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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 30.11.1899
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1899-11-30
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18991130025
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1899113002
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1899113002
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1899
- Monat1899-11
- Tag1899-11-30
- Monat1899-11
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halt derselben auf das Brett, „Oologue-troüüöws'', flüsterte sie. Die Dame hinter dem Schalterfenster reichte, ohne aufzu blicken, ein Billet heraus und nannte eine Summe in Francs. Nettchen schob Alles hin, was sie auf das Brett geschüttet hatte. Jetzt blickte die Dame am Schalter verwundert auf. „D'est. tiop, mackemoiseUe", sagte sie etwas ungeduldig, indem sie fast die Hälfte des ihr Gereichten kurz zurückschob. „Eine Fremde", dachte sie, „o, diese unbehilflichen Deutschen!" Sie sah der sich Ent fernenden nach. Wie unselbstständig, wie blöde sich diese Frauen auSnahmen! Mit unschlüssiger Mene stand Nettchen inmitten der Halle, hilflos auf das Billet in ihren Händen niederblickend. Bis hierher hatte ihre Ueberlegung gereicht, jetzt kam wieder diese stumpfe, verworrene Müdigkeit über sie, die Gleichgiltigkeit gegen Alles. Die Dame am Schalter hatte einen Bahnbeamten aufmerksam gemacht, höflich trat er an Nettchen heran. Wohin sie wolle? Sie schlug die Augen zu dem Frager auf. Er sah in ein blasses, verwirrtes, vom schwarzen Trauerschleier wie von Schatten eingerahmteS Gesicht. „Oologne!" flüsterte sie ein zweites Mal. Der Beamte nahm ihr daS Billet aus der Hand und prüfte es. Muis 9» pi-vsss vivewvnt", rief er aus. „Vever, mrulame, s'il vous plait." Er führte sie zu dem bereits auf dem Perron stehenden Per sonenzuge. „Eine Kranke", dachte er, „und so etwas läßt man allein in der Fremde hrrumziehen." Väterlich half er ihr in das FrauencoupS, in dem schon eine dicke, alte Bäuerin auS der Nor mandie mit verschiedenen Marktkörben Platz genommen hatte. „Xtteution s'il vous pluit, msäame, c'sst unv pstite ma- lacko!" schrie er der Dicken zu, während der Zug sich langsam vor wärt» zu bewegen begann. Dann legte er die Hand an die Mütze und grüßte militärisch nach dem CoupS dritter Classe hin. ES war ihm, als müsse er der davonfahrenden Fremden, der Niemand daS Geleit gab. Niemand einen Gruß zuwinkle, einen Liebesdienst erweisen. In Jeumont stieg die Bäuerin au», die, abgesehen von ihrer Taubheit, schon ihrer großen, wollenen Mühe wegen den Zuruf deS Beamten gar nicht hätte vernehmen können. Die junge Frau blieb allein im CoupS, schloß di« Fenster, lehnte sich zurück und blickte in die langen Abendschatten, welche langsam über die Felder niedersanken. Dann schloß sie ermüdet die Augen und glitt in Schlummer hinüber. Sie schlief lange, tief und fest, von dem Nollen der Räder, dem Schlottern und Buffen und Brummen unter sich ganz betäubt. E» war ein Schlaf, in dem sich wieder ihre wieder zum Leben genesene, nur noch unendlich schwache und zusammengesunkene Natur zum ersten Male seit Wochen wieder erhob, sich förmlich streckte und dehnte. Als sie erwachte, hatte sie zwölf Stunden fest und tief