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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 06.12.1899
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1899-12-06
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18991206022
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1899120602
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1899120602
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1899
- Monat1899-12
- Tag1899-12-06
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Die Morgen-Ausgabe erscheint um '/,7 Ubr, die Abend-Ausgabe Wochentags um 5 Uhr. Filialen: cito klemm's Sortim. (Alsred Hahn), Universitätsstraße 3 (Paulinum), Louis Lösche, Katharinenstr. 14 Part, und Königsplatz 7. Ne-action und Erpe-ilion: Johannisgaffe 8. Die Expedition ist Wochentag- ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis Abends 7 Uhr. Bezugs-PrekS in der Hauptexpedition oder den km ktubt- bezirk und den Vororte» errichteten AuS- aabrstrUen abgeholt: vierteljahrlich^l4.50, vei zweimaliger täglicher Zustellung ins Laus ü.üO. Durch die Post bezogen iur Deutschland und Oesterreich: vierteljährlich ^l 6.—. Direkte tägliche Kreuzbandsendung ins Ausland: monatlich 7.50. Abend-Ausgabe. UeiWMr TagMatt Anzeiger. Ämlskkatk des königlichen Land- und Ämlsgenchtes Leipzig, -es Rathes und Nolizei-Äinles der Ltadt Leipzig. «21. Mittwoch den 6. December 1899. Anzeigerr-Prei^ die 6 gespaltene Peützeile SO Pfg. Reclamrn unter dem RedactionSstrich (4a«s spalten) 50^, vor den Familirnnachrichß« (6 gespalten) 40-4. Größere Schriften laut unserem Preis- verzetchniß. Tabellarischer und AtsserasaD nach höherem Tarif. — «»*»» - Extra-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morae».Ausgabe, ohne Poftbestrderung ^l 00—, mit Postbefördernng 7V -. Äuvahmeschluß fir Anzeigen: Abend-LuSgab«: Vormittags 10 Uhr. Morgen»dlu-gab«: Nachmittags 4Uhk Bei den Filialen und Annahmestellen je «ine halb« Stund« früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. SL Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, ö. December. In dem Berichte eines vielgelesrnen Berliner Blatte- über die gestrige Sitzung des Reichstage» wird gesagt, der Antrag v. Hehl und Genoffen, betreffend die Ausdehnung der Krankenversicherung auf die Heimarbeiter, sei auf Wunsch der Abgg. Hitze und Richter bis auf Weitere- zurückgestellt worden. Da- ist nicht richtig. Der Antrag wurde, wie der Bericht in unserem Morgenblatte richtig an- giebt» in erster und zweiter Lesung ohne Debatte an genommen. Schon die Commission für die Gewerbe ordnungsnovelle hatte sich bekanntlich mit dieser Materie beschäftigt; die von der Commission vorgeschlagenen Be stimmungen waren aber in der zweiten Lesung auf Wunsch der dieser Reform genügten Regierung aus formellen Gründen wieder aus der Gewerbeordnung berauSgenommen worden, um gesondert, bezw. bei der künftigen Kranken- versicherungsnovclle behandelt zu werden. Die Antragsteller wollten jedock die Reform, die gerade der Hausindustrie besonders nolhthue, nicht länger vertagen und stellten daher den betreffenden Antrag, der die vielnmstrittene Frage, ob der Unternehmer oder die Zwischenmrister die Arbeit- gcberbeiträge zu entrichten haben, dahin zu lösen vorschlägt, baß der Zwischenmeister für die