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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 02.12.1899
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1899-12-02
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18991202025
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1899120202
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1899120202
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1899
- Monat1899-12
- Tag1899-12-02
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Reelam«» lotter demNedactiontftrich (4-»« spalten) vor den Fa«M«uachrichl»o ^gejpattr») 4V 4- GrSherr Schriften laut unser«, V«tS- verzetchntß. Tabellarischer und Lmrrasa» nach höherem Tarif. Extra-veilaarn (gefalzt), »ne mit der Morgen-Ausgabe, ohne PoftbeförderuNg -M 6V.—, mit Postbefvrderuna 7V —. ^nnahmeschlnk für Anzeigen: Abrnd-Ausgabe: vormittag» 10 Uhr. Morgen-AuSgabe: Nachmittag» 4 Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stund« früher. Anreigen sind stet» an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. 614. Sonnabend den 2. December 1899. 93. Jahrgang,. Politische Tagesschau. * Leipzig, 2. December. Den gestrigen Tag wird die „deutsche" Tocialdemokratie in ihrem Kalender schwarz anstreichen. Auf dir Ablehnung ihrer im Reichstage eingebrachken Anträge, die angeblich baS Coalitionsreckt ausbauen sollten, thatsächlick aber diese» Recht auf daS Schwerste gefährden und als dreiste Heraus forderung der bürgerlichen Gesellschaft erscheinen mußten, durften die Antragsteller ja gefaßt sein, aber sie halten etwas Andere« als einfache Ablehnung erwartet; sie batten gehofft, einen hauptsächlich durch die Fehler der Regie rung bei der Arbeitewilligenvorlage errungenen Sieg au«- bcuten zu können, und zogen sich bei diesem Versuche eine schwere Niederlage zu. Noch größer würde diese geworben sein, wenn die Redner aller bürgerlichen Parteien auf eine kurze Molivi» rung ibreS ablehnenden StanbpuncteS sich beschränkt und —waS fo leicht gewesen wäre — jeden Anlaß zu einem Streite unter einander vermieden hätten. Leider erlag der frei- conservative Abg. v. Tiedemann der Versuchung, einem Theile der bürgerlichen Parteien den Borwurf zu machen, daß sie bei der Arbeitswilligenvorlage der Socialdemokratie Heeressolgc geleistet hätten, rin Vorwurf, der den Centrumsführer vr. Lieber so reizte, daß er sich eine Rüge des Präsidenten, seines eigenen Parteigenossen, zuzog. Wenn jemals, so hatte sich doch gestern vor Eintritt in die Beratbung eine Verständigung der bürgerlichen Fraktionen über ihr Ver halten den socialdemokratischcn Anträgen gegenüber empfohlen. Man klagt häufig darüber, daß die Negierung es verabsäumt, in wichtigen Fragen Fühlung mit den maßgebenden Parteien zu suchen; aber wie soll die Regierung Lust zu solchen Ver suchen bekommen, wenn bei Berathungen über socialdemo- kratiiche Anträge, die sämmtliche bürgerliche Parteien zur ge meinsamen Abwehr förmlich berauSfordern, einzelne FraclionS- redner blindwüthend dreinschlagen und den Nebenmann nicht nur zum Pariren, sondern sogar zum Gcgenschlage nöthigea? Schade, daß der Et»t dem Reichstage noch immer nicht vorliegt und daß deSbalb das HauS erst später Gelegenheit finden wird, den Reichskanzler oder den Staatssekretär deS Auswärtigen um eine Auslassung über Chamberlains „Alttanzrevc" zu ersuchen. Das Bedürfniß, sich zu äußern, haben zweifellos beide Staatsmänner, denn rS muß ibnen schon mit Rücksicht aus die Stimmung in Frankreich und in Ruß land daran liegen, die Renommistereien des englischen Mund- belden, der in seinen Nöiben plötzlich den Geschmack an der früher so hoch gepriesenen gpleuäick Isolation verloren bat, auf das