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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 16.02.1900
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1900-02-16
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19000216023
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1900021602
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1900021602
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
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- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1900
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1SL4 warte», daß dir Boeren sich in dem für ihre Taktik un günstigen, ziemlich stachen Gelände nicht der britischen Ueber- macht stellen würden; sie baden offenbar die dortigen Positionen und vermuthlich auch JakobSdal rechtzeitig geräumt. Fraglich bleibt, ob sie, wenn die Umgebung der Engländer im Osten weitere Fortschritte macht, gezwungen sein werben, auch ihre Stellung bei Magerösontein auszugeben, damit sie nicht von ihrer RückzugSlinir aus Bloemsontein abgedrängt werden. Möglich ist auch, daß, da die Be- zwinguilg Kimberleys bis zu Roberts' Vorstoß nicht gelungen »st, die Boeren doch noch östlich der Stadt die Schlacht gegen Robert» auf nehm en. Auf die letztere Möglichkeit scheint «ine frühere Meldung aus Kimberley hinzudeuten.die mit- theilte, daß die Boeren seit dem 7. dS. begonnen hätten, im Osten der Stadt, also in der Richtung, von wo der An marsch deS LordS Roberts jetzt zu erwarten ist, eifrig Schützen gräben auSzudeben, durch diese gedeckt, sind ihre Scharf schützen dem Feinde ebenso gefährlich, wie im Felsengeklüsl der KopjeS von MagerS- und Spylfontein. TaS haben sie bei dem ersten Versuch Metbuens, den Modder zu über schreiten, bewiesen. Der englische Rückzug von ColeSberg bat thatsäcklich nicht bei Renöburg Halt gemacht. General Elements hat seine Truppen noch weiter südlich bis Arundel zurücksühren müssen. So meldet „Daily Chronicle" aus Capstadt unterm heuugen Dalum: Der Boerengencral Schoemann ist dem Feinde also bart auf den Fersen oder dicht in der Flanke. Man darf gespannt sein, wo er die Engländer endlich stellen wird. Sonst wird über die dortigen Vorgänge noch gemeldet: * London, 16. Februar. (Telegramm.) „Reuter's Bureau" berichtet aus Pretoria vom 12. d. M.: Der Correspondent in ColrSberg meldet: Am Freitag wurde rin Gefecht geliefert, bet dem die Boeren 3 Tobte und 5 Verwundete hatten. (Gemeint ist der Kamps, welcher Clements' Rückzug zur Folge hatte. D. R) * Rensbnrg, 15. Februar. („Neuter'S Bureau.") Die eng lischen Verluste in den Kämpfen bei RenSburg vom 10. und 12. d. M. betragen (angeblich. D. Red.) 4 Osficierc und 7 Mann lobt, 6 Ossiciere und 14 Mann verwundet; 2 Ossiciere und 8 Mann werden vermißt. Dir Zahl der Verwundeten von zwei Regimentern ist noch unbekannt. Ans dem Hauptlagcr vor Ladysmith wird dem „Neurer'schen Bureau" vom 13. d. M. gemeldet: Gestern Hal General Botha mit einer kleinen Abtheilung den Tuge la überschritten, um die von den Eng ländern verlassene Stellung zu besichtigen. Botha stieß auf 40 LancerS, die wahlschemlich zurück geblieben waren, und kam mit ihnen in ein G-fecht, bei dem 13 LancerS getöblct, 5 verwundet und 9 ge fangen genommen wurden. Einer der Letzteren wurde zu den Truppen entsendet, um sie auszufolderii, die Verwundeten abzuholen. (Wahrscheinlich handelt es sich um ras bereits gemeldete Dorposteugesecht bei Springfield.) Gestern bewegte sich eine starke englische Abtheilung aus Coleuso zu und lagerte sich in der Nähe des BoshkopS. Um Lady smith ist AUeS ruhig. „Morning Heralb" erfährt von einem etwas phantasie vollen Berichterstatter: General Buller solle mit einer starken Division von Ebivcley nach Turban, von da über Capstadt nach de Aar gehen, um von dort aus einen Flankenmarsch gegen die Boeren auSzuiühren. General Warren solle mit einer hinreichenden Streitkraft die Boeren