geschlummert. Sie richtete sich auf, rieb sich die Augen und blickte sich staunend um. Der müde Druck in ihrem Gehirn war beinahe ganz gewichen. Die Nacht war vorbei, die ersten Morgenstrahlen drangen durch die ge schlossenen Vorhänge in das CoupS. Es mochte drei Uhr Morgens sein. Eine wallende, wogende Gluth schien draußen vor den Fenstern zu schwimmen, — Nettchen schob die Vorhänge zurück und geblendet sah sie hinaus in den Sonnenaufgang. Alles glühte, lohte, schien in unendlicher Freude zu glänzen; die reichen, gelben Kornfelder waren von rosa Licht umflossen, in dem Weiher, an dem der Zug vorbriflog, zuckten unzählige, rothgelbe Speere auf. Ein trunkenes Schwalbengeschrei girrte unter dem Himmel, die Welt schien von Heller, jubelnder Freude erfüllt. „Herbesthal!" rief die Stimme des Schaffner»; die CoupSthüren wurden auf gerissen, Menschen strömten herbei. „Hier — Steig' rin — Leb' wohl! — Grüße Alle!" schwirrte es an Nettchen'- Ohren; sie fuhr auf, starrte hinaus, und Thränen stürzten über ihre Wangen. Deutsche Leute, deutsche Herzen — keine eisige, grausame Fremde mehr, die das Herz erstarren macht, — Heimath! Heimath!!! Schluchzen erschütterte sie, das Eis, die Erstarrung, waren ge brochen. Unaufhaltsam, wie aus gethauten Quellen, fluthete e» aus ihren Augen, ihre Seele bebte und weinte, und doch floß un endliches Glücksgesühl in diesen tiefen, erlösenden. Schmerz. Er wacht war daS erstarrte Bewußtsein, sie konnte wieder fühlen, konnte denken, — der furchtbare Bann, der die Seele nach den Ereignissen der letzten Wochen niedergehalten hatte, war ge nommen, — sie war gerettet! — Gerettet zum Leben sein, wenn man der Verzweiflung so nabe gewesen ist, — Nettchen faltete die Hände, ein immer wieder heißes Schluchzen erschütterte sie. Die Erinnerungen kamen, thauten auf in ihr, eine nach der anderen; sie sah wieder die MiethScasrrne auf Montmartre und ihr öde», fremde» Heim, sah den kleinen Grabstein mit der winzigen Tafel, und sie hob den Blick zum Himmel und sagte: „Gott, Du hast es wohl gemacht!" Fremde Frauen stiegen ein, sie sprachen die junge Frau in Trauerkleidern an, und sie antwortete mit einer dankbaren, er schütterten Stimme. Freundliche, theilnebmende Worte drängten zu ihr hin, wie streichelnde Hände; sie fühlte Mitleid und Güte, man reichte ihr Wein und fragte sie nach ihrer Weiterreise. „Berlin, — dort habe ich Angehörige!" Und bei dem Ge ¬ danken, daß sie dem Allen so nahe sei, den Menschen, die sie einst liebten, die sie verlassen hatte, zuckte Sehnsucht durch ihr Herz, leidenschaftliches Verlangen, vor sie hinzutreten, sich niederzu werfen und um Verzeihung zu flehen. „Nur noch vierzehn Stun den", sagte eine der Frauen, „dann sind sie dort!" Nettchen wieder holte das Wort wie etwas Unfaßbares. Vierzehn Stunden! Konnten die je zu Ende gehen? Auf der Hinreise nach Paris — damals — in jener fernen, jetzt so weit liegenden Zeit Warrn ihr die Stunden verflogen wie Minuten, Sehnsucht nach dem fremden Lande hatten sie gekürzt — jetzt schlichen sie hin gleich Jahren, und das Ziel, Berlin, die Heimath, schien ferner zu rücken mit jeder Station, die der Zug erreichte, die immer noch Meilen und Meilen zwischen sie und den Ort der Sehnsucht drängte. — Schöner, sonniger Sommernachmittag lachte über der