reckte Maß zurückzusühren. Die Ojficiösen der verschiedenen Schattirungen haben denn auch bereits den Auftrag, Herrn Ckamberlain's grobe und rücksichtslose Ueber» treibungen in höflicher Form richtig zu stellen. Die bereits vom Telegraphen mitgetheilte Auslassung der „Nat-Ztg.", die jedes neue Abkommen mit England in Abrede stellt und lediglich eine in Windsor zu Tage getretene Uebereinstimmung in der Absicht, auf colonialem Gebiete in Zukunft Schwierig keiten aus dem Wege zu schaffen, zugiebt, ist jedenfalls auf Informationen auS dem Auswärtigen Amte zurückzuführen. Einen officiösen Charakter trägt wohl auch daS folgende Berliner Telegramm deS „Hamb. Corr.": „Der Theil der Chamberlain'schen Rede, der sich mit den deutsch englischen Beziehungen beschäftigt, wird hier als ein neuer Beweis dafür angesehen, welch' hohen Werth England gegenwärtig aus ein freundliches Verhältniß zu Deutschland und dessen sorgsame Pflege legt. Es bedarf keiner langen Auseinandersetzung darüber, daß auch Deutschland dir ungetrübten Beziehungen zu dem mächtigen britischen Reiche durchaus in ihrer vollen Bedeutung zu schätzen weiß und daß es gegen rin freundschaftliche» Rebenetnonderarbritru nicht» rinzuwenden hat, soweit e» de» deutschen Interessen entspricht. Sind somit unsere eigenen Interessen für die Gestaltung unserer internationalen Be ziehungen daS ausschlaggebende Moment, so findet das vom Colo- nialminister Ehomberlain so energisch in den Vordergrund gestellte Gleichgewicht zwischen Deutschland und England seine wetthvolle Er gänzung durch die freundschaftlichen Beziehungen, die un» mit R u ß l a n d verbinden. Wa» den von Chamberlain gebrauchten Aus druck „Allianz" betrifft, so hat der Minister selbst erklärt, daß er da» Wort nicht im eigentlichen Sinne genommen wissen wollte. Um jedoch Mißverständnisse zu verhüten, sei nochmals ausdrücklich betont, daß es keinerlei allgemeinen Geheim-Traktat zwischen beiden Ländern giebt, auf den der Name „Allianz" Pässen würde, sondern lediglich einige Abkommen localer Natur, über die man sich schon seit geraumer Zeit in der Oeffentlichkeit unterhält. Wenn Chamberlain von einer Allianz sprach, so wollte er wohl seinen Hörern nur mit dem kürzesten Ausdruck den all gemeinen guten Stand der deutsch - englischen Beziehungen vor führen." UnS selbst wird von einer Seite, die Gelegenheit bat, die in diplomatischen Kreisen der ReickSbauptstadt herrschenden An- und Absichten zu erfahren, Folgendes geschrieben: »Herr Chamberlain hat die Aufmerksamkeit der Welt durch rille wortreiche Rede auf sich gelenkt, von der lediglich dir kritische Betrachtung zweier Kernpunkte nothweudig ist, um über ihren wahren Werth in» Klare zu kommen. Herr Chamberlain trat für eine „Allianz" Englands mit Deutschland ein, war aber dabei so treuherzig, LaS Wort „Allianz" durch einen überaus ansprechenden Commentar zn erklären, indem er sagte: „Ich möchte klar machen, wenn ich daS Wort „Allianz" gebrauche, daß es wenig aus macht, ob dieAllianz aus demPopiere nirdergrlrgt wird oder ob «iu Eiuverställduiß im Geiste hez Staat»männer brr betreffe »den Länder vorhanden ist." —Diese Ansicht trifft voll- kommru das Richtige! England gegenüber ist es durchaus gleich, giltig, ob eine Allianz schriftlich in aller Form abgeschlossen wird, oder ob es sich um eine „Allianz" „im Geiste der Staatsmänner" handelt. Denn sobald nach dem Abschluß eines förmlichen Allianz- vertrage» es sich herausstellt, daß der abgeschlossene Vertrag den Interessen Englands widerspricht, saßt die Mehrheit des englischen Parlament» einen Beschluß, der da» Ministerium, welches die Allianz ringing, zum Rücktritt nöthigt: das neue Ministerium ist alsdann