Krankenversicherung nicht in Betracht kommt, sondern der Unternehmer die auf den Arbeitgeber entfallenden Lasten trägt. Da die Mitglieder der Gewerbeordnungscommission ihre Arbeit beendet hatten, so traten sie vorgestern zu einer freien Commission zusammen, nm über den Antrag zu berathen, und in dieser Commission erklärte der Staatssekretär Graf Posadowskh, daß der BundeSratb gegen den Entwurf nichts einzuwcnden bätte. Es lag mithin gestern gar kein Grund für die Zurückstellung des Entwurfes vor, der, nachdem er auck in dritter Lesung angenommen worden sein wird, gleich zeitig mit der GewerbeordnnngSnovelle in Kraft treten soll. Bei der dritten Lesung dieser Novelle erfolgte eine Zurückstellung, weil das schwach besetzte HauS einen vorzeitigen Schluß der Sitzung wegen Beschlußunfähigkeit vermeiden wollte und deshalb die Abstimmung über einige strittige Puncte aussetzen mußte. Im Uebrigen verlies die Berathung sehr glatt, da sich wie bei dem Entwürfe zur Ergänzung des KrankencassengesetzeS Nationalliberale, Con- servative und Centrumsabgeordnete zusammengethan hatten, nm gemeinsam eine Reihe von Verbesserungen vorzuschlagen. Gegen die Beschlüsse zweiter Lesung wurden folgende Aenderungen angenommen: Die ConcessionSpflicht ist auf die P f a n d v e r m i t t l e r ausgedehnt. Die Ausdehnung der Bestimmungen über das Psandleih- gewerbe ans die gewerbsmäßige Pfandvermittelung ist gestrichen. Die Bestimmungen über die Sonntags ruhe im Friseurgewerbe können auf Antrag von zwei Dritteln der betheiligten Gewerbetreibenden auch auf andere Gewerbe ausgedehnt werden, deren Ausübung zur Befrie digung täglicher oder an Sonntagen besonders bervvrtrrtender Bedürfnisse der Bevölkerung erforderlich ist. Die Vorschriften über die Ausfüllung der Lohnbücher und Arbeitszettel sind vereinfacht. Die in der zweiten Lesung abgelehnten Be stimmungen über die Mitgave von Arbeit nach Hause sind durch neue Anträge wieder ausgenommen; die Abstim mung darüber wurde jedoch ausgesetzt. Ueber die Mittags- pause für die Angestellten in offenen Verkaufsstellen fand eine kurze Debatte statt; Graf Posadowskh empfahl mit Rücksicht auf die Bedenken verschiedener Regierungen einen konservativen Antrag, der die Einführung einer elsstündigen Ruhezeit für Gehilfen und Lehrlinge in Verkaufsstellen von Städten mit über 20 000 Einwohnern streichen und die Mittagsruhe statt 1»/» wieder auf 1 Stunde fest setzen will. Daneben erklärte der Staatssekretär auf eine Anfrage, daß ein besonderer Beschluß über die Sitz gelegenheit für die in Läden Angestellten überflüssig wäre; der BundeSrath werde bestimmt «ine Verordnung hierüber erlassen. Demgemäß wurde der Absatz über die Sitzgelegenheit wieder gestrichen. Die Bestimmungen über dieMinimalruhezeit und dieMittagSpause sollen nach einem Compromißantrag so gefaßt werden, daß sie nur für die Gehilfen gelten, der Principal selbst aber nach Eintritt der Ruhezeit weiter verkaufen kann. Der obligatorische Ladenschluß von 9 Uhr Abend- bi» 5 Ubr Morgen würde endgiltig mit unwesentlichen redaktionellen Aenderungen angenommen. Ein in der Press«, zu unserem Erstaunen auch in der demokratischen Provinzpreffe, wenig erörterter, dennochaber viel bemerkter Vorgang hat sich in der vergangenen Woche bei Stichwahlen zur Berliner