Spree stadt, als Nettchen den Kölner Zug verließ und sich dem AuSgang« des Bahnhofes zuwandte. Ihr Herz klopfte in wilden Schlägen, sie hätte aufjauchzen, die Arme öffnen und die Heimath, die theure, geliebte Heimath, an ihre Brust pressen mögen. Alle Menschen schienen ihr schön und liebenswerth und di« ganze Stadt in himmlische Farbe getaucht! HeimathSjubel sondergleichen erfüllte sie, rin Gefühl der Geborgenheit, — sie hätte sich mögen auf einen Stein vor fremder Hausthür setzen und dort sorglos ruhen, erfüllt von dem Bewußtsein, daheim zu sein, bei Menschen, die ihre Sprache verstanden. ES war staubig und warm in der Friedrichstraße, aber Nettchen athmete beim Verlassen der Bahnhofshalle die Luft mit vollen, durstigen Zügen ein. Alles, wa» um sie herum vorging, das Eilen, Hasten, Rufen, Schreien, erfüllte sie mit Spannung, die Ei»- und Früchtevrrkäufer, die Blumenmädchen, Zeitungs männer und Zettelträger zogen ihre Augen immer wieder mag netisch an, während sie sich jetzt durch das Gewühl schiH, den Linden zu. Der Omnibus brachte sie hinaus nach Moabit. Da» war der Stadttheil, in dem sie ihre Jugend zugebracht hatte, vom großen, mächtigen Berlin erst ihre wahre Heimath, und sie fühlte ihr Herz bei jedem bekannten Ladenschild, jeder vertrauten Straßenecke erbeben. Einst, al» sie von den Ihren fortzog, um „Stub' und Küch'" zu suchen, war sie kalt von dem Allen geschieden — da mals wußte sie noch nicht, wa» Scheiden und Meiden heißt. Eine wie Andere war sie geworden!! — Ein ganze» Menschenleben schien ihr zwischen heute und diesen Jugendjahren zu liegen; und dennoch — sie rechnete fieberhaft noch, — noch keine acht Jahre waren'» her. Mit sechzehn war sie damal» in da- Centrum hinausgezogen in die kleine Hofwohnung, in der Paul sie der- I 182,«o ! 265,— t. ««: k'sor. 2S/U) ,vr»k ») Sodu«Il- 218,30 212,OS 218,70 128,— 258,70 202,50 208,25 222.75 128,40 130,30 04,SO 87,65 215.75 402,— er - v,02>. 1 V ^orL, lll k«r IVO,— 330,— 170,50 117 — 118.75 128,— 132.75 356,— 602,— 415,— 173.50 msv/Ladr. verboten.) : 158,75 218,25 178,50 . 138.50 272.— 215,— 16,80 ker. kremen 1«»>p»i r een <28 LI) In Kotter >rud," von 388,— 281,80 ! 130,75 140.25 188,— 282,10 160.25 157,50 157,— 107,— "1 öriek XX) >4500 >oo 8100 — 550 XX) 4800 !00 3275 XX) >75 2675 i75 3625 — 3400 4600 150 11350 18300 — 10200 350 10900 150 —— 15O 14750 »25 5025 — 4125 300 875 175 15bO 350 3725 250 — 500 2575 325 3375 14000 — 2775 200 4250 — 100 — 4650 — 320 ooo 24300 1350 »01 5050 »oc 3650 —M» I >0 soc 12775 65c 710 — 1125 — 4600 25< »16L00 — 1400 Oeusrnt lot» Uittrl- xsouclir, also Xeus Bezitgs-PrekS kn der Hauptexpediiion oder den km kttdt» bezirk und den Vororten errichteten Aus gabestellen abgcholt: vierteljährlich >14.50, bei zweimaliger täglicher Zustellung ins Haus ö.üO. Durch die Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: vierreljädrlich 6.—. Dirccte tägliche Kreuzbandiendnng ins Ausland: monatlich 7.50. Die Morgen-Ausgabe erscheint um '/,? Uhr» die Abend-Ausgabe Wochentags um 5 Uhr. Filialen: Otto ktlcmitt'S Sortim. (Alfred Hahn), Universitatsstraßc 3 (Paulinum), Louis Lösche, Katharinenstr. 