in keiner Weise an den Allianzvertrag des zurückgetretenen gebunden! Welche Folgen au» diesen kür England sehr Vorth.ilhasten Verhältnissen entstehen können, hat Friedrich der Große bekanntlich ia der fühlbarsten Weise erfahren. Ein für die Dauer und auch für den Fall kriegerischer Verw cklungen berechnete» Bündniß kann England mit Deutschland zu allerletzt eingehrn. Die „Times" haben ganz recht, wenn sie an die mächtigen Nachbarn erinnern, di« Deutschland auf allen Seiten hat, mit denen e» in Streit gewesen ist und wieder in Streit kommen kann; dies allein würde rin all gemeine» Bündniß mit Deutschland überaus schwierig und möglicher Weiie nachtheilig für die britischen Reichsinteressen macken. Sicher lich hat hiermit das Cityblatt recht, bis aus das Fehlen des Ein- geständnisses, daß England kraft seiner konstitutionellen Gepflogen- beiten von einem lästigen Bündniß sich jederzeit befreien kann. — Ter zweite Kernpunkt der Rede Chamberlain'« war die Behauptung, Interesse und Gefühl vereinigten die Nationen. Dos ist nur bedingt richtig; denn eine wirklich politisch denkende Nation wird das Gefühl vor dem Interesse zurücksiehen lassen. Ties ist keinem Volke gegenüber so nothwendig, wir gegenüber dem selbst süchtigen englischen. Deutschland» Juteressr aber verlangt die Aufrechterhaltung guter Beziehungen zu Rußland und diel» würden durch eine allgemeine Allianz mit England unmöglich gemacht werden. Dagegen steht nichts im Wege, daß wir un- auf dem Gebiet der Colonialpolitik mit England verständigen. Eine solche Verständigung au» einem Gefühl der Abneigung gegen England heraus grundsätzlich abzulehnen, wäre ein schwerer politischer Fehler, der durch keinerlei Vortheil in Bezug aus unsere Stellung zu Rußland ausgewogen würde. Aus dem Gebiete der allgemeinen Politik jedoch muß Deutschland an der Politik der „zwei Eiken" festhalten, d. h. es darf sich weder zum unbedingten Anschluß an England, noch zum unbedingten Handinhandgehen mit Rußland verpflichten. Die Rede Chambrrlain's dürste sich das Verdienst erwerben, daß von maßgebender Seite auS vor aller Welt in dieser Beziehung über dir deutsche Politik volle Klarheit geschaffen wird. Bei ver bevorstehenden amt licken Klarstellung wird frei lich Herr Cbamberlain besser wegkommen, als er es verdient. Man kann doch einem Staalsmanne, mit dem man eben erst über friedliche und freundschaftliche Behandlung colonial politischer Streitfragen sich verständigt bat, nickt Grobheiten sagen, ohne Gefahr zu laufen, diese Verständigung sofort wieder in die Brücke geben zu sehen. Hoffentlich wird an der Mitte deS Hauses nachgebolt, was Graf Bülow unter lassen muß. Selbst vom Fieisinn darf man ja erwarten, daß er empört ist über die Dreistigkeit eines ManneS, der lediglich, um im eigenen Lande sein gesunkenes Ansehen wieder zu beben, die Boeren in Schrecken zu setzen, Amerika gegenüber sich zu brüsten und Frankreich und Rußland gegenüber al- Diplomaten von sieghafter Ueberredungs- und DupirungS- kunst sich aufspielen zu können, sich nickt scheut, dem kaiser lichen deutschen Gaste zum Danke für dessen Bereitwilligkeit zu freundlicher Verständigung über colonialpolitische Fragen bei dem Scheiden über den Ocean binweg eine Rede nach» zu ckreien, die auch da, wo man den Schreier und seine „Ge wissenhaftigkeit" kennt, immerhin als rin Beweis sckwächlicker Nachgiebigkeit dieses Gastes gegen hochpolitische englische Gelüste gedeutet werden und daber diesen Gast in Zwie spalt mit befreundeten Machten bringen konnte. Gerade weil eS Herr Chamberlain ist, mit dem rin freundliches colonialpolinscheS Verhältniß in Aussicht ge nommen worden ist, wird eS dem Grafen Bülow vielleicht nickt