bei Ladysmith festhallen, b>S der neue Feldzugsplan von Lord Roberts zur Ausführung gelangt ist. General Joubert. Das „Bureau Lassan" meldet aus dem Haag, dort sei die ofsicielle Nachricht aus Pretoria eingegangen, daß General Joubert in der Schlacht bei Eolenso am 15. December durch einen Granatsplitter am unteren Theil seines rechten Schenkels verwundet worden sei und daß man den Splitter erst am 18. Teccmber habe herauöziehen können. Damit ist die Behauptung des französischen Leutnants Galopouv un vereinbar, ter mittbeilte, daß General Zoubert bei Eolenso nicht commanvirt habe, da er schon vorher mit seinem Pferde einen Unfall gehabt habe. Portugal reagirt nach wie vor nicht auf die englischen Versuchungen, die auf die Abtretung der Delagoa-Bay abzielen. In der gestrigen Sitzung der Deputirtcnkammer in Lissabon er klärte der Marineminister Villaca, die Negierung werde den portuziesiichen colonialen Besitz unversehrt auf- reckterhalten. Ein Antrag, betr. den Verkauf „gewisser Eolonien", wurde mit einer Mehrheit von 64 Stimmen ab- gelebnt. Wie die Lissaboner Blätter berichten, werten bald 500 Soldaten abgehen, um die Garnison in Mozambique zu verstärken. Der „Frkf. Ztg." wird auö Lissabon, 11. Februar, ge schrieben: „Die von Lissabon nach Lourentzv Marques und von Lourengo MarqueS nach Lissabon über England besörderten Briefschaften werden von den englischen Behörden an- gehalten und verletzt. ES entstehen Verzögerungen von fünf bis sechs Wochen in der Ablieferung, worunter besonders die eingeschriebenen Sendungen zu leiden Haden. Hiesige bedeutende Kaufleute bereiten eine Eingabe an den Präsidenten der Kaufmännischen Vereinigung vor, um bei der portugiesischen Regierung gegen diesen Mißbrauch vorstellig zu werden." Der Correspondent bemerkt zu dieser Mittheilung: „Da mein beute aufgegebenes Telegramm mög licherweise von der Censur unterdrückt wird, erlaube ich mir den Inhalt brieflich zu wiederkolen." DaS Telegramm ist in der Tbat nickt in Frankfurt angekommen. Wir verzeichnen noch folgende Nachrichten: * Üoustautinopel, 14. Februar. Die englische Regierung unternimmt seit gestern hier Schritte zum Ankäufe mehrerer Batterien für Südafrika. * Strahburg, 13. Februar. Die elsässischen und loth ringische» Studenten der hiesigen Universität beschlossen, »iae Sympathiedepesche an den Präsidenten Krüger zu senden. Ein englischer Spion erschaffen. AuS Durban wird dem „TempS" gemeldet, daß dort rin Leuckttburmwäckter, ein echter Engländer, als Spion der Boeren entdeckt und auf einem Kriegsschiffe erschossen worden ist. Derselbe soll, wenn ein Truppen-TranSportsckiff in den Hafen einfuhr oder anssubr, durch Zeichen nach außen bin Mittbeilungen über die Anzahl der Soldaten, Geschütze, Pferde :c. gemacht haben, so daß die Boeren ckm Tugela drei bis vier Tage über alle Vorgänge in Durban auf das Genaueste unterrichtet waren. Der 60 Jahre alte Leucht- tburniwächter gestand, seit dem Beginne des Krieges Spionage geti ieben zu haben und für jedes Telegramm 60 Lstrl. erhalten zu haben. Er hinterläßt seiner Familie ungefähr 6000 Lstrl. (120 000 .6) Die englischen Blätter schweigen über die Angelegenheit. Grausamkeit und Vaudalismus im Kriege. (Von einem alten preußischen Ossicier.) * Londou, 12. Februar. Bisher habe ich es absichtlich vermieden, die Aufmerksamkeit deS LeserS auf die traurigsten Folgen eines jeden Krieges zu lenken, nämlich auf die unvenneidliche Verrohung, welcher die sittlich weniger widerstandsfähigen unter den Soldaten aller Grade und aller Böcker verfallen. Nachdem aber die „Times" unvorsichtigerweise den continenialen Blättern den Vorwurf ge macht haben, Unwahrheiten über das Verhalten der englischen Truppen veröffentlicht zu baden und da jetzt durch die gegen seitigen Anklagen, welche Boeren und Engländer, die Ersteren durch ihre Piäsieenten, die Letzteren durch den Oderconiman- direnden Lord Roberts gegen einander richten, eine