14 Part, und Königsplatz 7. Redaktion und Expedition: Johannisgasse 8. Die Expedition ist Wochentags ununterbrochea geöffnet von früh 8 bis Abends 7 Uhr. Abend-Ausgabe. KiMcr TaMatt Anzeiger. Amtsblatt des Königlichen Land- nnd Amtsgerichtes Leipzig, des Mathes nnd Nolizei-Nmtes der Ltadt Leipzig. M. Donnerstag den 30. November 1899. Anzeigen-Preis die 6 gespaltene Petitzeile 20 Pfg. Reklamen unter dem Redactionsstrich (»ge spalten) bO/H, vor den Famtlieanachrichtrn (6 gespalten) 40/H. Größere Schriften laut unserem Preis- verzeichnitz. Tabellarischer und Ziffern^- nach höherem Tarif. Extra-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbefvrderung SO.—, mit Postbefürderung 70.—. Annahmeschluß für Anzeigen: Ab end »Ausgabe: Vormittag» 10 Uhr. j Morgen »Ausgabe: Nachmittag» 4 Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stet» an dir Expedition zu richten. > 6»»^> Druck und Verlag von E. P olz tn Leipzig 83. Jahrgang.: Politische Tagesschau. * Leipzig, 30. November. Nachdem gestern der Reichstag in 5>/, stündiger Sitzung einen Anfang mit der Berathung der auf Vorlegung de- Entwurfs eines Reichsberggesetzes gerichteten An träge gemacht hat, wird er beute die zweite Berathung der GcwcrbeordnungSnovelle fortsetzen, die nun schon fünf Tage gedauert und trotzdem erst etwa die Hälfte deö gesammten BerathungSstoffes bewältigt hat. Bei der Fülle diese» Stoffes dürfte es am Platze sein, die positiven Resultate der bis herigen Berathungen kurz zusammenzufassen: Für Gesindevermiethung und Stellenvermittelung ist die Concessionspflicht Angeführt; den Gesindevermiethern und Stellenvermittlcrn kann insbesondere die Ausübung de» Gewerbe» im Umherzikhcn und die gleichzeitige Ausübung des Gast» und Schank» wirthschastsgewerbeS beschränkt oder ganz untersagt werden; ferner sind sie verpflichtet, ihre Taxe der OrtSpolizeibehörde einzureichrn und in ihren Geschäftsräumen augenfällig aufzuhängen. Die keinem Erwerbszweck nachgehenden Arbeitsnachweise werden von dem Gesetz nicht betroffen. Für Barbier» und Friseurgeschäste kann auf Antrag von mindestens zwei Dritteln der betheiligten Geschäftsinhaber in einem Orte durch die höhere Verwaltungsbehörde bestimmt werden, daß an Sonn» und Festtagen rin Geschäftsbetrieb nur insoweit statt finden darf, als eine Beschäftigung von Gesellen und Lehrlingen gestattet ist. Für „bestimmte" Gewerbe — gemeint ist in erster Linie die Kleider- nnd Wäscheconfection — kann der BundeSrath Lohnbücher oder Arbeitszettel vorschreiben. In diese sind von dem Arbeitgeber oder seinem Bevollmächtigten einzutragen: Art und Umfang der übertragenen Arbeit, bei Accordarbeit die Stückzahl, ferner dir Lohnsätze und die Bedingungen für die Liefe rung von Werkzeugen und Stoffen. Angenommen ist die Uebertragung der KündigungS-Bestimmungen des Handelsgesetzbuches aus die Werkmeister, Techniker u.s.w., wonach für beide Theile — Arbeitgeber und -nehmer — gleiche Kündigungsfristen gelten sollen. Ferner ist die Bestimmung angenommen, daß auf Losten de» Arbeitgebers für jeden minderjährigen Arbeiter ein Lohn» zahlungsbnch einzurichten ist, in das der Betrag deS verdienten Lohnes eingetragen wird und das bei jeder Lohnzahlung wieder zurückgercicht werden muß. Den Kernpunkt der bisher erledigten Paragraphen bilden die Bestimmungen über die Gehilfen, Lehrlinge und Arbeiter in offenen Verkaufsstellen. Für diese ist eine Minimalruhezeit fest gesetzt, und zwar