die vergangene Woche war tbatsächlick eine Woche der Niederlagen für die revolutionäre Partei, die überführt wurde, daß hinter ihrer Maske der Arbeiterfreundlichkcit sich die kon sequente Absicht verbirgt, die „Verelendung", die sich trotz der Marxistischen Theorie nicht von selbst einstellen will, zum Vortbeile des Umsturzes künstlich herbeizuführen. Der Beschränkung der Mitgabe von Arbeit nach Hause hat der Reichstag auch für gewiße Gewerbe, d. h. für die Confection, seine Zustimmung versagt, und so groß die Mißstände in der ConfectionS- und Wäschebranche auch sind, für die Ablehnung spricht rin allgemeines Princip. Der Staatssekretär Graf PosadowSky hat ein geräumt, daß eine entsprechende Controle der Mitgabe von Arbeit an Frauen und jugendliche Arbeiter unmöglich sei; mit einer Gesetzgebung auf diesem Gebiete würde also Deutschland in die Rcihe der Staaten treten, die nicht ohne Bewußtsein Gesetze machen, die „auf dem Papiere stehen" bleiben. Da gewiß viele Unternehmer ein solches Gesetz, daS nach dem Abg. v. Heyl auf vollem Vertrauen auf die Arbeitgeber „auf gebaut wäre", respectiren würden, so wäre, da rin solches allgemeines Vertrauen in der Confectionsbranche zum Mindesten gewiß nicht berechtigter wäre als in anderen Er- werbSzwcigen, der Erlaß des Gesetzes die Anweisung auf Prämien für die gewissenlosen Mitbewerber, die eS un- controlirbar mißachten würden. Eine neue HeereSvorlage wird iu der ultramontanen „Köln. DolkSztg." angekündigt. DaS führende CentrumS- organ läßt sich nämlich „vom Niederrhein" da- Nachstehende schreiben: „Nach der Wahrscheinlichkeitsberechnung (I), die noch gestützt wird durch gelegentliche vertrauliche Aeußerungen der Organ« der Militärverwaltung, soll die Vermehrung des LandheereS noch weitere Fortschritte machen; insbesondere glauben wir sagen zu können, daß, wie einst die Halbbataillone ihre bessere Hälfte herbeigerufen haben, die Escadron Meldereiter bei jedem Corps die zu einem Regiment fehlenden Mannschaften schon in nächster Zeit heraozieheu werden, abgesehen von all den anderen weitreichenden Wünschen, die die Landesvertheidigung sonst noch hat und schweren Herzens hat zurückstellen müssen." Wenn die „Organe der Militärverwaltung" wirklich einen Ultramontanen „vom Niederrhein" zu ihrem Vertrauten ge macht hätten, so würden sie ibm sicherlich, bei allem Respekt vor seiner Befähigung für „Wahrscheinlichkeitsberechnungen", die letzte Militärvorlage ins Gedäcbtniß zurückgerufen haben. Von dieser aber hat der niederrheinische Gewährs mann der „Köln. Volksztg", wie seine obige Auslastung dar- thut, keine Kenntniß. Denn thatsächlich bat gar nicht jedes ArmeecorpS eine Schwadron „Meldereiter". Vielmehr sind die beim I., XIV., XV. und XVII. CorpS vor handenen vier Meldereiter-Schwadronen nach der letzten Militärvorlage als selbstständige Formationen aufzulösen, um das Material zur Bildung neuer Schwadronen für die geforderten drei Regimenter „Jäger zu Pferde" herzuqeben; nur die beim IU. bayerischen und beim XII. (sächs.) CorpS auszustellendrn Schwadronen Jäger zu Pferde bleiben zunächst selbstständige Formationen. Die Umformation der drei Regimenter Jäger zu Pferde wurde vom Reichstage genehmigt, nachdem in der Commission die Sicherheit gewonnen war, daß die Jäger zu Pferde als Meldereiter nicht verschwinden, sondern auf eine solche Zahl von Schwadronen gebracht werden sollen, daß im Kriegs fall jedem in den ersten Staffeln stehenden Corps eine solche Schwadron zugetheilt werden kann. Wenn dieseTbatsachen dem niederrheinischen Gewäbrsmanne der „Köln.Dolksztg." unbe