Besprechung deS Benehmens der Kriegführende» fast geboten erscheint, will ich der Grausamkeit und dem Vaudalismus eine kurze Betrachtung zu Tbeil werten lasten. Vor allen Dingen ver anlaßt mich auch dazu ein Artikel in dem englischen Militär- wockendlatt „Broad Arrow", in welchem den Boeren vorgeworfen wird, daß sie, ohne gleich viel Veranlassung dazu zu Haden, in Natal ebenso schlimm gebanst hätten, wie die Preußen in den Jakren 1814/15 in Frankreich. Der Schreiber des Artikels belegt seine Behauptung über bas Ver halten der Preußen mit keinem einzigen Beispiel, ich bin daher auch nicht in der Lage, seinen Quellen ans den Grund zu geben und muß mich darauf beschränken, seine Angaben einfach zu be zweifeln, bis er sie unwiderlegbar beweist. Wenn aber die „TimeS" versickern, daß die englische Presse im Jahre 1870 den aus französiichen Quellen kommenden Verleumdungen deut scher Truppen ibre Spalten verschlossen habe, so irrt sie sich. Noch vor wenigen Jahren gefielen sich Londoner Morgen blätter in der Erzählung von deutschen Plünderungen in dem französischen Kriege, ohne daß sie eine andere Quelle anzu führen wußten, als chauvinistische Schmutzblätter, die selbst in Frankreich bei dem anständigen Publicum keine Geltung haben. Wenn aber während des augenblicklichen Krieges deutsche Blätter Berichte über englische Schandthalen brachten, so thaten sie dies hauptsächlich auf Grund der in der eng lischen Presse selbst mit einem gewissen Behagen ver öffentlichten Briefe englischer Soldaten, die sich öffentlich des gemachten Raubes und der Niedermetzelung wehrloser Gefangener rühmten. Der englische Rittmeister, der bei Elandslaagte seinen Ulanen zurief, „das Un geziefer zu tödten" und dadurch den Mord der um Pardon flehenden Boeren veranlaßte, der Jubel der englischen Soldaten über die reiche Beute an Uhren, Geld und anderen Werlhsachen, die Mittbeilungen, daß die vom Modderfluß in den Oranjestaat eindringende Cavallerieabtheilung Farmen niederbrannte — alle diese Dinge sind englischen Blättern entnommen und bis heute noch nicht widerlegt worden. Wir können also von allen Berichten der Boeren über das Verhalten der englischen Soldaten absehen und uns bei der Verurtheilung deS englischen Militärs ganz aus englische Quellen stützen. Nun liegt andererseits eine Meldung auS Boerenquelle vor, nach welcher die 9. Ulanen, dieselben, welche bei ElaudS- Laagte so grausam vorglngen, au« Ladysmith gelockt und bl- auf wenige Mann von den Boeren niedergcschosten sein sollen. Zunächst trägt diese Nachricht den Stempel der Unwahrscheinlichkeit an sich, denn wäre e« den Boeren ge lungen, die erwähnte Racke an den Ulanen zu uebmen, so würden die Namen der Gefallenen in den englischen Verlust listen erschienen sein, und das ist nicht der Fall gewesen. Weshalb aber ein Theil der deutschen Presse, selbst wenn man die Nachricht für richtig hält, dies Vorgehen der Boeren mit dem Vorgehen der englischen Ulanen bei ElandS- Laagte auf gleiche Stufe stellt und als gleich verurtheilenS- wertb bezeichnen zu müssen glaubt, ist mir nicht klar. Die 9. Ulanen baden nach eigenem Eingeständniß die waffenlosen Boeren, die sich ergaben, bei Elandslaagte nieder- gestocken „wie Ungeziefer" und sich besten gerühmt. Dadurch bat sich diese- Regiment tbatsächlich jeden Anrechtes auf eine Behandlung als reguläre Truppe begeben. Ich würde, das sage ich offen, diese Ulanen, die sich gegen den Kiiegsbrauch in so grober Weise vergingen, kriegSrecktlick baden verurtbeilen lassen, wären sie mir als Boerenführc» i.i die Hände gefalle». Die Boeren sind, selbst wenn wir dem Boerrnbcricht glauben, diesen Ulanen gegenüber sehr anständig gewesen. Sie haben den Leuten, die beim ersten Kampfe zu erkennen gegeben hatten, daß sie von KriegSpardon nicktS wissen wollten, Gelegenheit gegeben, bis zum letzten Manne zu kämpfen und mit der Waffe in der Hand zu fallen, während die Ulanen bei Elandslaagte