gleichmäßig auf zehn Stunden täglich. Diese Ruhezeit gilt auch für die in den zugehörenden Schreibstuben nnd Lagerräumen Angestellten; ferner soll in Gemeinden von über 20000 Einwohnern die Ruhezeit in Verkaufsstellen mit zwei oder mehr Gehilfen und Lehrlingen mindestens elf Stunden betragen; die gleiche Zeit kann für kleinere Ortschaften durch Ortsstatut eia» geführt werden, außerdem ist die Festsetzung einer Mittagspause für außerhalb der Verkaufsstelle speisende Personen von grundsätzlich l',L Stunden bestimmt. Ausnahmen sind zulässig bei Arbeiten zur Verhütung des Verderbens von Maaren, bei der gesetzlich vor geschriebenen Jnvcnturaufnahme, bei Neueinrichtungen und Umzügen, sowie an jährlich höchsten» dreißig, von der Ortsbehörde allgemein oder für einzelne Geschäftszweige zu bestimmenden Tagen. Wertbvolle Ergänzungen dazu sind für die nächste Zukunft von der Regierung in Aussicht gestellt; so wird jetzt nach Abschluß der Erhebungen über die Kinderarbeit rn der Hausindustrie ein Spezialgesetz zu deren Regelung auS- gearbeitet. Besondere Erhebungen über die Heimarbeit in der Tabakindustrie sind im Gange und noch in diesem Winter soll eine kaiserliche Verordnung über die Aus dehnung der Ardeiterschutzgesrtze und der Bestimmungen über Frauen- und Kinderarbeit auf Werkstätten und handwerks mäßige Betriebe erfolgen. Ferner ist eine weitere Fürsorge für die Heimarbeit bei der Reform des Kranken versicherungsgesetze» in Aussicht gestellt. Die vor liegende Novelle selbst wird dazu an wichtigeren Bestim mungen noch bringen die Regelung deS Ladenschlüsse» und den Erlaß von Arbeitsordnungen für offene Verkaufs stellen mit mindesten» zwanzig Angestellten. Bei allen diesen Reformen haben die Abgeordneten der nationalliberalen Partei, die Abgg. Bassermann, Frhr. v. Hehl und Möller, in fruchtbarer Mitwirkung in erster Reibe gestanden. Von Tag zu Tag trat die positive socialpolitische Arbeit der bürgerlichen Parteien immer geschloffener in Erscheinung, gegenüber der Socialdemokratie, die vergebens Anläufe nahm, ihr Elafsenkampsprogramm hineiozutragen. An der gemein samen Abwehr der bürgerlichen Parteien, die in der positiven Arbeit wie in dieser Abwehr die wirksamste Förderung in dem auf umfassendes Material sich stützenden und social freundlichen Eingreifen deS Staatssekretärs Graf Posa- dowSky fanden, sind die socialdemokratischea Versuche wirkungslos abgefallen. Den von der Tocialdemokratie für den Schluß der Ge werbeordnungsdebatte zu den Paragraphen 152 und 153 der Gewerbeordnung gestellten Antrag haben wir bisher seiner Ungeheuerlichkeit und seine» zweifellos feststehenden Schicksals halber — die nationalliberale Fraction hat bekanntlich einstimmig beschlossen, ihn r Irmins abzulehnen — gar nicht wörtlich mitgetheilt. Heute geben wir ihn unterden Mittbeilungen aus dem Reichstage wörtlich wieder, weil unsren Lesern nur da durch die scharfe Berurtheilung völlig verständlich wird, die der Herausgeber der »Socialen Praxis", der weit vor geschrittene Socialreformer vr. E. Franck«, an dem Anträge übt. Er schreibt u. A.: „Wir halten diese Vorschläge für «inen schweren, sachlichen und taktischen Verstoß der socialdemokratischen Partei gegen die Arbeiterinteressen, gegen den die Freunde der Socialresorm ebenso entschieden