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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 29.11.1899
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1899-11-29
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18991129022
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1899112902
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1899112902
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1899
- Monat1899-11
- Tag1899-11-29
- Monat1899-11
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Die Morgen-AuSgabe erscheint um '/»7 Uhr, die Abend-Ausgabe Wochentags um 5 Uhr. Nedartion und Lrpedition: AohanniSgaffe 8. Di« Expedition ist Wochentag- ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis Abends 7 Uhr. Filialen: Vtt» Klemm'S Lortim. (Alfred Hahn), Universitätssttaße 3 (Paulinum), Louis Lösche, Katharineastr. 14, Part, und Königsplatz 7. Bezugs-Preis 1» der Hauptexpedition oder den im Stobt. be»irt und den Bororten errichteten Aus gabestellen abgeholt: vierteljährlich^4.50, bei zweimaliger täglicher Zustellung ins HauS e 5.50. Durch die Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: viertestährlich e 6.—. Direkte tägliche Kreuzbandsendung ins Ausland: monatlich e 7.50. Abend-Ausgabe. WpMcr Tageblatt Anzeiger. Ämtsökatt -es Königlichen Land- und Amtsgerichtes Leipzig, -es Rathes und Volizei-Ämtes -er Ltadt Leipzig. Anzeigen-Pret- die 6 gespaltene Petitzeile 20 Pfg. Reklamen unter demRedactionSstrich (-ge spalten) 50 vor den Familiennachrichtrn (6 gespalten) 40/^. Größere Schriften laut unserem PreiS- verzeichniß. Tabellarischer und Zisfernsatz nach höherem Tarif. (sxtra-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderung 60.—, mit Postbeförderuug ^l 70.—. Annahmeschluß für Anzeigen: Ab end »Ausgabe: Vormittags 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittag- 4Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je ein» halbe Stunde früher. Anzeige« find stets an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. Z KV8. Mittwoch den 29. November 1899. 93. Jahrgang, Politische Tagesschau. * Leipzig, 29. November. Wen» das Tempo, in dem die zweite Berathung der Gewerbeordnungsnovelle im Reichstage fortschreitet, nicht wesentlich beschleunigt wird, so wird die Absicht des Präsidenten, nach Eingang des Etats zu dessen Studium einige Tage frei zu lassen, vereitelt werden. Auch gestern wieder hat man viel kostbare Zeit mit einer Debatte ver schwendet, die ganz überflüssig war. Gemäß der Neigung, in ein Gesetz, an dem man gerade arbeitet, alles Mögliche aus anderen Gebieten mit hineinzuziehen, hatte die Commission in die Novelle auch Bestimmungen ausgenommen, welche die Ausdehnung der Kranken versicherung auf die Heimarbeiter bezweckten. Schon damals erhob der Staatssekretär Graf Posa- dowSky hiergegen staatsrechtliche Bedenken und rieth, die Angelegenheit bei der in Aussicht stehenden Novelle zur Krankenversicherung zu regeln; aber es bedurfte gestern erst einer langathmigen und von dem Gegenstände weit ab schweifenden Debatte, bevor das HauS die CommissionS- vorschläge ablebnte. Vielleicht hätte man am besten getban, auch die die Handlungsbeflissenen betreffenden Be stimmungen der Novelle auS dieser auszuscheiden und in einer neuen besonderen Vorlage zusammenzufassen. Freilich bilden diese Bestimmungen den Kern der ganzen diesmaligen Reform. So knüpfte sich denn auch an die Vorschläge über Vie ArbeitSruhe der Ladenverkäufer mit Recht eine längere Debatte. Die Regierungsvorlage bemißt die Minimal