Stadtverordneten versammlung abgespielt. Die Hauptwahlen im dritten Wablkörper — wir haben darüber berichtet — waren für vir Socialdemokratie ziemlich günstig ausgefallen; diese Partei trug den Löwenaotheil an den neuen für die Stadtverordnetenversammlung geschaffenen Sitzen da von. ES waren aber noch drei Stichwahlen auS- zukämpfen und in jeder stand ein socialvemokratischer Be werber zur engeren Wahl, während aus bürgerlicher Seite zwei Freisinnige und ein starkantisemitisch angehauchter Conservativer, Herr Rechtsanwalt Ulrich, in Frage kamen. Alle drei Bürgerliche wurden gewählt und zwar — Nachbarin, euer Fläschchen! — auf Grund einer Vereinbarung zwischen den Freisinnigen, die sich in diesem Falle „Liberale" nannten, und den Antisemitisch- Conservativen, die als „Unparteiische" ausgetreten waren. Und Herr Eugen Richerr batte nicht protestirt; ein Wochen blatt sagt ihm sogar nach, er sei di« „Seele de» EompromiffeS" gewesen. Diese» Organ tobt fürchterlich gegen Richter und die Freisinnigen, obwohl sein politischer Redacteur, Herr v. Gerlach, vor gar nicht langer Zeit der Hauptmitarbeiter eines der wüthendsten Antisemitrndlätter, de» Stöcker'schen „Volk" nämlich, gewesen war. Ist diese Erscheinung hübsch, so war das Verhalten freisinniger und zugleich — gelinde ausgedrückt — philosemitischerZeitunaen noch schöner. Mäuschen still vor der Stichwahl, beklagten sie nach drrselben in allen Tonarten die Wirksamkeit des Bündnisse» mit den Conservativen. Da sie aber erst nachträglich reden und da nicht angenommen werden darf, da» bejammerte Eraebniß sei ihnen recht, so müssen sie vor der Stichwahl eingesehen haben, daß r» unmög lich gewesen wäre, einer freisinnig-antisemitischen Vereinbarung erfolgreich entgeaenzutreten. DceS wäre denn auch wirklich unmöglich gewesen und insofern sind diese an sich wenig be deutenden Gemeinvestichwahlen ein werthvolle» Symptom für die Beurtheilung der Lage, wie sie durch eine Auflösung de» Reichstags wegen der Flotte hrrbeigeführt werden würde. Herrn Richter geschieht durch da- erwähnte jüdisch-national-sociale Blatt Unrecht. Er hat den conser- I vativ-frrisinnigen „Mischmasch" — um in seiner älteren I Sprache zu reden — nicht gewünscht, ibn sogar rermuthlich I heimlich verflucht; wenn er ihn aber bekämpft hatte, so würde l er in seiner politischen Residenz, sozusagen im Vorhof seine» Palaste», erlebt haben, wa» ihm bei der Reichstags-Nachwahl in Pirna widerfahren ist: man hätte sich um ihn nicht ge kümmert. Natürlich ist der aufgezwungeneVerzicht in der — soweit Landtag und Stadtverordnete in Betracht kommen — steilsten aller sreisinnigen Hochburgen viel schmerzlicher al- der Mißerfolg in emem Wahlkreise de» „reaktionären" und vom Freisinn längst al» enkwt psrclu betrachteten Königreichs Sachsen. Aber die „Reaktion" ist selbst in Berlin unaufhaltsam. 