kannt blieben, so hätte die Redaction de- führenden CentrumS- organS dock den richtigen Sachverhalt wißen müssen. Letztere hat aber offenbar bei dieser Gelegenheit den schönen Grund satz „Der Zweck heiligt daS Mittel" zur Anwendung bringen wollen. Welchen Zweck der niederrheinische Gewährsmann mit der Ankündigung einer neuen HeereSvorlage für die „nächste" Zeit verfolgt, zeigen aufs Klarste foigende Be merkungen, die er in unmittelbarem Anschluß an sie macht: „Soldaten brauchen auch Ca fern en, und ob sich auf die Dauer gerade noch zahlreiche Gemeinden finden, die dem Militär« fiscuS diese kostspieligen Bauten abnehmen, dürste bei aller Be- geistrrung für »ine Garnison oder Vermehrung derselben kaum zu erwarten sein. Deshalb dürfte die Zeit gar nicht mehr so fern sein, daß die Regierung zu Bier und Tabak greift. . . Möge man sich diese Thatsache doch immer bei der Marine begeisterung gegenwärtig halten. Neue Schiffe» neue Steuern." Also lediglich zu dem Zwecke, Stimmung gegen die Flottenvermehrung zu machen, erfindet die „Köln. Volksztg.", daß Meldereiter-Regimenter rc. „schon in nächster Zeit" würden gefordert werden. Schlimmer verfährt auch die socialdemokratische Presse nicht. Die Siege, welche die Republikaner in den Ver einigten Staaten bei den soeben beendeten Staatswahlen errungen haben, sind zwar nicht so groß, wie man eS in Washington gewünscht Kälte, aber sie sind immerhin be deutend genug, um die Wiederernennung Mc Kinley'S zum nächsten Präsidrntschaftscandidaten der republi kanischen Partei zu sichern. Wenn nicht eine gründ liche Aenderung in der demokratischen Politik und Füh rung stattfindet, wird auch seine abermalige Er wählung nicht verbindert werden können. Das Ergebniß der jetzigen Wahlen beweist, daß die demokratische Partei in ihrer jetzigen Verfassung nicht zu siegen vermag. Es läßt sich nicht sagen, ob der weitverbreitete Widerwille gegen McKinley'« imperialistische Krieg«- und Eroberungs politik stark genug gewesen Ware, einen Umschwung zu Gunsten der demokratischen Partei zu bewirken, wenn diese von der geschästsverderblicken Geldverschlechterungö- politik sich losgesagt hätte. Immerhin liegt nun der Beweis vor, daß jener Widerwille nicht stark genug ist zur Ueberwindung der Besorgnisse vor dem finanziellen Zusammenbruche, den der Sieg der Freisilberbewegung im Gefolge haben müßte. Die Masse des Volkes ist offenbar nicht gewillt, sich der daher drohenren Gefahr auszusetzen. Es ist bezeichnend, daß der einzige Staat, in dem ein wirklicher Um schlag zu Gunsten der demokratischen Partei stattgefunden hat, der Staat Maryland gerade derjenige ist, in welchem die Partei sich geweigert hat, sich zur Freisilberlehre zu be kennen, in welchem sie die Chicagoer Platform vollständig bei Seite geschoben und auf Grund anderer Fragen ihren Wahl kampf geführt bat. Selbst Kentucky, daS zu den alten demo kratischen Bollwerken gehört, ist den Demokraten wegen der Freisilberfrage verloren gegangen. Einen Sieg kann die demokratische Partei nur dann erwarten, wenn sie eine An zahl der wichtigen zweifelhaften Staaten des Nordens gewinnt. Zn allen diesen Staaten sind aber, wie die Wahlergebnisse zeigen, die demokratischen Aussichten zur Zeit völlig hoffnungs los. Das Volk will Expansion selbst mit UnterjochungSkämpsen wie auf den Philippinen, und es bat damit die alten Washington'schen Ueberlieferungen über den Haufen ge worfen — das ist das geschichtlich hochbedeutsame Ergebniß der Wahlen. Man bedenke, daß sich selbst Massachusetts, die Hochburg der Antiexpansionisten, mit gewaltiger Mehr heit