ruhezeit auf 10 Stunden und ordnet daneben die Gewährung einer angemessenen Mittagspause an mit der Maßgabe, daß diese Pause, soweit nicht im Hause selbst gegessen wird, von der Gemeindebehörde, und zwar auf mindestens 1 Stunde, zu bemessen ist. Die Commission ist hierüber hinauS- aegangen, indem sie für größere Geschäfte in größeren Orten (über 20 000 Einwohner) die Ruhezeit auf mindestens 11 Stunden festsetzte, für kleinere Orte die gleiche Regelung durch Ortsstatut zuließ und die Mittagspause auf mindestens l'/r Stunden bemaß. Die Social demokraten übertrumpften natürlich diese Vorschläge mit einer Mindestruhezeit von 12 Stunden und einer Mittags pause von mindestens 2 Stunden. Dieser Antrag wurde von allen Seiten als rein agitatorischer erkannt und der Staats sekretär Graf v. Posadowsky gebrauchte das Bild, daß die Socialdemokraten, wenn Regierung und Reichstag sich in ernster Arbeit bemüht haben, eine praktische Besserung im Interesse der Arbeiter zu schaffen, ihnen den Wind aus den Segeln nehmen, indem sie einen schnell fabricirten weitergehenden Antrag einbringen, um dessen Durch führbarkeit sie sich nicht kümmern. DaS Bedenken, daß die Durchführbarkeit gegenüber den bestehenden Gewohnheiten nicht genügend gesichert sei, hielt der Staatssekretär auch dem CommissionSvorschlage entgegen. Im Wesentlichen stellten sich auf den Standpnnct der Regierungsvorlage auch die Redner der Rechten, die Abgg. v. Tiedemann, Frei herr v. Stumm, Iacobskötter, während die Abgeordneten Bassermann und Hitze die Commissionsbeschlüsse vertraten. Der Redner der Socialdemokraten, Abg. Rosenow, ent- büllte die Absichten seiner Partei mit aller wünschenöwerthen Deutlichkeit, indem er am Schluffe für die Leser der social demokratischen Sitzungsberichte aus der Verhandlung das Ergebniß entnahm, daß die Handlungsgehilfen sich an die ziel- und classenbewußte Socialdemokralie anschließen müßten, wenn sie etwas zur Besserung ihrer Lage erreichen wollten. Die Commissionsvorschläge gelangten nach Ablehnung der socialdemokratischen Anträge, für die auch die Freisinnigen stimmten, zur Annahme mit einem aus den socialdemo kratischen Anträgen entnommenen Zusatze, der die Gewährung von Sitzgelegenheit vorschreibt. Die Berathung der Gewerbe ordnungsnovelle wird nunmehr zu Gunsten der Initiativ anträge auf Einbringung eines NeichSberggesetzes unter brochen, die auf der heutigen Tagesordnung stehen. Anknüpfend an die Thalsache, daß der volksparteiliche Reichstagsabgeordnete Jacobsen und der socialdemokratische Abgeordnete Aast er in Concurs gerathen sind, geht durch einen großen Theil der Presse eine staatsrechtliche Darlegung, die der Berichtigung und der Ergänzung dringend bedarf. ES wird so dargestellt, als ob die ReichSversassung Be stimmungen über die Wählbarkeit enthalte. In Wirklichkeit ist es aber das Wahlgesetz vom 31. Mai 1869, das hierüber Bestimmungen enthält. Und zwar sind es die Paragraphen 3 und 4 des Wahlgesetzes, die in Frage kommen. 8 4 lautet: „Wählbar zum Abgeordneten ist im ganzen Bundesgebiete Jeder . . ., welcher das 25. Lebensjahr zurückgelegt und einem zum Bunde gehörigen Staate feit mindestens einem Jahre angehört hat, sofern er nicht durch die Bestimmungen in dem 8 3 von der Berechtigung zum Wählen ausgeschlossen ist." Nach § 3 sind von der Berechtigung zum Wählen aus geschloffen: «... 