2S unverfälschte Juden, so stellt ein Blatt fest — die Stadt- vrrorbnetrnwahlen sind öffentlich —, haben für den Antisemiten ihre Stimmen abgegeben, und schlimmer als die That- sache selbst ist die Wahrnehmung, daß jüdische wie christ liche Frestnnige sich ob dieser Fahnenflucht nicht im Mindesten aufregen. Maa kann daran den Wandel der Zeiten erkennen. Nach der SeptennatSwahl erzählte der Abg. Ludwig Bamberger einmal als ein ihm ungeheuerlich dünkende», unfaßbare» Factum, daß ein Rabbiner, um für seinen Tbeil an der Ermöglichung der damals noth- wendigen HeereSverstärkung mitzuwirken, einen Antisemiten gewählt habe. Wenn heute, ohne daß es sich um irgend eine bewegende Frage bandelte, am dürren Berliner Holz Aehn- liche» geschieht, wie erst, wenn sich der Reigen um das grüne Reis einer ausreichenden Flotte bewegen würde? Niemandem, der Wahlkreise mit nicht sehr schwacher jüdischer Bevölkerung kennen zu lernen Gelegenheit gehabt hat, kann e» entgangen sein, wie deutlich die Grundstimmung der links liberalen Wählerschaft gerade bei dem jüdischen Bruchtbeil der Parteigenossen hervortritt. Natürlich auch Herrn Richter nicht, und in der Voraussicht der jüdisch-antisemitischen Ab stimmungen bat er in Berlin gute Miene zum bösen Spiel« gemacht. Bei Reichstagswahlen ist ihm solche Zurückhaltung nicht erlaubt und muß er — ein vielfache» Pirna riskiren. Dies wird ihm, fall» der Reichstag aufgelöst werden sollte, um so weniger erspart sein, als eine Floltenparole unter den Mitläufern der Socialdemokratie wie bei den dem Centrum anhängenden Arbeitern und Industriellen sehr viele unsichere Cantonisten zum Vorschein kommen lasten würde. In Krailkrtich war das wichtigste Ereigniß des letzten Sonntag» die Eröffnung de» Socialisten - Lon-reffeS im Gymnase Voltaire in Pari». Seit dem Socialisten-Cougreß in St. Etienne im Jahre 1882, wo eine erste Spaltung in der Arbeiterpartei entstand, war dies daS erste Mal, daß die einzelnen Socialistengruppen sich zu gemeinsamer Be- rathuug versammelten. Bisher hatten GueSdisten, Broussisten, Allemanisten, Blanquisten und revolutionäre Communisten immer getrennt berathen und sich nur auf den inter nationalen Congresten, da» letzte Mal in London, getroffen. Deshalb erregt dieses Ereigniß umsomehr da» allgemeine Interesse, als die etwa Tausend aus allen Gegenden Frank reichs herbeigekommenen Delrgirten sich über bedeutsame Fragen besprechen wollen. Da» socialistische Proletariat hat gegenwärtig die Wahl zwischen der Politik der Führer IaurSS, Viviaui, Rouanrt, Brousse, Fovrni^re oder den parlamentarischen (Reform») Socialisten und zwischen der jenigen Jule» GueSve», Brillant», GroussierS oder den Revo lutionären. Beim Eintritt Millerand'S ins jetzige Ministerium ließen GueSdisten, Blanquisten und revolutionäre Socialisten ein Manifest gegen die parlamentarischen Socialisten lo», welche» aus deren Ausschluß abzielte, und in welchem man la-, daß mit einer au» Eomprvmiffrn und Auswüchsen be stehenden, nur sogenannten socialistischen Politik, die man der Politik de» streitbaren, revolutionären Proletariat» unter zuschieben strebe, gebrochen werden müsse, denn eS sei Selbst mord, wenn die socialistische Partei eine ministerielle Partei werde. Die parlamentarischen Socialisten ant worteten hierauf mit großer Mäßigung und Iaurö» bemühte sich in zahlreichen Zeitungsartikeln, seine Politik und da- Berhalten seine» Freunde- Millerand zu rechtfertigen. Auf diese Weise kam endlich wieder eine Annäherung der feindlichen Parteien zustande und auf der einen und der andern Seit« stimmte man der Idee bei, den Streitfall einem allgemeinen Congrefse zu unterbreiten, aus welchem alle die einzelnen Socia- listrnschulen vertreten seien. Da» ist der Ursprung de» gegen wärtigen SocialistencongrrffeS. Ob derselbe seinen Zweck der Aussöhnung erreichen wird, scheint, nach dem Anfang zu schließen, sehr fraglich. In der Besprechung de- Eongrrffvs constatiren bereit» mehrere Pariser Blätter, daß eine neue Scheidung innerhalb der Arbeiterpartei unver- meidlich erscheine. Di« vorgestrige Sitzung war so stürmisch, daß eS kaum möglich war, die Redner zu verstehen. Ueber den Verlauf derselben wird der „Köln. Ztg." berichtet: * Pari». 