zum Theil den Boeren zugerufcn haben sollen, die Waffen wegzuwerfen, und dann erst die Wehrlosen er schlugen. Gewiß wäre eS christlicher gewesen, wenn die Boeren die Mörder von Elandslaagte gefangen genommen und mit christlicher Liebe behandelt hätten, aber ich möchte dock alle Diejenigen, die für christliches Verhalten im Feldzüge schwärmen, darauf aufmerksam macken, daß Krieg fuhren und Ebrislentbum nickt das geringste mit einander zu thun haben. Eine christliche Kriegsfübrung ist eine eontra- ckictio iu ucljecto. Wären wir wahre Christen im Sinne deS NcligionSsiifterS, so führte» wir überhaupt keine Kriege und hätten weder eine Armee noch eine Flotte uölhig. Im Feld zug» gelten nur praktische Grundsätze und aus rein prak tischem Grunde ist dem grausamen Feinde gegenüber eine Duldsamkeit verfehlt. Nur eins kann die Grausamkeit anstreiben, das ist die Furcht vor Repressalien. Man nehme diese Furcht dem Gegner und man kann sicher sein, daß er bei nächster Gelegenheit seiner unbestraft gebliebenen Grausamkeit die Zügel wieder schießen lasten wird. Grausamkeiten werden im Kriege immer vorkommen. Der höher ge sittete der Kämpfer kann diesen Grausamkeiten nur durch Energie und Strafen, nicht aber durch Milde entgegen treten. Daß es übrigens nützlich ist, in der Presse tbat- säcklick bestätigte Fälle von Grausamkeit und Van- daliSmuS zur Sprache zu bringen, das geht Wohl daraus bervor, daß die englische Heeresleitung sich nach Ver öffentlichung der Plündcrbriefe der Soldaten veranlaßt sah, ein Verbot des Plünderns zu erlassen. Ganz unbegreiflich erscheint eS, daß der „Broad Arrow", um ein Gegenstück zu den Verwüstungen durch die Boeren zu finden, auf das Ver halten der Preußen im Jahre 1814/15 znrückgreift. Die englische Geschichte würde ihm Gegenstücke genug geliefert baden und ich will z? seiner Belehrung gleich ein solches hier anführen. AIS im Jahre 1842 die englischen Truppen unter General Pollock Cabnl einnahmen, beschloß der eng lische General, zur Strafe für an Engländern verübte Gransanikeiten, den großen Bazar zu zerstören, versprach der Bevölkerung aber im klebrigen Schonung. Aber — die Truppen blieben nicht in der Gewalt der Ossiciere. Major Rawlison schrieb darüber: „Es verbreitete sich das Gerücht, daß man Cabnl zur Plünde rung bestimmt habe. Beide Lager stürzten in die Stadt, und die Folge war die fast vollständige Vernichtung der meisten Siadt- ideile. Ganze Schaaren der Einwohner waren nach Cabul zurück gekehrt, weil sie unteren Versprechungen geglaubt hatten. . . . Biele von diesen hatten ibre Läden wieder geöffnet. Die Leute wurden vollständig an den Bettelstab gebracht. Ihre Häuser wurden ausgeplündert und ihnen dann über dem Kopse angezüudet. Besonders die Hindus haben alles Eigenlhum verloren und sie werden sich hinter unseren Colonneu den Weg nach Indien er betteln müssen. . . So steht eS zu lesen in „(lassel's llistor^ ok Lnglanä." In Zukunft wird also die englische Militärzeitung gut thun, für jede Art von Grausamkeiten die Gegenstücke in der eng lischen Geschichte zu suchen. Sie sind zahlreich, wie der Sand am Meere und finden sick sogar in der Geschichte deS letzten SudanfeldzugeS. Lord Roberts muß aber seine Kriegs geschichte nicht genau studirt haben, wenn er behaupten kann, daß muthwillige Zerstörung gar nicht dem Charakter der eng lischen Soldaten entspreche. Die Elemente, welche durch den Krieg zur Bestie werden, sind in allen Heeren vertreten, vor allen Dingen aber in einem Söldnerheere. Die Nichtig keit dieser Behauptung wird wohl auch die englische Presse nicht zu bestreiten wagen. (Fikft. Ztg.") „Eine fünffache Ucbermacht hat uns erdrückt." 8.