2) Personen, über deren Vermögen ConcurS- oder Fallitzustand gerichtlich eröffnet worden ist, und zwar während der Dauer dieses ConcurS- oder Fallit- verfahrenS." AuS diesen Bestimmungen deS Wahlgesetzes folgert ein freisinniges Blatt und nach ihm ein großer Theil der Presse, daß zwar im ConcurS bcfinvliche Personen nicht wählbar seien, daß aber keine Bestimmung vorhanden sei, der zufolge das Mandat eines erst nack der Wahl in Concurs gerathenen Abgeordneten erlischt. Die gesunde Vernunft muß im Gegensätze hierzu die Auffassung festhaltcn, daß daS Mandat in dem Augeublicke erlösche, in dem die Voraus setzung der Wählbarkeit fortfällt. Uebereinstimmend sind auch die Staatsrechtslehrer Herrn. Schulze, Georg Meyer, Laband, von Rönne und Seydel der Meinung, daß die Eigenschaft deS einzelnen Abgeordneten durch den Verlust der für die Wählbarkeit erforderlichen Eigenschaften erlöscht. Bestärkt muß Jeder in der Ueberzeugung von der Richtigkeit dieses StandpuncteS werden, welcher den Einfluß deS Concurses auf die allgemeine rechtliche und sociale Stellung deS Gemeinschuldners sich ver gegenwärtigt. Ein politisch der freisinnigen Partei nahe stehender Gelehrter, L. von Bar, schreibt hierüber im „Handwörterbuch für Staatswissenschaften" u. a. daS Nach stehende: „So lange das ConcurSverfahren dauert, erleidet übrigens der Schuldner Wohl überall eine gewisse Minderung seiner öffentlichen Rechte; er verliert das sogenannte passive Wahlrecht, den Sitz in gesetzgebenden Versammlungen und öffentliche von ihm bekleidete Ehrenämter, daS Recht, aus der Börse zu erscheinen, häufig auch daS sogenannte active Wahlrecht in öffentlichen Angelegenheiten ... Wäh rend deS ConcurseS ist .. der Gemeinschuldner auch einer gewissen diSciplinaren Aussicht deS Verwalters und bezw. des Gerichts unterworfen. Er kann z. B. behufs AuSkunfts- ertheilung vor Gericht zu erscheinen gezwungen und unter Umständen in Haft genommen werden." — Wir meinen, es sei, abgesehen von der vernunftgemäßen Auslegung der ein schlägigen Bestimmungen deS Wahlgesetzes, ein Unding, daß Jemand als Gesetzgeber sollte auftreten dürfen, der daS Recht, auf der Börse zu er scheinen, verloren hat. Mit Bezug auf das jüngste Samoa-Abkommcn wird den „Berl. N. N." aus London berichtet: „Die Unionsregierung hat einer „Reuter-Meldung" aus Washington zufolge die Anerkennung des deutsch-englischen Samoavertrages aus mehr formellen als materiellen Gründen abgelehnt und den Regierungen in Berlin und London aus deren Veranlassung de» Entwurf eines Abkommens vorgelegt, von dem sie zuversichtlich hofft, daß er allen drei Re gierungen genehm fei» wird." Die „Berl. N. N." bemerken hierzu: Nach unseren an maßgebender Stelle eingezogenen Informationen besteht hinsichtlich des materiellen Inhalts zwischen den drei Regierungen keinerlei Meinungsverschiedenheit. Bei den jetzt schwebenden Unterhandlungen kann es sich nur noch um die Form handeln, in welcher der Beitritt der Union zu dem deutsch-englischen Vertrage zu vollziehen sein wird. Da die bis herigen Abmachungen bezüglich Samoas immer zu Dreien geschehen sind, so dürfte auch die Neuregelung der samoanischen Frage ihren Abschluß in der Weise finden, daß eine Uebereinknnft zwischen Deutschland, England und Amerika getroffen wird. Mit Bezug auf die den Vereinigten Staaten überlassene Insel Tutuila schreibt die „New Horker HandelSztg.", Vor kehrungen für die praktische Verwerthunz deS HasenS als Flotten- und Kohlenstation seien schon seit einiger Zeit im Gange. Gleichzeitig erinnert daS Blatt an die Vorgeschichte dieser amerikanischen Erwerbung: In dem Berichte des von der Bundesregierung seiner Zeit wegen Abschlusses eines de» Hase» Pago Pago betreffende» Vertrages nach Samoa