5. December. In der Abendsitzung führt Ligniüre aus: Ein Socialist könne deshalb nicht ins Ministerium eintreten, weil heutzutage ein Minister mit seine» College» solidarisch sei« müsse; man könne keinen Unterschied in ihrer Verantwortlichkett feslstellen. Ueber di» Resolution JaursS, nach welcher es einem Socialdemokraten gestattet, ja unter gewissen Bedingungen ver pflichtet sein soll, öffentliche Aemter in Gemeinde, Departement und Staat zu übernehmen, könne man sich schließlich verständigen, den« sie stelle für den Eintritt ins Ministerium solch« Bedingungen, di« die Theilnahme eines Socialisten unmöglich machten. (Durch fort gesetzte Zwischenrufe entsteht Lärm, d«r Borsitzende droht mit Maß- regeln.) Richard: Ein Socialist in einer Regierung wird feine Dienste theuer bezahlen müssen. Hat er auch die besten Absichten, so wird er doch grnüthigt sein, da» Proletariat zur socialen Ordnung zu führen, die wir zerstören wollen. (Beifall.) Wir muss«» un» darauf beschränken, im Proletariat zu agitiren. D«r Tag wird kommen, wo die Arbeiter der kapitalistischen Gesellschaft ihre Mitwirkung ver weigern werden; das wird der allgemeine AuSstand sein. (Beifall.) Die politische Action der Partei darf nicht die anderen Actionen beherrschen. Laffitte (Blanquist) spricht gegen die Resolution James. Wenn die Republik in Gefahr ist, sagt er, so vertheidigt man sie nicht auf dem Ministerstuhl, sondern man muß dazu sähig sein, sich für 2S Franc- pro Tag erschießen zu lassen. (Widerspruch.) Faberot, ein früherer allemanistischer Abgeordneter, führt auS: Streiten wir uns nicht! Man spricht immer vom Elasten- kampf, kämpft aber nicht. Mr müssen unS zusammenschaaren gegen die Canaille. (Beifall.) Ich liebe nicht die Ehrsüchtigen, die andere befehligen wollen. (Anhaltender Beifall bei den Unab hängigen und Broussisten, Widerspruch bei den GueSdisten.) Kein Socialist darf in eine bürgerliche Regierung eintreten; so lange «S Menschen giebt, die Andern befehlen wollen, werden wir unS La- gegen sträuben. Vaillant, der Führer der Blanquisten, wird bei seinem Erscheinen auf der Rednertribüne mit Hochrufen begrüßt. Er führt auS: Je nachdem wir di« vorliegende Frage entscheiden, wird der SocialiSmus revolutionär bleiben, oder halb bürgerlich und vielleicht ganz bürgerlich werden. Seit einiger Zeit Haden die Radikalen sich in den SocialiSmuS eingrmischt. (Großer Lärm und Widerspruch, Einige stoßen Drohungen au», der Vorsitzende mahnt zur Ruhr.) Baillant fährt inmitten de» Lärm» fort: Der GocioliS- mu» ist unverträglich mit den heutigen Vorgängen. Eia Socialist darf nicht in ein bürgerliches Ministerium eintreten. Wie ergeben FsuLHeton. n Das verkaufte Genie. Ein Sommernachtstraum. Novelle von Anton Freiherrn v. Perfall. Nachdruck rrrtoern. I. Martin Isländer'» Villa lag