Front machen müssen, wie gegen das ZuchthauSgesetz. Es heißt jeden Boden historischer Entwickelung verlassen, wenn man die Toalilionssreiheit, die jetzt noch nicht einmal für dir gewerblichen Lohnarbeiter verwirklicht ist, mit einem Schlage, plötzlichund über Nacht, einerseits auf Erwrrbsclassen aosdehnen will, die in ihrem Fühlen uud Denken erst einer Erziehung für den Gebrauch diese» Rechtes, wie die gewerblichen Arbeiter ihn ge lernt haben, bedürfen, und anderersrit» e» auf Gebiete de» öffent lichen Dienstes erstrecken möchte, die ihrem Wesen »ach für die Au». Übung der EoalitionSfreihrit gänzlich un geeignet sind. War der Gesetzentwurf zum Schutze de» gewerblichen Arbeitsverhältnisses nach unserer Ueberzeugung ein Ausnahmegesetz gegen die Arbeiter, so will der socialdemokratische Antrag »in Ausnahmegesetz gegen die Unternehmer, denen die Verwendung von Kampsmitteln bei schwerer Strafe untersagt werdea soll, die den Arbeitern ungehindert zu Gebote stehen. Niemand weiß besser als die Socialdemokratie, daß ihr Antrag rundweg abgelehnt werden wird. . . . Die Social demokratie hat mit dieser Fehlgeburt auch ganz andere Ab sichten. DaS einmütbige und entschlossene Eintreten der social- reformerischen bürgerlichen Parteien hat da» ZuchthauSgesetz zu Fall gebracht — nicht die 50—60 socialdemokratischen Stimmen, sondern die mehr als 200 Abgeordneten ves EentrumS, der National, liberalen, Freisinnigen u. s. w. haben den AuSichlag gegeben. Diese mannhafte Bertheidigung des Arbeiter-Grundrechte- hat in sehr weiten Kreisen der deutschen Arbeiterwelt tiefen Eindruck gemacht: man lernte glauben und vertrauen, daß der deutsche Arbeiter nicht von der Socialdemokratie allein, wie diese stet» vorgab, sondern auch von der Mehrheit der bürgerlichen Parteien in seinen Rechten geschützt und in seinen Bestrebungen gefördert werde. Die Social reform aber ist die stärkste Waffe gegen die Socialdemokratie. Des halb hat jetzt die Partei ihren Entwurf eingebracht, um jenen Ein druck in der Arbeiterwelt zu verwischen und die bürgerlich»» Parteien aufs Neue zu verdächtige», al» ob sie iw Grunde doch der EoalitionSfreiheit feindlich grgeu- übrrständen, wiewohl sie doch gerade e» waren, di« sie eben geschützt haben.' Wir denken über die völlige Verwerfung des sogenannten Zuchthausgesetzes bekanntlich anders al» der Herausgeber der „Socialen Praxis" und hoffen, daß bei grlegenerer Zeit der bei der zweiten Lesung von nationalliberaler Seite eingebrachte AbanverungSantraz als selbstständiger Initiativantrag Wieder kehre. Sollte aber wirklich die Ablehnung in weiten Kreisen der deutschen Arbeiterwelt einen tiefen und günstigen Ein druck gemacht haben, so würden wir uns deshalb darüber freuen, weil dann Aussicht vorhanden wäre, daß weile Arbeiterkreise allmählich auch die Nothwendigkeit eines besseren Schutzes der Arbeitswilligen gegen die terroristischen Ge sinnungsgenossen der Väter deS neuen Antrags begreifen, den selbst ein Ernst Francke als einen schwere» Verstoß der social demokratischen Partei gegen die Arbeiterinteressen bezeichnet. Der Canton Laselstatzt, welcher 108 000 Einwobner zahlt, von denen allein auf die Stadt 104 000 Seelen entfallen, hat jetzt em Gesetz über die Arvettslvfenverstcherrm» erhalten. Man kann sagen, daß