ganz leickt werden, den Reickslag auch nur mit der Mücke zu versöhnen, aus der Herr Cbamberiain einen Elefanten zu macken versucht hat. Wer und was bürgt dafür, daß von einem solchen Manne nickt jedes kleinste Entgegenkommen zu keinem eigenen Vortbeile aufgebauscht und mißdeutet wirb? ES macht überdies nickt den erfreulichsten Eindruck, daß von den Officiöien infolge derCbambcrlain'scken Rede zugegeben wird,?» sei in Windsor zu cvlvuialpolitischen Unterredungen gekommen. „Vor Tische laS man's anders", da hieß eS, die Reise des Kaisers babe mit Politik überhaupt nicktS zu thun und sei eine „rein private" Angelegenheit. So ganz „rein" privat ist sie also trotz jener Versickerungen dock nicht gewesen. Graf Bülow wird daher, wenn er diesen Eindruck verwischen will, möglickst genau angeben müssen, über welche colonial- politiscke Streilfragen man fick mit England freundlich zu verständigen gedenkt. Auck unsere neutrale Stellung in dem südafrikanischen Kriege erfordert eine amtliche K.arstellung darüber, daß eS fick nicht um afrikanische Abmachungen handelt, für die die Boeren wenigsten» einen Theil der Zeche zu zahlen haben würden. Interieurs au» sranzöfischeu Klöster« zeichnete am Diens tag in der französische» Depulirienkammer bei der Beratbung über das Budget deS Inne n der socialistische Abgeordnete Fourniöre. Er brachte vor Allem die bereit» in der Presse er örterte Ausbeutung der Schülerinnen de» Klosters zum guten Hirten in Nancy zur Spracht. Er erinnerte (dem Berickt der „Köln. Ltg." zufolge) an die Erregung, die im Publicum entstand, als ein Blatt einen Brief deS Bischof» von Nancy auszugsweise veröffentlickte, in dem schlimme Un gehörigkeiten in den Arbeitssälrn des Kloster» gerügt wurden. Ter Bischof erklärte, daß das Kloster seinen Schülerinnen, auch wenn sie lL oder gar LOIabre dort gearbeitet haben, gar nicht- leiste. Unter 60 Mädchen, die entlasien wurden, hat fast keine irgend eine Unterstützung erhalten, weshalb etliche sich einem schlechten Lebenswandel hingeben. In dem Kloster wird Leinenzeug für Damen zweifelhaften Ruf» aogefertigt, und al- jemand der Oberin desbalb Vorhaltungen machte, sagte sie, daran verdiene man am meisten. Tie Oberin babe dann behauptet, der Bischof habe seine Erklärungen widerrufen. Die» ist aber, fährt Fourniöre fort, ein Irrtbum. Er hat einfach bedauert, daß die Angelegenheit ins Publicum gekommen sei. Im Iabre 1894 bat der obere Rath für öffentliche Wvhl- thätigkeit eine Verordnung ausgearbeitet über die Anstalten, denen Kinder und Waisen anvertraut werden. Warum ist der Kammer keine Vorlage zugegangen? Man hat Mädchen 10, 20, sogar 22 Jahre im Kloster arbeiten lassen; als sie nickt mehr konnten, hat man sie vor die Thür gesetzt. Sie suchten vergebens nach gerichtlichem Beistand. Im guten Hirten zu Cbvllet haben die Mädchen nach elfjähriger Arbeit 50 Centimes, 4 Taschentücher und 2 Hemden erhallen, um damit bi- nach Pa>iS kommen zu können. Andere Mädchen hat man siebenzehn Jahre im Kloster bedalten, ohne ibaea jemals einen Au-gang zu erlauben; sie verließen da- Kloster, ohne auch nur den Schimmer eine» Sou» gesehen zu haben. (Beifall.) Im guten Hirten zu Renne- hat man ein Schuldensystem eingeführt, da» den Kloster leuten gestattet, die Waisenkinder auf immer zu behalten. Der Redner zählt sodann eine ganze Reihe von Fällen auf, wo Kinder unter 12 Jahren von Klostrrlruten ausgebcutct und mißhandelt wurden, und erwähnt als besonders bezeich nend, daß in Le ManS den Kindern al- Strafmittel der Kovf in einen nassen Wischlappen gebunden wurde; ein schwind süchtige- Kind spuckte sofort Blut und starb am nächsten Tage. Anderswo besudelt« ein Kind sein Bett. Die