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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 19.03.1900
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1900-03-19
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19000319023
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1900031902
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1900031902
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1900
- Monat1900-03
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142 Tie Morgen-Ausgabe erscheint um '/,? Uhr, di« Abeud-AuSgabe Wochentag- um ö Uhr. Ue-artto» rmd ErpedMo«: 2»ha»«i»,afie 8. Di*Erv^itio» ist Wochentag- uauuterbroche» geöffnet von früh 8 bi» Abend» ? Uhr. Flliile»: Alfred Hahn norm. v. Klemm'» Lartt». Universitätsstraße 8 (Paultnum^ Laut» Lösche, RiGiAgmfli. In, p«rt. und KönigSpkotz A Bez«gS«PreiS ' - b«r Hauptexpedition oder den im Stadt Mtzirk «d den Borortrn errichteten Aue- «bestellen abgeholt: vierteljährlich^l4.L0, mi zweimaliger täglicher Zustellung ins HauS^tü^O. Durch die Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: vierteljährlich 6.—. Direkte tägliche Kreuzbandiendnug in» Ausland: monatlich ./l 7.SO. Abend-Ausgabe. MWAerTaMM Anzeiger. Ämtsökatt -es königlichen Land- nnd Amtsgerichtes Leipzig, des Mathes nnd Valizei-Ämtes -er Lta-t Leipzig. Anzeigen-Preis die 6 gespaltene Petitzeile 20 Psg. Reklamen unter dem Redactionssirich (4ge- spalten) 50^, vor den Familiennachrichtei« (6 gespalten) 40^. Gröbere Schriften laut unserem Preis verzeichn iß. Tabellarischer und Ziffernsay nach höherem Tarif. — -s—o-— t»rtra-veilagen (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderun, 60.—, mit Poftbesördrrung ^l 70.—. t — ^unahmeschluß für Anzri-en: Abend-Ausgab«: Bormittag- 10 Uhr Margen-An-gabe: Rachrnsttag» 4Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je ei« halbe Stunde früher. Anzeige« sind stets an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig Montag den 19. März 1900. 94. Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, 18. März. Die ohne Noth und ohne ernste Besonnenheit von der Regierung begonnene, dann von den Obscurauteoparteien in die Hand genommene und gegen den Willen, aber auch ohne ernstlichen Widerspruch der Regierung dicht vor eia der Mehrheit der Nation widerwärtige« Ende geführte lex-Hetnze- Actiun hat eine parlamentarische Krisi» zuwege gebracht, wir sie da- deutsche Reich während seine» dreißigjährigen Be stehen» noch nicht erleben mußte. Man glaubte eS nach der Freitagssitzung noch nicht aussprechen zu müssen, aber am Sonnabend Mittag wurde es unzweideutig klar: im Reichs tag herrschte die Obstructiv« und beute muß sogar fest gestellt werden, daß die GeschäftSstörung vorläufig siegreich gewesen ist. Die Ursache, die Schuld an dieser beklagenSwerthen Erscheinung liegt formell wie materiell an den Mehrheit»-, den lsx Heinze-Parteien. Als am Donnerstag Dank ausgezeichneter Männerreden, deren zündende Kraft die kunstfeindlichen Herren versehrte und deren Wirkung im Lande nicht zu bezweifeln war, die mora lische Niederlage der lex-Heinze besiegelt war, da erinnerten sich die an Gründen bankerotten Parteien, daß sie etwas besaßen, was schwerer wiegt als die Raison: die Mehrheit. Sie machten, obwohl der Präsident abrieth und ihre nomi nellen Führer da» Unrecht einsahen, rücksichtslosen Gebrauch von der numerischen Uebermacht. Der Schluß der Debatte wurde beantragt, und da das HauS beschlußunfähig war, am Freitag Morgen zu Beginn der Sitzung angenommen. War dieser Schritt bedenklich, so war daS nicht minder ein zweiter desselben TageS, wo die Mehrheit einen Antrag, der aussprach, daß die (inzwischen angenommenen) tzH 184, 184» und 184 b keine Anwendung finden sollten auf Productiouen und Darstellungen, bei welchen ein höhere- Interesse der Kunst oder Wissenschaft obwaltet, für unzulässig erklärte. Ernstgemeint oder nicht, der Antrag «nutzte schon deshalb für zulässig gelten, weil er festlegte, was, ohne Widerspruch zu finden, der bayerische BundeSralhsbevollmächtigte Graf Lerchenfeld Tags vorher erklärt batte, daß nämlich die Be stimmungen der drei sogennautcn Kunstparagraphen die Kunst gar nicht berühren sollten. Der Antrag konnte auch die Verwirrung bei den zur Auslegung berufenen Richtern nicht vermehren. Denn was in der vorauS- sprochenen Debatte, Hüber« und drüben, über die Begriffe der Kunst, de» Schamgefühls und der Sittlichkeit vorgedracht worden, war dermaßen widerspruchsvoll, daß kein Richter der Welt eine Ansicht über den Willen de» Gesetz gebers daraus hätte schöpfen können; gerade die CenlrumS- redner hatten verrathen, daß sich Jeder etwas Anderes als die Anderen dachte. Nach dieser Richtung brachte nun freilich der Abg. Gröber Klarheit über den