für die Republikaner und damit für Mac Kinley erklärt bat. Der Letztere kann jetzt machen, WaS er will. Seine Redetour durch den Westen, sein Appell an die Flagge, die niemals heruntergenommen werden darf, wo sie einmal ge hißt wurde, haben Wunder gewirkt. Die Mächte müssen sich jetzt mit der Thatsache befreunden, daß die Vereinigten Staaten künftig in allen europäischen Angelegenheiten, be sonders colonialer Natur, ein Wort mitreven werden. Der Krieg in Südafrika. -v. Die Londoner Blätter laßen General Methuen südlich von Kimberley weiter siegreich vordringen. Nach der Erstürmung der boerischen Verschanzungen bei Belmont und bei Graspan soll er nun, wieder ein kleines Stück nördlich, den Ort Honehnest-Kloof (Eisenbahn station) genommen und zwei Millionen Gewebrpatronen er beutet haben. So lange die Meldung nickt durch ein amt liches Telegramm des commandirenden Generals, der ja sehr prompt zu berichten pflegt, bestätigt ist, lassen wir sie auf sich beruhen. Sollte sie richtig sein, so bestätigte sie bloS unsere Annahme, daß die Engländer nur Schritt für Schritt zum Entsatz Kimberleys vorwärts kommen und, von den Boeren stets beunrubigt, sich unter erheblichen Verlusten durch kämpfen müßen. Daß eS an letzteren auch bei Honeynest- Kloof (wenn dort ein Gefecht stattgefunden hat), nicht ge fehlt hat, verräth ja die Meldung selbst dadurch, daß sie über die Verluste sich ausschweigt. Jedenfalls ist eS unsinniges Gerede, wenn eS in englischen Berichten heißt, eS sei für nöthig befunden worden, auf Warrenton am Baalfluße, ziemlich weit nördlich von Kimberley, wo die Grenzen Transvaals, deS Freistaate- und der Capcolonie sich berühren, zurückzugehen, „um die Boeren wieder ruhiger zu machen". Wir baden noch nicht« davon gekört, daß sie beunruhigt seien, sonst würden sie nicht jeden Fuß breit Landes den unter General Methuen vordringenden Entsatztruppen mit solcher Staudhaftigkeit streitig machen. Gehen sie schließlich wirklich auf Warrenton zurück, so ist das sicher in ihrem alle Möglichkeiten bedenkenden Kriegsplane vorgeseben gewesen. Aber, wie wir schon einmal andeuteten, eine Aufgabe der Belagerung Kimberleys würde erst dann nötbig werden, wenn eS Lord Methuen gelungen sein würde, den Uebergang über den Modder River und den Riet-Fluß, die er sicher nicht mehr überbrückt finden wird, zu erzwingen. Ueber die Verluste der Engländer bei Belmont wird nachträglich noch Folgende- beuchtet: * London, 27. November. Nach einem bei der Admiralität eingelaufenen Telegramme betrugen die Verlust« der an dem Treffen bei Belmont betheiligtra Flotteubrigade 14 Todt« und 91 Verwundete. Ob diese Zahlen schon mit in den Gesammtverlustziffern (38 Tobte und 149 Verwundete) mit inbegriffen waren, geht aus der Meldung nicht hervor, wahrscheinlich ist eS nicht. Die Opfer, die der Tag bei Belmont forderte, waren auf alle Fälle für die Engländer außerordentlich erheblich. Bei dem Kampf um GraSpan wurde bekanntlich die Artillerie der Boeren von Major Albrecht commandirt. Richard Albrecht ist ein geborener Berliner. Er trat vor etwa 30 Jahren als Freiwilliger bei der preußischen Garde- Feldartillerie ein, machte den Feldzug gegen Frankreich mit und wurde später zum Vicewachtmeister befördert. Im Jahre 1880 nabm er den vom Oranjefreistaat ergangenen Auftrag an, die Artillerie der Republik zu reorganisiren, und er führte ibn so zur Zufriedenheit seiner boeriscken Brodgeber aus, daß er seitdem an der Spitze der Artillerie und Gendarmerie beibehalten wurde. Vor einigen Jahren kam Albrecht nach Deutschland und soll hier mit Krupp große