auf einer mäßigen, mit Obst bäumen bewachsenen Anhöhe über dem kleinen Dorfe. Den Hintergrund bildete ^in steil aufstrigender Buchenwald. Dicht an der zerfallenoen Brststigongsmauer vorüber schlich der schmale Fluß in sanften Windungen durch das Thal, so sachte, daß die Strömung das Bild der alten Ruine am jenseitigen Ufer nur leise sich bewegen ließ, ohne ihre klaren Umriffe zu verwischen. Die Billa war ein altes abgetakeltes Bauernhaus, welche» Isländer um einen Spottpreis erstanden. Ein an der Seite an geflicktes Thürmchen verhalf ihm zu dem Namen, der nicht wenig zur Befriedigung Isländer'» beitrug, während der Anbau sich zugleich malerisch in dir alterthiimliche Umgebung einfügte. Ja, wäre das unförmliche Atrlierfenster nicht gewesen, welche» die ganze Tiefe der hölzernen Seitenwand gegen Norden ein nahm und jeden kriegerischen Eindruck verwischte, man hätte in dem kleinen Bau wohl die spärlichen Ueberreste einer Rivalin der Burg gegenüber erblicken können. Den Martin Jolander litt r» nicht mehr in der Stadt. Er hatte sich einen guten Namen gemacht, verdiente redlich sein Brod, war beliebt und geehrt. Seine Gattin hatte ihm nach kurzer Ehe ein Töchterchen hinterlassen, das jetzt in der vollsten Blüthe seiner Jugend stand und ihm den herben Verlust nach Kräften zu ersetzen suchte. Für einen Künstler gewiß alle» Möglich«; für Jolander nicht»! Einfach weil er an einer fixen Idee litt, die, wie er glaubte, in der Stadt und gerade in der Stadt, in welcher er lebt«, immer neu« Nahrung fand. Er wollt« reich sein! Gerade sein Auskommen haben, war für ihn Armuth. Dir Krankheit reichte zurück bi» in sein« früheste Jugendzeit, war mit ihm aus gewachsen. Sein Vater war Kaufmann, eine Krämerseele, ehrlich ge sprochen. Ewiges Geldgeklimper und Banknotenrauschen, eiserne Cassrnschränke, Handeln und Feilschen, rastlose» und fruchtlose» Ringen um den Mammon; dann wieder die Pracht der großen Häuser, deren Thiiren ihm alle offen standen, all' die befriedigten üppigen Wünsche, die absolute Macht des Goldes auf allen Ge bieten des Genusses, des guten Geschmackes, die ihn so fühlbar umdrang, die unumschränkte Freiheit des Wollens, die sie ge wahrt«, das war das Milieu, in dem er ausgewachsen. Die Kunst, die ihn daraus befreite, ihn rettete au» dem dumpfen Leben hinter d«m Ladentische, heilte ihn nicht von dem Gebrrste. Sie gab nur seinem glühenden Verlangen einen idealeren Inhalt, im Uebrigen nährte sie e» nur. Wer ist denn genußbrdürstiger al» der Künstlet, der mit seinen starken und doch unendlich diffe- renzirten Nerven das ganze Weltall in sich saugen möchte, mit all' seinen Schätzen, all' seinen Freuden und Lüsten! Ja, was ist denn alle darstellend« Kunst, alle noch so vollendet« Wiedergabe der Erscheinung gegrn diese höchste einzige Kunst, dem Faßbaren Reize abzugewinnen, alle» Schöne, Große, Erhabene der Schöpfung sich zu eigen zu machen und in Har monie zu bringen! WaS ist ein noch so vollendetes Bild, eine noch so vollendete Statue gegen da» LebenSmeisterwerk eine» Mäcenaii, eines Lorenzo von Medici, welche» Jahrhunderte durchstrahlt! Und doch war der Eine kaum im Stande, einen mittelmäßigen Der», der Ander« einen richtigen Kohlenstrich zu machen. Und was befähigte sie allein dazu, das zu werden, wa» sie waren? Ihr