-6. Loudon, 14. Februar. Es ist immer daS alte Elend: Die Wahrheit ist zu nüchtern und zu brutal und dieses Volk, da« so stolz auf seine praktisch-gesunde Anschauung der Dinge war, fast ebenso stolz, wie auf seine Wahrheitsliebe und seinen gesunden Menschenverstand, tritt beute ruhig alle diese kostbaren Güter mit Füßen, lediglich,weil eS vom Taumel deS Chauvinismus erfaßt ist. Der CbauviniSmuS ist leider eine Epidemie, die zu ihrer Zeit jedes Volk erfaßt und in jedem Falle, je nach den localen Verhältnissen, der Eharakteranlage und dem Stande seiner geistigen Bildung, und vor Allem seiner Selbst ständigkeit, mehr ober weniger schwere Verheerungen anricktet. Aber eS bleibt ein besondere» warnendes Zeichen unserer Zeit, daß ein schon an sich und in sich gesundes Volk, wie daS englische, von dieser Seuche deS Jingoismus so schwer heimgesucht, und so tief von seiner sittlichen Höhe herab gestürzt werden konnte. Ick sage absichtlich „sittliche Hobe", denn dieses systematische Vertuschen der offenkundigsten Wahr heiten ist nichts anderes, als eine sittliche Verwilderung, als ein sich selbst Entmannen, durch fortgesetzte Benutzung der bewußten Unwahrheit, d. h. der Lüge, zur Vertuschung der Wahrheit. Wir haben dasselbe Schauspiel nach jeder eng lischen Niederlage, selbst nach jedem kleinen Mißlingen erlebt. ES fehlte an dem ehrlichen Eingesteben wenigstens der offen kundigsten Mängel im eigenen Interesse und an der Einsicht, daß die Zeit gekommen, wo man sich nicht selbst mehr in kindlicher Einfalt etwas weiß machen und den Vogel Strauß spielen dürfe. In den letzten Wochen erst lagen thatsächlicke Anzeigen für eine Besserung vor. TaS Mißlingen des dritten Buller'schcn An griffes wurde relativ sachlich und ruhig behandelt, aber heute wird cs klar, leider klar, daß das nur geschah, weil man sich gleichzeitig mit der großen Offensivoperation Lord Roberts' trösten zu können glaubte und, als man erkannte, daß auch diese bereits in ihren ersten Anfängen versagte, daß der große Vorstoß in den Oranjefreistaat in seiner Gesammtconstruetion zusammenbrach, noch ehe er begonnen, dann griff man sofort wieder zu dem alten, abgenutzten, bis zum Ekel erschöpften Mittel der Lüge und der Vertuschung in jeder Form. Für wen, wozu, in welcher Absicht — fragte man sich vergebens. Denn daS englische Volk als solches ist selbst unter diesem, so jämmerlich zusammenbrechendeu Systeme noch heute gesund genug, um in dem Augenblicke, wo eS die ganze Kläglichkeit dieses Epbemerismus erkannt hat, sich aus zuraffen und Ordnung zu schaffen. Im Grunde genommen ist eS nur eine Hand voll überaus energischer, zielbewußter und rücksichtsloser Charaktere, die gestern daS Brittenreich in diese Irrwege geführt und es heute noch wie einen ehr lichen Mann, der schlaftrunken um sich blickt, ohne reckt zu begreifen, wo er sich befindet, auf diesen gefährlichen Pfaden sesthält. Ich sprach gestern mit einem der besten englischen Alt liberalen, gemäßigster Richtung, über die Kritik der contincn- talen Presse zu den Erscheinungen, welche der gegenwärtige Krieg in England hervorruft. Der alte Herr, langjähriger, erfahrener Parlamentarier und ein begeisterter Verehrer seines Vaterlandes, drückte mir zum Abschied die Rechte, mit den Worten: „Ihr Anderen urtheilt jetzt manchmal herbe über uns, aber Ihr erweist u»s, vielleicht ohne es zu wissen, damit den größten Dienst, den unser bester Freund uns leisten könnte. Ihr rusr uns zur Achtung vor uns selbst zurück und die junge Generation wird es in erster Linie der sachlichen deutschen Kritik zu verdanken haben,wenn sie zur reckten Zeit erwacht und sich selbst wiedersindet." Ick habe stets genau dieselbe Empfindung gehabt: Der beste Freund Eng lands ist heute derjenige, der ihm ehrlich und unparteiisch, aber rücksichtslos, den Spiegel der Ideale vorhält, welche unter englischem Namen so lange der Jugend eines etwas verschwommenen WeltbürgerthumS voranleuchtete. Ich bin da auf Abwege gerathen — aber eS schadet manchmal nichts, selbst am unrechten Orte ehrlich und rück- haltsloS auszudrücken, was man tief empfindet. Also bei Renöburg haben nach der Mehrheit der eng lischen Blätter dieselben Freistaatler, welche