Basel der erste Eanton der Schweiz ist, der diesen Versicherungszweig besitzt. Wohl haben die Städte St. Gallen und Bern ebenfalls ArbeitSlosen- versicherungScassen eingeführt, allein sie waren mangelhaft organisirt und technisch verfehlt, so daß die Versicherung in St. Gallen wieder aufgehoben wurde, diejenige in der BunveS- stadt nun der Auslösung nabe ist. Die BaSler Arbeitslosen versicherung siebt daS Obligatorium vor und beschränkt sich nur auf die Bau- und Erdarbeiter, sowie aus die Arbeiter und Arbeiterinnen, die dem eidgenöffischen Fabrik gesetz unterstellt sind. An die DersicherungScasse zahlen die Versicherten, die Arbeitgeber und der Staat. Tie Zabl der Versicherten beträgt in runder Zahl 12—15 000. Sie sind in 4 Lohnclassen eingetheilt, je nach der Höhe ihre- Arbeits lohnes. Der kleinste wöchentliche Beitrag beträgt 20 -s, der größte 40 Die Arbeitgeber zahlen per Arbeiter der 2 untersten Lohnclassen wöchentlich 8 ^s, der 2 oberen Lohnclassen 16 der Staat jährlich 24 000 FrcS. Er übernimmt auch die Einrichtungs- und Verwaltungskosten, welche jährlich 10—12 000 FrcS. betragen. DaS JahreS- budget der Casse stellt sich wie folgt: Beiträge der Arbeiter 87 179 Frcs., der Arbeitgeber 63 184 FrcS., zusammen 150 363 FrcS., Unterstützungen an Arbeitslose 163 580 Frcs. mithin ein Deficit von 13 2l7FrcS. An diesem Deficit zablt der Staat 30 000 FrcS., so daß ein Ueberscbuß der Ein nahme von 16 783 FrcS. vorgesehen ist. Ein allfälliger Ueberscbuß soll zu einem Reservefonds vereinigt werden, der jedoch 200 000 FrcS. nicht übersteigen darf. DaS Gesetz ist auf die Dauer von 3 Jahren festgesetzt; bewährt sich dasselbe in dieser Zeit nicht, dann soll es entweder revidirt ober auf gehoben werden. Es muß bemerkt werben, daß alle Parteien dem Gesetz die Billigung und Unterstützung zusagten. Da gegen sind die Arbeitgeber Gegner des Gesetze», we»balb sie die Absicht kundgeben, gegen dasselbe daS Referendum zu et- greifen, d. h. 1000 Unterschriften zu sammeln, um eise canionale Volksabstimmung herbeizusübren. Es ist aber an- zunehmen, daß, wenn diese nöthig wird, die Volk-mehrheit dem Gesetz günstig gesinnt ist. Der Krieg in Südafrika. —p. Wenn daS Prestige der glorious Nation in Süd afrika und auch sonst in der Welt (England trägt ja dl« „Segnungen seiner Cultur" und den Ruhm seines Namen» über beide Hemisphären) durch nicht» Andere» aufrecht erhalten werden kann, als durch Lügenberichte, dann muß es schlecht um diese vornehmlichste Existenz bedingung des britischen Reichskolosses stehen. Wir wiesen heute Morgen schon auf den schreienden Widerspruch de» ersten amtlichen Telegramms über die Schlacht am Mo»derfluffe mit der ausführlichen Meldung deS commandirendrn Ge nerals Lord Melhuen hin. Jenes bedeutet nicht- weniger als die vollständige Niederlage der Oranjrboeren im Westen, dieses berichtet lediglich von einem heißen Kampfe, bei dem auf beiden Seiten heldenmüthig gestritten wurde, der aber unentschieden blieb. Noch ander» gestaltet sich daS Bild nach dem folgenden Telegramm unsere- Corre- spondenten, da- wir noch in einem Tbeile der Auflage dd» heutigen Morgenblatte- bekanntgeben konnten: K. Honeyneft-Station, 28. November. (Pri» vattelcgramm.) Wirfanben dte voeren nm » Utzr Morgen» tn anSgevehnter Stellung von