unermeßlicher Reichthum. Ohne ihn wäre wohl Mäcenas zeitlebens ein obskurer Dichter geblieben, während der große Lorenzo e» vielleicht zu einem Zeichenlehrer gebracht hätte. Alle» Unsinn, von dem Dichter im Dachstübchen, von der Kunst, die in den bescheidensten Verhältnissen am besten gedeiht, während da» schnöde, plumpe Geld ihre duftigsten Blüthen knickt. Krank konnte er sich ärgern über solche Phrasen. Im Gegentheil, nur der Reichthum gestattet rin künstlerisches AuSleben, dir Kunst, die er al» di« einzig Bollgittige ansah, al» deren verbannten Jünger er sich fühlt«, gegen die das, wa» «r da trieb, Handwerk war, Nothbehelf — di« Lebeniikunst! Keinen Pinsel wollte er mehr anrühren und doch der größt« Künstler sein, dessen noch die spätrst«n Geschlechter gedenken sollten. Und dann, wenn er um sich blickte auf di« L«ute, welch« d«n h»ißers«hnten Reichthum besaßen, welch' bodenlos« Talentlosigkeit in der Anwendung! Kein Wunder, daß man ihn haßte, daß die Stirnen sich runzelten, die Fäuste sich ballten bei dem Anblick all' der barbarrnhaften Rohheit, di» «r zeigt«, der plumpen schreienden Farben, in bi« er sich kleidete, all' der Verzerrungen de» Ltben», die er wagte, de» Hohne» auf all« Größe, alle Schönheit, alle Herz und Auge erfreuende Zier. Nicht der Reichthum an sich beschwört alle die finsteren Dämonen herauf auS dem Abgrund, vor denen die ganze Gesellschaft zittert, nur feine herausfordernde, fratzenhafte Götzengestalt, die er angenommen, anstatt der eines frucht schwellenden, segenspendenden, schöttheitstrunkenen Licht gotte», dem sich Alle» freudig beugen würde. Der Reichthum eines Medici konnte keinen Groll erwecken und erweckte auch keinen. So war e» nicht so fast der Neid, al» der Ekel, der ihn au» der Stadt trieb, ein gerechter Zorn, wie er sich einredete, über da» blöde Schicksal, da» seine Gaben so gedankenlos vergeudet. Die freie Natur schien ihm in dieser Beziehung viel wählerischer^feinfühliger. Sie verweigerte dem Unberufenen hart näckig ihre Schätze, verschließt sich ihm in herber Keuschheit, um den Auserwählten mit um so brünstigerer Gluth zu umklammern, ihm Alle» gewährend. Es war Methode in seiner fixen Idee, ein kräftiger WahrheitSkern. Marie Isländer hatte zum Glück diese Anlage des Vater» tv«der geerbt, noch ließ sie sich in ihrem jugendlich schlichten Sinne von den begehrlichen Reden de» Vater», seiner ständigen Un zufriedenheit irgendwie beeinflussen. Sie hatte nur «inen Wunsch, ihn glücklich zu sehen. So folgte sie ihm freudig in die ländlich« Einsamkeit, nachdem sie sich mit bitterem Weh ohnmächtig gefühlt, zur Erfüllung seine» sehnlichen Begehren» beizutragen, wenigstens Heilung hoffend. Und sie blieb nicht au«. Da» Bewußtsein de» eigenen Besitzes, so klein er war, der beruhigende Einfluß der Natur, da» Fernsein aller belästigenden Eindrücke, ernste, un gestört« Arbert, da» Alle» verfehlte seine Wirkung nicht. Dckbei boten sich hier auserlesene Genüsse ganz intimen Stils, die seiner Veranlagung zur Lebenskunst, auf die er sich so viel zugute that, wohl ein Feld der Bethätigung boten, wenn auch in ganz bestimmten, engen Grenzen. Ja, es dämmerte in ihm das Bewußtsein auf, daß dieselbe durchaus nicht des großen Rahmens bedürf«, den er bisher für unerläßlich gehalten. Jolander freute sich