so kriegsuntüchtig und so wenig kampfentschlosstn waren, daß sie bald mit dem Revolver, bald mit der Ochsenpeitsche in die Schützen gräben getrieben werden mußten, bald durch ihre Führer mit britischen Generälen, ja mit Herrn Chamberlain, nm bessere Bedingungen unterhandelten, 10 000 britische Truppen aufgerollt, geschlagen und zu einem fluchtähnlichen Rückzüge gezwungen, welcher sein Gegenstück nur in dem verhänanißvollen Nachtmarsche von Glencoe nach Ladysmith hat. Die ganze Wahrheit über diese Flucht wird erst später bekannt werden. Was wir darüber wissen, ist nur Flickwerk, nicht einmal die Thatsache kann endgillig fcstgestellt werden, ob die Engländer, wie auS sonst guter und zwar englischer Quelle versichert wird, ihre gesummten schweren Geschütze zurücklassen mußten, wie sie thatsächlich fast ihren ganzen Train, ihre Zelle, ihre Ochsengespanne und Karren und ihr ganzes Lagermaterial, einschließlich eines großen Theils der Munition im Stich lassen mußten. Gerade deshalb, und weil man weiß, daß die ganze Wahrheit aus die Dauer doch nicht zu verheimlichen ist, wird heute die Mähr von der fünffachen Uebermacht der Boeren in Riesenletlern auf allen ZeitungSaffichen verbreitet. Die ver- ebrlichen englischen Redaktionen müssen eine recht verächtliche Meinung von ihrem Leserpublikum haben, wenn sie ihm wissen, ich darf nur an drei Abenden in der Woche lammen." „Es thut mir leid, daß ich es nicht anders einrichten kann", versetzte Gertrud betrübt. „O, daran ist nichts verloren", erwiderte Eickstedt in schleppen dem Tone. Er hatte seine Sachen auf einen Stuhl gelegt, stand jetzt in der Mitte der Stube und ließ seine Blicke umherwandern. Er sah abgespannt unv ungemütlich aus. „Ungefähr so habe ich mir Ihr Milieu vorgestellt. Wie ist's Ahnen derweil ergangen, Fräulein Gertrud? -Sind Sie fleißig gewesen? -Sie sind immer fleißig, nicht wahr?" „Das ist doch das Geringste, was man von sich zu fordern Hal", erwiderte sie. ,/Und Sie Haden auch den gehörigen Fanatismus für Ihre Kunst?" „Ohne den würde ein Mädchen überhaupt nicht über die ersten Schritte hinauskommen", versicherte Gertrud ernsthaft. „Das glaube ich." — Eickstedt hatte den Kopf eines weiß- bärtkgen Alten in brauner Mönchskutte ins Auge gefaßt, der 'hm von der Wand entgegenblickte. Gertrud hielt die Lampe hoch, und er musterte die ganze Galerie von Männer-, Frcruen- und Kmderköpfen, Costümf-iguren, Blumen- und Fruchtstückm. .Wird auf der großen Ausstellung etwas von Ihnen zu sehen sein?" fragt« er dann, als die Lampe wieder auf dem Tische stand, indem er sich setzte und seine Handschuhe auszog. <G«rtruid schüttelte den Kopf. „So weit sind wir noch nicht." „Seit wann malen Sie?" „O — feit meinem sechsten Fahre", erwiderte sie lächelnd. „Da bekam ich meinen ersten Farbenkasten. Vorher hatte ich Mich mit Schiefertafel und Griffel behelfen müssen." „Also ein geborenes — Talent —" Hans hatte „Genie" sagen wollen, aber das hätte wie Phrase oder Ironie geklungen, diesem ernsten, gewissenhaften und — wie ihm schien — mühseligen Streben gegenüber. Seitwärts auf dem rustden Tisch« laa ein in graue Leinwand gebundenes Skizzenbuch. Eickstedt griff danach und blätterte darkin, und zwar Mit schnell wachsendem Interesse. Es enthielt vielerlei Bleistiftskizzen, nicht nur figürliche, son dern auch landschaftliche. Ein Baum, ein Zweig, ein paar Zaun latten waren mit knappen Strichen festgckhalten. Größere und kleinere Portratskizgen in allen Stufen der Ausführung waren überall verstrout. Eickstädt betrachtete sie mit lebhaftem Er götzen. „Gai» fiamos. Die haben Leben. Was für eine unbezahl bare Phiusterpifage! Das sind keine Berliner Gelichter." „NHn — daS sind meine lieben Elbinger Mitbürger", er widerte Gertrud lachend, setzte sich zu ihm auf das Sopha urtd übernahm die Vorstellung. „Dies ist unser biederer Hauswirth. -- Hier mein lieber alter Lehrer — er hat seine Studien noch zu Thorwakdsen's