Schwester steckte ein Stück Brot hinein und reichte es dem Kind« mit den Worten: Da, iß deinen Mist. (Bewegung.) Eine Oberin ließ dir Kinder beim Spaziergang durch einen Hund bewachen. (Abb4 Gayraud ruft: Wenn all da- wahr ist, schließe ick mich dem Redner an, um Vergeltung zu fordern!) Fourniöre: In der Anstalt zum heiligen Herzen von Conflan» kündigte man den Kinder» die Prügel, die sie am nächsten Morgen erkalten sollten, sckon am Abend vorder an. Tie Sterblichkeit in diesen Klostern ist sehr groß, besonders in AngerS und ia Nancy, in welch letzterem Orte in einem Jahre 11 So-ülerinnea einer Classr starben. Iu einer Anstalt ließ man di« Kinder ruhig neben solchen siyen, die mit ansteckendell Kraukheiteu behaftet waren. In St. CbarleS ia Paris werden die Waisenkinder mit Brennnesseln gegeißelt, in Morangi- starb «in Kind au Fuß tritten der Schwester. (Der Socialist Devöze unterbricht heftig uud wirb zur Ordnung geruscn.) Fouraiere erzählt Feuilleton. i8j Das Pflegekind. Roman von Elsbeth Meyer-Förster. ViaibriuS verbotkii. Erstaunt, ganz fassungslos horchte er auf daS liebevolle Ge plauder, das die alte Frau mit dem Urenkelkinde führte. Wie war es möglich, daß ihre Kraft nicht brach an dem harten Kampfe des Lebens. Und wie gebannt lauschte er ihrem Treiben und Thun, ihrem Hin- und Hergehen, ihren wirthschaftlichen Ver richtungen, den Worten, die sie mit einer Nachbarin wechselte. Ihre Sehnsucht, das wußte er, war schon längst zu der besseren Heimath eingegangen, und doch gehörte noch ihr Schaffen und Vollbringen, jede sorgende Müh' und ihre ganze, schwache, achtzig jährige Kraft diesem Leben und seinen Forderungen an. Und er sehnte sich darnach, eine gleiche Fülle von Kraft und LebenSmuth zu haben! — Sein Blick flog hinaus über den engen Hof und die kahlen Felder. Wie goldbeschienen lag die Erde da, voll Verheißung, und selbst in dem kühlen, herben Hauch, der über die Felder fegte, lag eine aufmunternde Frische. Sein Herz wurde sehnsüchtig und weit, er nahm Johanna'» Bild von der Wand und lehnte seinen Kopf an da» kalte Glal, an die Wange seiner Frau. O lebte sie und könnte mit ihm hinaus, über die Felder fort, hinein in den fernen Herbstsonnen- glanz! Er riß daS Fenster auf, erregt winkte er hinaus, als sähe er sie ferne schreiten und könne sie zu sich rufen. — Die Großmutter trat ein. ES war Paul des Jüngeren fünfter Geburtstag, und sie hatte eine ganz besondere Freude für den Kleinen. Sie wollte ihn nach dem Eircus Renz mitnehmen, für den ihr die Nachbarin, eine MaschinenmeisterSfrau, zwei Freibillet» gebracht hatte. Bisher hatte sie alle die freundlichen Anerbietungen der jungen Frau, die durch ihren im CircuS angestellten Mann mitunter Tribünen- billet» erhielt, kurz abgewiesen, denn ihr stand der Sinn nicht nach landläufigen Vergnügungen. Heut» aber, an dem Er- innrrungStage, war ihr Großmutterherz schwach und über strömend liebevoll gestimmt, und sie war fest entschlossen, dem GeburtstagSkinde alle die Wonnen zu bereiten, die eS zur Feier seines Tages beanspruchen durfte. Sie und der Kleine waren längst zum Ausgang bereit. Paul blickte sie an, wie sie da in der Thür standen, die weißlockige Frau und da» blondlockige Kind, Bride in ihrem Sonntagsstaat und Beide in den weiten Pelerinen, den riesigen Kapuzen, an groß mütterlicher Ehrwürdigkeit einander gleich. „Bist Du fertig?" fragte die Großmutter. „Ich komme", sagte Paul. Er nahm die Bürste vom Schrank, fuhr über Aermel und Rockkragen, nestelte eine neue Cravatte um und zog sich die Handschuhe an. Es war daS erste Mal seit langer Zeit, daß er sich auf solche Weise zu einem Ausgange rüstete. Er war gleichgiltig geworden gegen sein AeußereS, wie