im Frühjahr an der Pracht, an dem Duft der Rosen, dir er in seinen „hängenden Gärten" gezüchtet, wie er die gegen den Fluß zu steil abfallenden, von kleinen zer bröckelten Mauern züsammengehaltrnen ehemaligen Rebenanlagen taust«, baut« anstatt der einstigen himmelragenden Luftschlösser kleine Gartrnhäuser und Grotten, legt« «inen kleinen Teich an silr buntfarbige Enten und den Lieblingsvogel seiner Phantasie, einen Schwan. Er betrachtete den Buchenwald dicht hinter seinem Hause al» seinen Park, Mari« in ihrem schlichten Kleid«, mit dem brattranbigen, stet» blumengeschmückten Ttrohhut«, mit ihrem heiteren Lachen, ihrem sonnigen Bemüth«, ihrem ungezwungenen Reiz al» sein« Fe«; und sein Schaffen war der Widerschein Vies«! n«u«n L^>enl. Dazu kam, daß die geradezu ärmlichen Verhältnisse der Dorf bewohner, welche sich bedenklich den Grenzen der Noth näherten, die seinen immer noch glänzend, al» reinsten Ueberfluß erscheinen ließen, so daß ein Gefühl der Scham über seine Unzufriedenheit sich in ihm regte. Sein krankhaftes Begehren, seine ungestillte Sehnsucht nach dem Golde, dem Schlüssel zu seinem Parckdiesr, heilte langsam aus dem wohligen, phantastischen Träumen und Pläne-Ent- wersen, dem immer seltener «in schmerzlich«» Erwachen folgte. Und Marie folgte ihm willig in da» Traumland, wenn sie unter den Buchen lagen und hinab blickten auf Thal und Fluß und Burg, und sie ergötzte sich selbst an den farbenprächtigen Bildern, die er im Geiste entwarf, verloren sie doch zusehends an Uebertreibung und krankhafter Unnatur und rückten immer mehr in da» Bereich der Wirklichkeit. Da trat ein Ereigniß rin, welche» die ganze Gegend in nicht geringe Aufregung versetzte. ES war ein strahlender Maimorgen. Jolander saß »den mit Marie auf der „Rosenbastion", einem weit vorspringenden, von den duftigsten Blüthen umrankten Mauerwerke, beim Früh stück, und blickte, den Arm um dir Schulter seiner Tochter ge schlungen, sein Holzpfeischen rauchend, mit welchem er sich, nach langer Feindschaft zu Gunsten der eines LebenAünstler» allein würdigen Jmportcigarr«, wieder ausgrsöhnt hatte, selbstzufrieden hinab in das blühende Thal, das Dorf mit den alten ge schwärzten Kaminen, aus denen bläulicher Rauch sich ringelte. Marie las ihm dir Zeitung vor. Politik, Ausstellungsberichte. Es lag ihm mehr daran, dir klangvolle Stimm« zu hören als den Inhalt. Dann kam das Vermischte, das hörte er gern; abenteuerliche Geschichten, faustdicke Lügen, rührende Romane; da» regte die Phantasie an. Einmal stockte die Leserin, überging sichtlich «in« Stelle. Er wollte in das Blatt sehen. Ti« wehrt« r» ihm. Da wurde er neugierig, entriß es ihr nach leichtem Kampf«. „Ah so Er lachte hell auf. „Ein Goldregen. Du glaubst wohl, ich könnte ihn nicht mehr vertragen. Oh, lies nur, li«» nur, mir ist g«rad« heut« so un- gehsuerkich wohl, daß ich wahrlich nicht di« Hand ausstrecken würde nach einem Tropfen. Jetzt mußt Du lesen." Zögernd begann Mari«: „Gin Goldregen ermißt sich be fruchtend über unsere Stadt, und Vs ist al!« Aulsicht, daß sich derselbe auch weit«r in da» Land hinau»bew«gen wird. Kaum ist da» Palais Henry Float'», de» californisch«n Nabob», der seit einem Jahre in unserer Stadt weilt, vollendet — rin mit dem
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