entsandten Commissars heißt es: „Der Hafen vermag einer großen Flotte Unterkunft zu gewähren; er ist vor Stürmen geschützt und gegen Angriff« vom Lande wie vom Meere aus leicht zu Vertheidigen. Ihrer geographischen Lage wegen bilden die Samoa- Inseln eine wichtige Station auf den Routen von San Francisco nach Auckland, von Panama nach Sydney und von Valparaiso nach China und Japan; zudem liegen sie außerhalb der Sturm- region des Stillen Meeres. AuS diesen Gründen eignet sich Pago Pago in vorzüglicher Weise als Kohlenstation für Segel- oder Dampfschiffe, und mit der Zeit mag sich der Hafenort zu dem im Handelsverkehr von Polynesien hervorragendsten commerziellen Platze entwickeln." Die schon in dem im Jahre 1887 von dem Bundes-Commissar Goward über Pago Pago erstatteten Berichte hervorgehobene Bedeutung jenes Hafens erhöht sich noch durch die Besitzergreifung der ganzen Insel durch die Vereinigten Staaten, durch die Controle, welche letztere nunmehr über Hawai und die Philippinen ausüben, durch den vor aussichtlichen Bau deS Nicaragua-Canals, sowie durch den sich in rapider Weise entwickelnden HandeSverkehr zwischen den Bereinigten Staaten und den großen Märkten von Asien und Oceanien. Das Interesse der Bereinigten Staaten an den Samoa-Jnseln und be sonders an Tutuila datirt vom Jahre 1872, als Commander MeaLe von der Bundes »Marine mit dem Häuptling Manuga der genannten Insel einen Vertrag abschloß, durch welchen der Hafen Pago Pago in den Besitz der Ver einigten Staaten übergehen sollte, unter der Bedingung, daß letztere eine freundschaftliche Allianz eingingen, also gewissermaßen ein Protectorat über die Insel auSüben sollten. Präsident Grant wies in seiner Botschaft an den Senat auf die großen Bortheile hin, welche ein solcher Vertrag den Vereinigten Staaten gewähre, doch sprach er sich gegen ein Protectorat aus, indem solches der Bundes regierung Verpflichtungen von weittragender Bedeutung auferlegen würde. Die in dem Vertrage enthaltene, eine Schutzverpflichtung vorschende Klausel wurde später vom Senat modificirt uud der Ver trag dann am 7. Januar 1878 vom Präsidenten unterzeichnet. Die Erinnerung daran, daß die Vereinigten Staaten im Jahre 1878 kein Protectorat über die Insel Tutuila über nehmen wollten, kennzeichnet drastisch die in der auswärtigen Politik der Union eingetretene Veränderung. Der Krieg in Südafrika. —L>. Mit großer Spannung erwartet man, wie die Ereignisse in Ratal sich gestalten werden. Dort stehen jetzt die beiden Höchst- commandirenden Sir Redvers Buller und Piet Joubert einander gegenüber ; dort in der Gegend von Co le »so häufen sich solche Truppenmaffen, daß ein Zusammenstoß unvermeidlich erscheint, dort muß auch endlich die Ent scheidung über daS Schicksal von Ladysmith fallen. Aber die Lage ist Dank der Beweglichkeit der bocrischen Truppen, die hier und dort und allerwegen auftauchen, so verworren, daß an ihr alle Berechnungen über strategische Möglichkeiten zu Schanden werden. Auch daS amtliche Telegramm des Generals Buller aus Pieter maritzburg vom 26. hat nicht viel Licht in das Dunkel ge bracht. Daraus ist nur ersichtlich, daß General Hildyard südlich von Colenso bei Frere steht, daß die Telegraphen- und Bahnverbindung bis dahin nach Süden wieder offen ist und daß General Barton die Bereinigung mit Hildyard erstrebte. Die Vereinigung war am Sonntag Abend — entgegen einer, den Ereignissen voraufeilenden nicht amtlichen Meldung — noch nicht erfolgt. Von den Bewegungen deS Gegners weiß General Buller nichts zu melden. Indessen