Lieferungen neuesten Artilleriematerials abgeschlossen haben. Daß seine Bemühungen im Dienste deS ÖranjefreistaateS nicht vergeb lich waren, haben die Gefechte bei Belmont und GraSpan bewiesen. Ob Mafeking nächster Tage fällt oder nicht, wird für den Ausgang de« Feldzugs auf dem westlichen Kriegsschauplatz von geringer Bedeutung bleiben. Vielleicht beschleunigt (wie der militärische Gewährsmann der „Frkft. Ztg." richtig an deutet) der Fall MafekingS sogar den Vormarsch der Armee Methuen'S in den Oranje-Freistaat. Würde Mafeking nickt fallen, so sähe sich Methuen vielleicht noch durch die öffentlicke Meinung gezwungen, ein Detachement zum Ent sätze dieses OrteS abzusplittern und seine Division dadurch zu schwächen. Von militärischem Standpuncte auS kann «S dem englischen General daher nur willkommen sein, wenn er der Feuilleton. i4. Das Pflegekind. Roman von Elsbeth Meyer-Förster. »!achd>uck rrrboUn. Obgleich er also auf dem Programm diese hochtönende Be zeichnung hinter seinem Namen führte, war er doch längst nicht mit seinem Ruhm zufrieden. Er fühlte, daß ihm noch Manches fehle, und daß die englischen und amerikanischen Artisten, die auf den großen Bühnen der Weltstadt sich sehen ließen, ihm immer noch Bieles an feinen Trics voraus hatten. Dieses Be wußtsein zehrte an ihm- Er hatte viel von der Zukunft er wartet, sich als Ausnahmekünstler, als begehrter und gefeierter Held der Variöto-Bretter in goldene Verhältnisse geträumt, und er mußte einsehen, daß er auch nach Monaten harter, schwerer Arbeit und angestrengten Eifers nichts Neues, nichts Staunens wertes, was Andere nicht auch schon besessen hätten, erreichen konnte. Er blieb ein Artist wie alle anderen, mit schwankenden Einnahmen, von geringem bürgerlichen Ansehen; im Wechsel der Erscheinungen verschwand sein Können, — und sein Wollen, das fühlte er, stumpfte sich ab und wurde gleichgiltig im vergeblichen Kampf um Erfolg. In seinem kalten, glarten Gesicht grub sich eine tiefe Falte ein, die den Zügen etwas Hochmüthiges und zugleich Drohendes gab. Nur zuweilen machte dieser Ausdruck einer stolzen Genug- thuung Platz, — das war, wenn Monsteur Seitre im Gedränge der Boulevards di« Augen der Frauen auf sich zog, und hinter seinem Rücken ein beifälliges Zischeln und Tuscheln hörte, das seinem vornehmen Exterieur galt. Bei solchen Anlässen richt«!« er sich höher aus, drehte seinen kleinen Schnurrbart in die Höh', blickte prüfend an seinem eleganten, langen Paletot herunter und maß dann die mit ihm beschäftigten Damen mit langsamem Blick, während er sich umwendete und seine Opfer halb lächelnd an sich vor'beipassiren ließ. In seinem Schreibtisch daheim verwahrte er sorgfältig «in kleines Packet, in welchem sich im Laufe seiner Junggesellen-Jahre ein« ganz« Anzahl Schriftstücke der offenkundigen, weiblichen Be wunderung angehäuft hatten, und Nettchen, die kleine, deutsch« Frau, brach in Thränen aus, dir sich rasch zu einem Zornrs- ausbruch verwandelten, a>ls sie von dem Päckchen Kenntniß ge wann. Allein Seitre beruhigte sie sofort. In den Ausdrücken, mit denen er von diesen weiblichen Hüldigerinnen sprach, la- so diel Abweisung und Kälte, feine Weichgiltigkeit gegenüber jeder Einzelnen von ihn«n war so groß, daß Nettchen fühlte, hier herrschte keine Verstellung, und nur di« Eitelkeit, aber kein einziger, treuloser Jntstinct war da im Spiele. Das Bewußtsein dieser Thatsache mutzt« ihr von Anfang an ein tröstliches Gegengewicht verleihen, im Vechältniß zu den mancherlei Enttäuschungen, welche ihr die stürmisch« Neigung zu ihrem Manne bereitete. Si« waren