Zeit in Rom gemacht und war groß im Copiren, Rafael'schcr Madonnen. Hier diese würdige Stiftsdame hat uns 1 Kinider alle verhätschelt — hier unsere Schneiderin —" Ein jovialer älterer Herr mit kahler Stirn und großen! Brillengläsern war Justizrath Vollrach, der Händekschwärmer. Mn flotter Schwerenöther nit genialer KünstlermÄhne, Mustk- director Rohde, der Wagnerfanatiker. Jeder von ihnen das vergötterte Haupt eines der beiden großen Musikvereine, deren er bitterte traditionelle Parteikämpfe den Friedest Elbinger Still lebens zerrissen. „Köstlich!" sagte Hans, der ganz heiter geworden war. „Sie haben dort noch Originale. Die beiden Hennings gehörten auch in diese Galerie. Unserer verehrten Tante kann ich viel ver zeihen, ihr«r Drolligkeit halber. Philipp ist ein prächtiger, an ständiger Kerl, aber auch em wunderlicher Kauz, meinen Sie nicht?" „Er hat ein abenteuerndes Leben geführt, ist sich selbst aber immer treu geblieben. Onkel Philipp ist mein ganz besonderer Freund." Hans blätterte weiter und neckte Gertrud, er würde sich nie mals von ihr porträtiven lassen, sie sei ja ein gefährlicher Menschenkenner und bringe Mit grausamer Gewissenhaftigkeit alle Schwächen und Verdrehtheiten zur Darstellung; ein Porträt maler müsse doch schmeicheln können. Dann lehnte er sich zurück und horchte mit gesenkten Lidern nach den Läufern und Trillern hin, mit denen die fleißige Hochschülerin nebenan ihre Uebungen wieder aufn-ahm. „Müssen Sie das täglich erdulden? Wenigstens kann Man sich dabei unterhalten, ohne im Nebenzimmer gehört zu werden. Wenn wir auch keine Staatsgeheimnisse zu berathen haben, sondern Dinge, Vie Niemand sonst interessiren." „O, was das betrifft, dafür will ich nicht stehen", lachte Ger trud. „Man interessirt sich hier für Alles — Alles, ohne Aus nahme." „Schreckliches Institut, solch ein Pensionat", brummte Eick stedt und schüttelte sich. „Di«fes Fräulein Eva! Ein richtiges Berliner Pflänzchen. Auf den diel-verschlunqenen Pfaden von der Corridorthür bis zu Ihrer Stubrnthiir spielte sie die Ariadne und drückte Mir verständnißrnnig die Hand. Wie kommen Sie eigen blich hier herein, Gertrud?" Sam Interesse an ihrem künstlerischen Menschen war er schöpft. Er hatte das Seimige qethan, hatte in collegialischer Höflichkeit versucht, sich ein Bild davon zu machen, vielleicht mehr gefunden, als er erwartet — aber nichts, was ihn ernstlich in Anspruch zu nehmen vermochte. Eine Erkonntnifi, Vie sehr geeignet war, den Entmudhi- gungen, di« Grrtrüd heute schon erfahren, einen schärferen Stachel zu geben. Allein — was bedeutete ihr in dieser Stunde i ihre Kunst! — Hans Eickstedt saß neben ihr, beim Umblättern ' der Skizzen berührten sein« Hände die ihren, sein Haar streifte ihre Stirn, sie fühlte den warmen Hauch seines Athems, jeder Zug seines Gesichts, jvder leise Wechsel des Ausdrucks bot sich ihrem Auge, näher, deutlicher, als ihr eigenes Spiegelbild. Schauer nie gefühlten Entzückens überfluchetrn sie, ein wahrer Rausch von Glückseligkeit, und gleichzeitig ein Biangen, das ihr Herz heftig schlugen machte, und ihre Gedanken und Worte ver wirrte. Eickstedt war nicht mehr bei ihr, er war zerstreut, redete ohne hin über gleichyilttige Dinge, wurde immer einsilbiger. Er war nur gekommen, weil er es versproken, er würde gleich aufstrhen und gehen und sich nie wieder hierher verirren. Und voll Angst, als müsse mit diesem Besuch ihr Leben enden, beobachtete Ger trud das Verstreichen der Minuten. Das Gespräch war ganz ins Stocken gerathen. Uetber Eick- stedt's Stirn gingen Schatten, seine Lippen verzogen sich in ner vöser Bitterkeit und preßten sich dann herb auseinander. Ger trud konnte nicht anders, si« mußte ihn fragen, sie mußte ihre Hand aus seinen Arm legen und ihm aus den Augen lesen, was ihn quälte und bedrückte. — Da wandte er sich plötzlich und beantwortete die unaus gesprochen« Frage: „Die Entscheidung, die ich erwartete, ist also