gegen Alles, was um ihn herum vor ging, seit Johanna'» Tode. „Sieh', sieh'", sagte die Großmutter, „wie fein Du bist, mein Jung'." Es war auch da» erste Mal, daß sie ihn wieder so nannte — seit langer Zeit. Er hatte sich abgeschlossen gegen sie wie auch gegen daS Kind, eine stumme Fremdheit war zwischen ihn und seine Nächsten getreten, und al» ihn nun die liebkosenden Worte so zutraulich trafen, da erröthete er wie in Schuld bewußtsein. — Paul der Jüngere war schon die Treppt hinab vorauSgelaufen. Da stand er unten im Hofe in dem langen, runden Polizisten mantel, großväterisch, und mit der dickgefütterten Frauenkapuze zugleich großmütterlich. Ein Zwischending zwischen Knabe und Mädchen, ein» von den kleinen, hilflosen Producten, die kein Vater zurechtstutzt und keine Mutter glättet, und in denen zitternde, zärtliche Großmutterhände die gute, alte Zeit wieder aufleben lassen. Die Kinder lachten, als Pauk so gravitätisch aUS der HauS- thür stolzirt kam, aber er beachtete e» nicht, seine Gedanken waren vom Circu» erfüllt, diesem räthsrlhaften Wunder, daS er heute sehen sollte! AlS er aber zwei Stunden später an der Hand des Vater» den Schauplatz seiner Phantasie betrat, da stockte das kleine Herz und die Augen wurden heiß, wie die eines Fiebernden. Auch Paul der Aeltere, der so lange in freudloser Einsamkeit sich vergraben hatte, zuckte zusammen, als die Ström« Hellen, berauschenden Lichte» auf ihn eindrongen, al» muntere Musik ihm entgegentönte und ausgelassene» Gelächter an seine Öhren Nana. Die Welt, die sich amvsirt, von der er so lang« nichts mehr gewußt hatte! Der kleine Pauk hielt d«S Vaters Hand mit seinen Fingern so krampfhaft umschlossen, als fürcht« er zu fallen. Momentan mußte er die Augen schließen. Die großen, kreide weißen Männer in der ManSgr mit den blutrothen Mäulern und den spitzen Zivkelmützen auf dem Kopf, verwirrten ihn höch lichst. Aber die Großmutter, die hinter ihm herschritt, tröstete ihn: „Kuck' man ruhig hin, mein Pauleken. Die dürfen nich vor und zu uns hin. Die thun auch man blos so." — Paul der Jüngere konnte nicht fassen, daß sie blos so „thaten", während doch die Ohrfeigen, die sie einander austheilten, ein lautes, gefährliches Klatschen verursachten. Empörung und tiefes Mitleid malte sich in seinen Kinderaugen, seine bewegliche Oberlippe zitterte, und in dem Maße, als sich die rohen Ohr feigen verstärkten und auf die kreideweiße Backe des kleineren Clowns hageldicht niederprasselten, verstärkte sich zugleich die Er schütterung in seinen Zügen. Plötzlich schreckten alle Umsitzenden auf. Ein lautes, bitteres, schmerzliches Kinderweinen, das aus den hintersten Reihen kam, ertönte in die Späße der Bajazzk hinein. „Um Gotteswillen — bring' ihn hinaus, Großmutter", flehte Paul der Aeltere, der sich umsonst bemühte, den aufgeregten Sohn zu beruhigen. „Ruhe da, — still doch!" tönte es zu der Ecke hinüber. Die alte Frau war aufgestanden. „Komm — weine nicht, mein gutes Kind", sagte sie laut und trotzig, indem sie mit feindseligem Blick die Umsitzenden maß. Sie nahm den Kleinen, der noch immer unaufhaltsam schluchzte, auf den Arm und trug ihn hinaus. „Hast Recht, daß Du heulst", sagte sie mit über zeugter Stimme, die voll Trost und Liebe war. „Das ist wie'S liebe Vieh — für uns Beide da ist das nicht»." Sie führte ihn die Treppe hinunter, in den Rundgang, der sich rings um die Manege, unter den Logen und Tribünen fort, hinzieht. Langsam schritten sie in der vereinsamten, schmalen Nundbahn auf und ab. „Wir gehen auch gleich wieder nach Hause!" flüsterte die alte Frau. Plötzlich stieß sie einen Schrei der Ueberraschung aus. „Nettchen!?" schrie sie laut, mit einer Stimme, in der