klokfontein, Ihr Zentrum bei ttlipSiitt bi» koltleegte, bereu Haupt» eommando uuter Cronje jenseits deS Ritflusfeb und Mobberfl usses, mit schwerem Geschütz aus Ven zwischen beiben liegenden KopjcS oberhalb der Klipdrist und Roekpadsdrift, mit dem linke» Flügel an KopjcS bei Sevenfontein gestützt. Tie Artillerie eröffnete gegen sechs Uhr Morgens da» Gefecht, während dte Cavallerie die Boerenvorpoften vergeblich abzuschnetden »ersuchte. Gegen sieben llhr attackirte» die Garden rn aufgelösten Zügen die Stellung de» Feindes vor Sevenfontein, die Infanterie Hesse« rechten Flügel, die Artillerie der Marinetruppen sein Eentrum. Die voerenartillerie drei» mirte die Angreifer furchtbar. Hi» Mittag stürmten dte Garden vergeblich unter den schwersten Verlusten, besonder» an Offteteren. Am Een- trum demontirten dievoerenzwei unserer Ge schütze. Am Nachmittag brackteMethnen fämmtliche Reserven ins Feuer und vrach nm sechs Uhr Abends den unentschiedenen Kampf ab, ohne den Voeren zu folgen, welche ihre Vorposten zu- Ltzrrillotsn. iss Das Pflegekind. Roman von Elsbeth Meyer-Förster. AaLdiuc! verboten. Sie war gegangen, aber nicht „nach Haus". Wohl hatte sie ihren Weg nach Montmartre genommen, aber auf den Friedhof hinaus. — Und jetzt, nachdem sie mechanisch von dem Hügel Ab schied genommen, schritt sie dem Nordbahnhof zu. Ohne eine be stimmte Absicht. Sie wußte nur und sagte es vor sich hin: „Von dort gehen Züge." Ihr Kopf war noch schwach, von der Krankheit ausgelerrt. „Wohin will ich?" fragte sich Nettchen ein über das andere Mal, während sie langsam die Boulevards entlang schritt. Und immer antwortete sie sich mit demselben erstaunten, schwachen Ausdruck: „Fort." Die Sonne lag hart und prall auf den Steinfliesen, und in den Schaufenstern gleißte und brannte Alles wie unter Brenn glas. — Kränze, dicke, gewundene Perlenkränze, wie draußen auf dem Friedhof, hingen vor den Läden des Boulevard de Clichy, während auf dem breiten Boulevard desBatignolleS sich der wahre Sommer an Stelle dieses elenden, künstlichen ausbreitete. Ganze Blumen» Pyramiden waren zwischen den Baumreihen des Mittelweges auf gebaut; die Luft war förmlich schwer von Narciffrn- und Lev- kojengeruch, in den sich die athembeklemmrnde Wolke deS Stadt dunstes mischte. Alle Menschen kauften Blumen, badeten sich in dem ihnen die freie Natur vorzaubernden Duft. Aber sie schlichen und krochen hin wie Schnecken, die lebendigen, frohen Pariser, ausgedörrt von der Hitze und dem Dunst ihrer schönen, riesen haften Stadt, und in den bleichen Gesichtern mit den schlaffen Mienen lag fast dieselbe zur Gefühllosigkeit gewordene Gleich giltigkeit wie in der Miene Nettchen'». Ruhig ging sie hin — im Gefühl, nichts zu versäumen — zu nichts zu spät zu kommen. Al» sie den Gare du Nord erreicht hatte, in die gewölbte Halle trat, sprang ihr ein Kofferträger entgegen und griff nach dem Bündel, daS ste am Arme trug. Sie wies ihn ab, und als sammle sie nun ihre zerstobenen Gedanken, blieb sie stehen und blickte aufmerksam auf die über den ver schiedenen Billetschaltern angebrachten Tafeln. .,OoIogne-^IIe- mngno" las sie langsam und halblaut. Sie trat an den Schalter heran, zog ihre kleine Geldbörse und entleerte fast den ganzen In-
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