gefallen. Gegen mich natürlich. Sie erinnern sich, Fräulein Gertrud?" „O!" rief sie voll Theilnahme, und doch wie von einem Alpdruck befreit. „Ich wußte ja, es ist etwas Widerwärtiges geschahen." „Meso?" erwidert« er. „Sie halben es Mir angemerkt? Kann ich mich denn so wenig behrrrschen? — Es hat mir einen gewaltigen Stoß gegeben, das ist wahr. Ich hatte mit Be stimmtheit auf Erfolg gerechnet. Es war eine Schicksalsfrage für Mich, sine Lelbensswge." Es handelte sich um ein Stück, ein moderne- sociale- Trauer spiel, das Hans geschrieben, der Intendanz der Hoftheatir einge reicht und vor einer Woche etwa zurückgeschickt erhalten hatte, weil es zur Aufführung ungeeignet befunden worden war. „Der übliche Anfang", sagte Hans. „So alltäglich, daß es — kaum lohnt, Wort« darüber zu machen. Die Sache ist nur: kann ich nicht mehr als daS erste beste faselnde Dichtrrliin, das di« Eitelkeit kih«lt, Tragödien zu schreiben, so bin ich kein blinder Rarr gewesen, sondern ün Verbrecher, denn die zwei schmählich verschleüderken Jahre meines Leben- habe ich meiner Mutter gestohlen." Er War aufgesprungen und ging aufgeregt in dem engen Zimmer umher. „Ein Mensch mit gesunden Sinnen und kräftigem Empfin den, der hinouStritt in die- Weltyetri-be, muß der nicht gepackt werden von heiligem Zorn, von glühendem Mitleid, von dieser wunderbaren Erkenntniß des Einssrins aller Meivschgeborenen. Er sicht den alten, ewigen Kampf um Brod und Recht, um Glück und Macht, sicht Götter stürzen und Sklaven ihre Ketten brechen. Millionen Strahlen der Außenwelt sammeln sich wie in einem Brennspiegel in seinem Geiste. Aber vermag er sie nicht gwsammenzufassrn mit souveräner Schöpferkraft zum Flammen blitz, der jündend nach außen fällt, so soll er sich's nicht träumen lassen, ein Dichter zu sein." „Wenn Sie Uber diese Kraft in sick fühlen", sagte Gertrud, vor Mitgefühl bebend, „so darf ein erster Mißerfolg — irgend ein einseitiges Urtheil, käme es auch von berufenster Seite, Sie nicht an sich irre machen." „Wenn!" erwiderte Eickstedt, vor ihr stehen bleibend. „Ich habe mir gesagt, diese Zurückweisung ist ein Ehrendiplom; die hohe Intendanz kann mein Stück gar nicht ausführen, weil ihr ganzes, altersschwaches System damit in die Brüche ginge. Ick suche Wahrheit, Wahrheit ohne Scheu und Schonung; alles Menschliche ist mir heilig, aus den innersten Seelentrieben ent springt Mir der dramatische Nerv der Handlung, ich kenne weder Regeln noch Vorbilder. Jene aber suchen — was sie Schönheit nennen, das heißt, die Phrase, die Theaterpose, den antiken Faltenwurf, nebst Schminke und Schönheitspflästerchen." „Nun also!" „Ja, es hilft nichts, ich muß Erfolg haben, vollen, durch schlagenden Erfolg. Ich muß vor das Publicum treten, mit ihm ringen, es mir unterwerfen, daß es mich hört, sich gefangen gsielbt in mein« GeisteSwelt. — Erzwinge ich das nicht, dann — besser Acten schreiben, als Buchdrvmen." „Aber es giebt doch noch viele andere große Theater —" wandte Gertrud ein. „O, ein paar Dutzend! Hoftheater, Stadttheater, was Sie wollen. Ich kann mich, wenn es mir sonst Vergnügen macht, Jahr uns Täg Mit meinem Stück von Thür zu Thür Herum betteln, oder ehe ich —" „Gäben Die e- mir!" rief Gertrud. .Sitte, bitte, aeb«n Sie mir Ihr Manuskript, bevor Sie einen Enlschluß fassen." „Gut, Sie sollen entscheiden, ob es ins Feuer wandert", er widerte Eickstedt, stand auf, ging zu dem Stuhl, auf dem er feine Sachen niedergelegt, nahm ein in Papier geschlagenes Heft, das darunter lag, auf, und überreichte es Gertrud. „Hier ist daS Stück." Das kam unerwartet. Sie nahm das Heft in beide Hände Wie eine zerbrechliche Kostbarkeit und stammelt« überwältigt: „Mer ich — könnte doch nur sagen, wie mir dabei ums Her ist — ich hab« ja über die ästhetischen Bedingungen eines Dichtwerkes gar kein Urtheil, verstehe nicht- von dramatischer Technik." (Fortsetzung folgt.) <
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