Fassungs losigkeit, Hoffnung und Zweifel zu gleichen Theilen kämpften. Aus einem der Holzverschläge, welche zu den „Garderoben" führten, war Nettchen getreten, lieber dem Arm trug sie eine Anzahl bunter, phantastischer Kleidungsstücke. Aks traue sie ihren Augen nicht, starrte sie auf die Erscheinung der alten Frau. Doch nur einen Moment. Dann stieß sie einen jubelnden Schrei auS, und wie sinnlos warf sie sich der Greisin an die Brust. — Schmetternde Musik, lautes Lachen des Publikums, ungestüme Bravorufe, — Wellen und Wogen entfernten Lärmes, der zu der einsamen Gruppe hinüberdrang. — Versunken in dieser Um armung, in der sich die Trennung so langer Jahre endlich zu Thronen, zu schluchzenden Worten ouflöste, standen sie an einander gelehnt und vernahmen nichts von dem verworrenen Getön. Nettchen hielt ihre Lippen auf die zerfurchten Greisen hände gepreßt, ihr Arm stützte die schwanke, alte Gestalt. So standen sie lange, bis der kleine Paul, der, verwirrt von der Scene, bei Seile blieb, sich an die Großmutter drängte und ein dringlich seinen Kopf zwischen ihre Kleiderfalten schob — da sah ihn Nettchen, kniete nieder vor ihm und legte bittend, fast an dächtig ihre Arme um den blonden Lockenkopf, aus dem ihr des Jugendfreundes schüchterne Augen entgegenschauten. — Paul der Aeltere hatte in großer Unruhe den Fortgang der Vorstellung über sich ergehen lassen. Paul und der Großmutter langes Foetbleiben ängstigte ihn. Er wäre gern aufgeslanden, um ihnen nachzugehen, aber er zitterte davor, dieselben Blicke, welche vorhin so verweisend seinen Cohn getroffen hatten, nun mehr auch auf sich zu lenken. Eine furchtbare Schüchternheit hielt ihn gepackt; die Programmnummer ging vorüber, eine neue begann und neigte sich bereits gleichfalls ihrem Ende, ohne daß er es gewagt hatte, sich zu entfernen. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er fühlte, daß, so groß seine Sorge um seine beiden Angehörigen war, es ihm physisch unmöglich sein würde, sich während der herrschenden andächtigen Stille auS der dicht gedrängten Reihe zu erheben, um an Allen vorbei nach dem Aus gange zu streben. — Heiße Scham vor seiner eigenen Feigheit erfüllte ihn. Warum war er hervorgckommen auS seinem verborgenen Winkel — er, der daS Leben fürchtete, der vor den Menschen zitterte, der sich wie ein Maulwurf ungesehen dahinstahl, der keinen Muth zum Dasein hatte, und zu furchtsam war, um dem geringsten Kampfe inS Auge zu sehen? So war er gewesen von Jugend an — damals, als ihn noch die Schulcollegen mit seinem kurzen Fuße böbnten, damals, als er Nettchen liebte, damals, als das Geschäft abbrannte, damals, als Johanne starb. So war er und blieb er bis in die kleinen Gelegenheiten hinein, in denen das Leben von ihm die geringste Kraftanstrengung, den kleinsten Beweis von männlicher Selbstständigkeit forderte. Er vermied, er floh den Kamps, — und er würde mit den Seinen untergehrn in der Armuth und Hilflosigkeit, dir seit dem Unglück über sie herein gebrochen waren, — er würde das Geschäft völlig zu Grund, gehen lassen und sich auflösen in dieser grauen Schwermuth, dem dumpfen Zagen und Bangen. — Und staunend, voll bitteren Neides, streifte sein Blick al? die lachenden, frohen Gesichter, welche der Manage zugewandt waren. Lautes, Helles Gelächter, das so leicht emporflog und an den dünnen Wänden widerschallte. Blicke voll Glanz und Leben, und auf den Kindergesichtern rin wahre- Schmetterlingsflattern von Lächeln und Entzücken. Paul der Kleine trat vor seine geistigen A"gen, — in seinem stillen Kinderernst, seiner großdäterischen Kinderwürde. Und eine unnennbare Angst krampfte de» Vater»
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