noch nicht sechs Monate verheiraihet, und doch fühlte sie mit -innerer Angst, daß eine ganze Anzahl Kämpfe sich bereits ihrem Ehehimmel näherte. Nach den ersten Wochen der Demuth und Weichheit, war bei ihr die Resolutheit, die Willkür und Selbstständigkeit ihres Wesens sofort wieder zum Durch bruch gekommen, und ohne daß sie fähig gewesen wäre, gegen dies« Seiten anzukämpfen, ahnte sie, daß ihr in ihrem Manne ein Gegner mit noch härteren Eigenschaften erwuchs. Dieses Gäfiihl ängstigte sie und schnürte ihr mitunter das Herz zusammen. Sie wußte, daß sie sich nicht bekämpfen könnt«, daß si« eher zrrbrach, als sich bog, doch noch lange war die Zeit nicht gekommen, wo das Schicksal sie mürbe machte. Nach den eisten, d«r Leidenschaft gewidmeten Wochen be gann Jerüme mehr und mehr außerhalb des Hauffs zu leben und den erregten Vorwürfen seiner Frau einen zunächst nur passiven Widerstand entgegenzusetzen. — Nettchen fragle sich jetzt manches Mal, wie eS möglich gewesen, daß sie damals, nach ihrer Flucht von der Wandertruppe, während des Aufenthaltes in Köln, so sonnige Wochen mit ihrem Gatten verlebt hatte, — wie es überhaupt möglich gewesen, daß er sie so über alle Rüchsichten und Hindernisse hinweg im Sturme zu seiner Frau gemacht hatte? Nur ein« große und muthvolle Leidenschaft, wie sie selbst sie empfunden, konnte in ihren Augen das Räthsel erklären. „Ja, damals liebte mich JerSme, und er liebt mich auch jetzt noch!" sagte sie sich. Aber ihre Augen'blickten kampfesmuthig, und in der Art, mit der si« ihren Mann beobachtete, lag eine err«gt« Spannung. Beinahe «in Jahr lebten sie nun schon in dirffr fr«mden, un- geheuien Stadt, in der Jerüm« sich wohl und heimisch fühlte, während Nettchen von Anfang an mit schtvermüthigem Heimweh zu kämpffn hatte. Ihre Abenteuerlust war gestillt. Oft kam «s ihr vor, wenn sie unter den fremden, südlichen Menschen einherschritt, umgeben vom wklden Trubel der Straßen, und die Laute der unver standenen Sprache auf sie niederschwirrten, als wäre das „Einst" «in versunkener, immer ferner rückender Traum, als sei der Um stand, daß sie dereinst in einem stillen Winkel Ostpreußens zur Welt gekommen, als das Kind einer armen Flurhüterswittwe, — als sei dies Alles nur ein Märchen, und dieses laut«, betäubende, gellende Leben allein die Wirklichkeit. Di« ganze Umgebung und ihr Verkehr darin wirkte so über raschend aus sie, daß si« sich fflbst bei ihrer leichten LebenSkunst nicht so bald hineinzusinden vermochte. Bunte, verworrene Existenzen, wie sie der Zufall auf diesen Weltmarkt zusammen warf, bildeten ihren und ihres Gattin Umgang; ihr Heim war ein Ehambregarni, in dessen übrigen Räumen Studenten und Grisetten hausten. Die Mahlzeiten nahm sie mit Jerüm« in einem Restaurant, in welchem sich die weibliche und männlich: Radfahrerwelt versammelte, wo geraucht, gespielt, gewettet und gebvxt wurde, ein; die Nächt« nach der Vorstellung verbrachte man in Casos, in denen die männlichen Gäste beim Absinth die Wüoffl rollen ließen und geputzte und geschminkte Mädchen sich dreist an die Tische drängten. Nettchen hatte von einem außergewöhnlichen Leben geträumt, aber das Bild, das sie nun Tag um Tag erblicken mußte, hatte nicht in ihrer Phantast« gelebt. Als verheircvthete Frau führt« sie durchaus kein angenehmes häusliches Leben, sie verbrachte den größten Theil des Tag«s mit ihrem Mann« in Gasiwirthschaften fragwürdiger Art, die Abend« wurden von den Vorstellungen auSgefüllt und in den Nächten eineTournSe durch die Cafks von Montmartre unternommen. — Ein« Weile lang ertrug Nettchen's