bestätigt ein Telegramm des Gouverneurs von Natal von demselben Tage, daß die Boeren von Mooi River nach Nordosten über Weenen aus gewichen sind. Diese Bewegung würde also die Ver- muthung bestätigen, daß die Boeren sich bei Colenso sammeln, um de »Versuch Hildyard'S und Barton'S, Ladysmith Entsatz zu bringen, zu vereiteln. Andererseits freilich melden die „TimcS", daß auch südlich von Estcvurt, also im Rücken der beiden Brigaden, bei Highlands, noch eine Boerenabtheilung steht und daß eine von Estcvurt abgesandte fliegende Colonne auf Flinten schußweite an sie herangekommen ist. Ucber die Stärke dieser Abtheiluug erfahren wir nichts, es entzieht sich daher vor läufig der Beurtheilung, ob sie den Auftrag hat, von Durban und Pietermaritzburg heraurückenden englischen Truppen hier den Weg zu verlegen, während ihre Kameraden bei Colenso mit den Brigaden Hildyard und Barton abrechnen. Immerhin bedeutet, wie die „Köln. Ztg." die Lage beurtheilt, diese Boerenabtheilung bei Highland einen dunkeln Punct in der Feuilleton. . »v—» i5j Das Pflegekind. Roman von Elsbeth M ey e r - F ö r st e r. Nachdruck »crbotrn. „Ja, ich werde mich produciren", sagte sie leicht und obenhin, als spräche sie zu einem Fremden. „Denn ich muß Geld verdienen, um mein Kleines würdig zu empfangen. Aber wenn es da ist, — wenn es erst da ist, sage ich Dir " Sie brach ab, als verlohne es sich nicht, weiter zu sprechen, diese'Gedanken, die ihre Seel« mit so vielem Licht erfüllten, nähe: auszudrücken. Eilig trat sie in die Kleiderkammer, um ihren Bühnenputz herdorzusuchen. Zum ersten Mal« seit langer Zeit kam ein Lied von ihren Lippen, ein Helles, jauchzendes Schmettern, während sie den Tricot über ihren Körper zog und die kleine, goldene, ihr bei einer Preisvertheilung zuertheilte Medaille auf ihrer Brust bdfostigste. Jerüme blieb im Wohnzimmer zurück. Er sah auf die halb offene Thür, hinter der Nettchen soeben jubelnd verschwunden «war, und ein bohrendes Gefühl des Neides, der Unfähigkeit, sich auch zu freuen, stieg in seinem Innern auf. Ja, das war es: sich die Schlinge um den Hals werfen lassen: heirathen, Nahrungslsorgen haben, Kinder kriegen, keine Carriöre vor sich sehen, die Freiheit dran geben, draufgehen in dem häus lichen Philistertum, während die Freien, Klugen in der Welt ihr Glück versuchen. Und er sollte sich freuen? Er ballte die Hände. Warum hatte er sich so irre leiten lassen, er, der scharfblickend«, vorwärts dringend« Mensch; wie hatte er sich verleiten lassen können, in dieser kleinen Artistin eine Gefährtin für's Leben zu sehen, wie er sie suchte, leichtlebig, kalt, berechnend und schlau, ein Welt- und Bllhnenkind ohne Skrupel und langweilige Anforderungen, — für Paris und die Carriöre geschaffen?! Seine Worte von einst fielen ihm ein, die er ihr zu jener Zeit, als noch völlige Fremdheit zwischen ihnen stand, gesagt hatte: „Daß Sie sind ein Mädchen mit kalten Sinnen, mit blondem Haar, aus guter, bürgerlicher Familie, und daß Sie nicht passen zu Mademoiselle vom Trapez —" Damals, damals war er klug gewesen, um sich schließlich doch jnS Garn locken zu lassen, wie Ändere. — Nettchen trat ein. Ihre Wangen brannten, in ihren Augen glühte Feuer, aber nicht die ruhelose Flamme von einst. Der in sich gekvhrte, leuchtende Blick, mit dem sie über ihren Mann hin- wegsvh, verrieth Träume an eine neue Welt, die fernab lag, weltenwsit von dem unsauberen Fremdenquartier in Mont martre. „Hättest Du immer so ausgeschcrut!" rief Jerüme unwillkür lich aus, „dann hätten Dir andere Erfolge