gesunde Natur di« unge wohnten Anstrengungen ohne Nachtheil; aber in ihrer Seele be gann fick langsam ein Widerstand aufzurickten, «in« schmrrzliche, bittere Erregung, die sich zu Trotz und festem Willen steigert«. Dieses Leben, das in vagabondenhaftrr Ungebundenheit verfloß, begann sie abzustoßen, ihr graute vor der unsauberen Gesellschaft, mit der sie sich täglich beisammen sah. Sie hätte ihren Gatten schützen und vor dieser Umgebung zurückreißen mögen. „Laß uns zu Hause bleiben", sagt« sie ein«s Abends, als keine Vorstellung war und Jeröme sich trotzdem zum Ausgehen fertig machte. Er wandte sich erstaunt nach ihr um. „Warum?" „Weil ich dieses Leben nicht ertrage", entgegnete Nettchen, in deren Stimme verhaltene Erregung zittert«. „Auch Dich kann «s nicht glücklich machen, Jerome. Bleibe hier, laß uns zu- sammensttzen und plaudern. Ich will Thee bereiten, und wir schwatzen von der Vergangenheit." Jerome war ausgestand«n und hatte seinen Cylinder ergriffen. „Nicht thöricht ffin", sagte er. „WaS sollen wir hier in den kahlen vier Wänden? In der Kneipe ist's hell und gemächlich. Komm', mach Dich zurecht." »Ich gehe nicht mit", stieß Nettchen hervor. Si« blickte ihn an. Ihr« Augen gläntzten vor fieberhafter Erregung, und glühend richteten sie sich aulf Jerome's kalt« und unbewegte Züge. „Dann kann ich Dir nicht helfen", sagte rr ruhig. „Wenn Du glaubst, daß ich geheirathet habe, um ewig am Schürzenbande meiner Flau zu hängen, dann irrst Du Dich. Adieu, Schatz, und schlafe Dein« Launen aus." Langsam und ohne daß sie ihn hinderte, ging er. Sie saß wie erstarrt, dann schritt sie ans Fenster, riß es auf und blickt« ihm nach. Er ging die Straße entlang, — mit dem raschen, elastischen Schritt, der ihm eigen war. Sein eleganter Cylinder, der Helle, chice Paletot, der Spazierstock mit dem platten, silbernen Knopf, jede Einzelheit wurde von dem starren, trockenen Blick verschlungen, mit dem Nettchen ihm nachsah. Wandte er sich um? Winkte er ihr? Nein, «r schritt eilig weiter, als könne er nicht erwarten, an sein Ziel zu kommen. Nettchen war auf den Stuhl am Fenster niedergesunken, ihr Kopf preßte sich an die Fensterscheiben. Seine harten, kurzen Worte klangen noch in ihrem Ohr, diese Wort«: „Glaubst Du, ich habe mich veüheirathet, um ewig am Schürzenbande meiner Frau zu hängen?" Ja, lieber Gott, vielleicht: verlangte sie wirklich zu viel? Sic Mußte g«r«cht sein, mußte ihm seine Freiheit lassen, mußte eiwffhen Iern«n, daß er «in M«nsch war wie nicht all« aNderen, in der Freiheit ausgewachsen, und keinen Zwang ertragend?! Was war nur mit ihr geworden, warum fiel es ihr so schwer, diesen Gedanken ganz zu erfassen, warum kämpfie ihr ganzes, besseres Gefühl dagegen? Ja, was war aus ihr geworden diese wenigen Monat«! Wo hin war das Dagabondenblut? Wohin war Nettchen, die Einstig«, entschwunden, die Abenteurerin, dieLeichtgefinnte, die hier her an dietsenPlatz, in diese vonPatchouliegeruch «rfülltenZimmer, zwischen diese vier fremden, kalten Wände, an die Seite JerSme'S. gehörte? Sie war nicht mehr da, — an ihre Stell« war eine Andere getreten, — ein sorgendes, liebendes, unglückseliges Weitb, da« sich um Güter, die es einst verachtet hatte, in einsamer Nacht die Hände ausranq. Stunden vergingen, und noch immer blieb die Gestalt der^ jungen Frau reglos am Fenster. Von der nahen Capelle tönten zu jeder Stunde die Glocken-? schlüge, und al» die Uhr mit langsamen, schw«ren Tönen di«
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)
- Doppelseitenansicht
- Vorschaubilder
Erste Seite
10 Seiten zurück
Vorherige Seite