geblüht. O, Du bist schön. Du wirst die Menschen hinreißen, komm', küß mich, sei mir gut." Sie schob ihn von sich weg. „Fort!" sagte sie, — nur das eine Wort. „Ich kaufe Dir einen Schmuck", flüsterte Jerüme, „komm, sag' mir, was Du Dir wünschst, Du sollst Alles von mir haben." — Sie schritt an ihm vorbei, durch den Flur, die Treppen hinab. Unten vor der Hausthür stand sie aufathmend stille. Der Himmel mit Milliarden Sternen lag wie ein unendlicher Kirchenbogen über der Welt. Eine kalte, frische Vorsrühlingslust stand fast wie in greifbarer Wesenheit in den Straßen. Nettchen hüllte sich tieser in den weiten Mantel, der ihren Theaterpuh verbarg. Sie hob die Augen zum Himmel empor, und zum ersten Male in ihrem Le'brn stammelten ihre Lippen etwas wie Gebet. Wie an der Blume sich unter der sengenden Gluth die Blüthen- blätter trocknend aufrollen, so zog ein leises, feines Welken über Nettchen hin. Unter ihren Augen entstanden große, blaue Ring«, die wie 'dämmrige Inseln den leuchtenden Blick umrahmten. Ihr Ge sicht wurde hagerer, -das Roth auf ihren Wangen verwischte sich, ihre Gestalt wur-de breit und schwer, und langsam näherte sie sich dem Bilde der gesegneten Frau, die ihre äußere Schönheit hingiebt für die Füll« inneren, hoffnungjauchzenden Reichthums. Ende April weigerte sie sich standhaft, di« Bühne noch weiter zu betreten und sich vor dem Publicum zu produciren. Ein düsterer Blick aus Jerüme's Augen traf sie, er prallte jessoch an ihrem in die Ferne gerichteten, träumenden Lächeln ab. Die ersten Veilchen blühten, und sie wanderte hinaus ins Bois de Boulogne, unter die Schaaren festlich und leuchtend ge kleideter Menschen, die wie vom Frühling beflügelt dahin schritten, laut sprechend, laut lachend, als flösse Wein durch ihre Adern. Auch übe: Nettchen kam singende Frühlingsstimmung, eine un endlich«, friedliche Heiterkeit, voll Träumen, Hoffnungen und Erinnerungen. Und als sie die vielen aneinander geschmiegten Paare betrachtete, diese glücklichen, jungen Eltern, die ihre Kinder auf dem Arme trugen, oder im Wägelchen mit sich führten, da schwoll auch ihre Seele nach solch' einem gemein samen Glück, und der Wunsch, ihrem Kindlein zugleich mit dem Leben den Vater zu schenken, das Glück dec beiderseitigen Eltern liebe, ergriff sie mit stürmischer Gewalt. Der Gedanke brachte ihr Herz zu raschem, fast wildem Klopsen, unv während sie der ihr begegnenden Menschen nicht achtete, lief sie unaufhaltsam weiter. Jetzt, wo ihr Leben auf der schwanken Waag- schwebte, erwachte in ihr doppelt die hilfsbedürftige Sehnsucht des Weibes, sich anzulehnen an den stärkeren Mann, ihre Seele mit der seinen zu verbinden, um gegen die Dunkelheit, das nahe Gchrimnißvolle im Schutze seiner Arme anzukämpfen. Die Liebe zu Jerüme, die mißhandelte, zertretene und einst doch so heiße Liebe stieg wieder auf aus den Tiefen ihres Herzens und erfüllte sie mit einer zitternden Hoffnung. Je mehr sich das Wunder ihres Körpers entwickelte, desto stiller wurde Nettchen nun, desto inniger vertiefte sie sich in die Träume für die Zukunft. Ihre quälenden Gedanken um ihr getäuschtes Eheglück streifte sie ab wie eine lästige Winterhülle, und nur noch Gedanken an das Kind erfüllten sie. Zum Juli würde es das Licht der Welt erblicken! Und sie sah sich im Geiste neben dem schwarzen, bla »verhüllten Korbwagen hergehen, heiter und ruhig, wie andere junge Mütter, die breiten Boulevards im Sonnenschein entlang ziehen, bis hinab ins Bois de Boulogne. Der Kampf, de: sie in wenigen Jahren so verändert hatte, daß sie sich selbst säst nicht mehr erkannte, der Kampf mit dem ihr an getrauten Manne entschwand mehr und mehr ihrem Gefühls leben, und Wärme und Innigkeit, die erst durch die große Ver einsamung in ihr hatten geweck: werden müssen, erfüllten sie ganz. Aber je mehr sie sich dem entscheidenden Tage näherte, desto heftiger stellten sich bei ihr die vielen ängstlichen kleinen Züge ein, welche den Frauen in dieser Zeit einen so hilflosen Aus druck verleihen. Sie wagte fast nichi mehr, auf die Straße zu gehen, und in der Dunkelheit der Abende, an denen sie allein zu Haufe war, wurden auch ihre Gedanken dunkel, und sic fürchtete sich wie ein Kind. Jerüme empfand die Unbequemlichkeiten, welche der ver änderte Zustand für sein, und Nettchen's Leben brachte, von Anfang an als etwas Lästiges, das ihn mit Unmuth erfüllte. Seit einiger Zeir trat Nettchen nicht mehr auf der Bühne auf, und der Verdienst von ihrer Seite fiel also fort. Auch das ge flügelte und Vierfüßige Personal mußte bis zur Zeit, wo sich ein Käufer für dasselbe finden würde, in Pflege gegeben werden, denn Nettchen halte ihrem Manne erklärt, daß sie nach der Geburt des Kindes für keinen Fall ihren Beruf wieder aufnchmen werde. Der Gedanke, das Kind allabendlich zu verlassen, um fremden Leuten Narrenspossen vorzumachen, erfüllt« sie mit Abscheu. Je mehr sich die alleinige Verantwortlichkeit für den Haus stand und dessen Kosten auf Jerüme's Schultern niedersenite, desto finsterer wurde dessen Wesen, desto barscher und härter. Von dem geschmeidigen, eleganten Mann, dessen vornehmes Aeußere noch immer die Augen aller Frauen auf sich lenkte, blieb für das Haus nur die Eleganz der Hellen Anzüge und blendenden Cravatten übrig. D«r falsche Jerüme Seitre, der leichtlebige, vielbewunderte Artist, spazierte in den Boulevards, der wahre aber, ein kaltherziger Egoist, voll enger Berechnungen und grau samer Ichsucht, kehrte immer düsterer in das kleine Heim auf Montmartre zurück. — Eines Tages, als Jerome das Vorzimmer betrat, das zu dem Apactement der Seitres gehörte, sah er einen großen, schön an gestrichenen Kinderwagen stehen, mit weißen M'ullgardinen, blauem Futter und funkelnden, vernickelten Spiralen. Er maß den Wagen mit Augen, wie man etwa ein bissiges Thier mißt, machte einen Bogen rund herum und trat in das Wohnzimmer. Auf dem Tische sah ec einen Zettel liegen. Es war die Rechnung für den gelieferten Wagen, welch« von der Logis geberin in das Zimmer gebracht worden war. Jerüme überflog die Note und schleuderte sie auf den Tisch zurück. »Fünfzig Francs für das Ding, diesen läppischen Wagen. — Warum konnte das Kind nicht im Bette neben der Mutter schlafen, wenn es erst da sein würde, tvarum nicht in einer Lagerstatt auf dem Sopha? Die exaltirte Freüo« seiner Frau aus das „Ereigniß" konn:e er durchaus nicht theilen. Er sah eine Last, eine Qual in diesem ihm von der Zukunft aufgedürdeten Geschenk. Er hatte keine Mittel, um sich die Extravaganz eleganter Kinderwagen zu ge statten. Er würde nicht darben und entbehren, um diesem zu erwartenden Fräulein Tochter und der Mama alle Bequemlich keiten zu schaffen. — Ohne sich nach Nettchen umzuihun, die in einer Nebenkammer die erste, selbstgesertigte Kinderwäsche in die Trühe packte, ent fernte er sich wieder, seiner Häuslichkeit auf eine grenzenlose Weise überdrüssig. Als er spät in der Nachr den Heimweg aus seinem Stamm cafe antrat, war er nicht sicher auf seinen Füßen. Langsam schlenderte er di« Rue de la Paix entlang, dem
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