Willen des CentrumS. Er meinte: Gleiches Recht für Alle, ob künstlerisch oder nicht, die drei Paragraphen gelten. Diese Er klärung machte die neuen Gesetzesbestimmungen nicht schmackhaft und bewirkte — man konnte den Eindruck leicht feststelleu —, daß die nunmehr systematisch einsetzenve Ber- hinderungStaktik der Socialdemokratie und des Freisinn» von gemäßigten Abgeordneten zwar selbstverständlich nicht gebilligt oder gar mitgemacht, aber begreiflich gesunden wurde. Der Erfolg der Obstructioa ist allein den Mehrheit-Parteien zuzuschreiben. Diese Herren wollen dem Laude octroyiren, wa- da- Land — die CentrumSwähler in Niederbayern mögen ästhetisch vielleicht mit Herrn Roereu übereinstimmen — nicht will und wa- zum Theil auch die Regierung nicht will. Sie finden es aber nicht der Mühe werth, da- Bißchen Kraft eiurusetzen, das nöthig ist, ihre thatsächlich vorhandene parlamentarische Mehrheit zur Geltung zu bringen. Die lsx Heinre-Mebrheit macht für sich ein beschlußfähiges HauS. War sie zur Stelle oder war, da die Nationalliberalen an der künstlichen Herbeiführung der Beschlußunfähigkeit sich nicht betheiligten, nur eine starke Mehrheit der Mehrheit zur Stelle, so war am Sonn abend Alle- in ihrem Sinne erledigt. Die Herren voin Centrum und die conservative Partei fehlten aber in Stärke bi- zu 130 Mann. So war e» der Linken ein Leichte-, durch nicht ernstgemeinte und jedeufallS aussichtslose Zusatzanträge lange ermüdende Debatten herbeizuführen und schließlich durch daS Verlangen nach namentlicher Abstimmung die Beschlußunfähigkeit feststellen zu lassen. Auch eine sehr zeitraubende geheime Verhandlung über einen An trag, gegen den schließlich die große Mehrzahl der social demokratischen Antragsteller selbst stimmte, fehlte nicht in der Reihe der Unternehmungen, die die Linke im Vertrauen darauf, daß der Rechten die „Sittlichkeit", „Keuschheit", „Unverdorbenbeit de- Volkes" u. s. w. auch nicht das kleinste Opfer werth sei. Die Linke hat richtig gerechnet, der Präsident hat vor der Obstructioa, wie man ganz zutreffend sagt, „capitulirt", die lex Heinze ist von der Tagesordnung abgesest, heute wird die Etatsberathung wieder ausgenommen. Der Festsetzung der Tagesordnung ging ein unerhörter Skandal voraus, der selbst dem kaltblütigen Präsidenten Grafen Ballestrem eingestandenermaßen die Ruhe raubte. Man verurtheilt die vom Reichstage zum ersten Male betrie bene Obftruction al- einen Angriff auf die Grundlagen der parlamentarischen Einrichtung. Dem schließen wir uns vor behaltlos an: ein Parlament negirt sich, wenn ein Theil desselben systematisch endgiltige Beschlußfassungen verhindert. Noch schlimmer für das Parlament und für das Staats ganze aber ist es, wenn man eine Obstructioa spielend Erfolge erringen läßt, wenn eine :o«u- pacte Mehrheit vor einer Minderheit auS Trägheit die Segel streicht. Wäre die Rechte auf dem Platze geblieben und hätte ihrerseits die kleine geschästsstörende Minderheit ermüdet, statt sich von ihr ermüden zu lassen, so hätte nach weiter zwei, drei Tagen die Linke von ihrer Verschleppungs taktik abstehen müssen. So aber erscheint die Socialdemo kratie als Siegerin in einem Kampfe, der ihr, wenn nicht Anhänger, so doch wohlwollende, um nicht zu sagen dankbare Beurtheiler in den Kreisen höchster Intelligenz, also das zubringt, was sie, wie der Abg. Prinz zu Hohenlohe-SchillinzSfürst sehr treffend bemerkte, mit allen diesen aufregenden Manöver« bezweckt. Der Freisinn, der ähnlich speculirt, wird natürlich leer auS- gehen. Herr Rich ter hat sich sehr bemüht, als Syndicus der Obstructioa das Augenmerk auf sich zu lenken, aber er und seine Partei nehmen sich so winzig neben den eigentlichen Acteuren, Len Socialdemokraten, aus, daß man in Kunst und Literatur um ihr Protectorat sich nicht bewerben wird. Außerdem hat daS Centrum schon die Stirn gerunzelt. Der BundeSrath ließ in diesen zwei Tagen so gut wie nicht- von sich veruebmrn. Ein Commissar machte die Anstrengung, sich gegen den socialdemokratischen Antrag, betr. die Anwendung de- Paragraphen vom Groben Unfug auf die Presse (uud Kunst), zu erklären. Dazu war ein dringendes Bedürfniß nicht vorhanden. Der Antrag war nicht ernst gemeint und konnte in dem Rahmen dieser lex niemals auf eine Mehrheit rechnen. Die Regierung hat also daS Wort wohl nur er greifen lassen, um de«» Abgeordneten Prinz Hohenlohe ihr Bedauern darüber auLzusprechen, daß er denganzen Gesetz entwurf für bedenklich ansieht, also „von dem Urtheil der verbündeten Regierungen entschieden abweickt". Diese einzige Aeußerung, zu der man sich vom BundesrathS- tisch entschloß, rechtfertigt die Erwartung nicht, die Regierungen würden in ihrer Mehrheit daS Gesetz wegen des Theater paragraphen ablehnen, eine Entscheidung, die ihnen, wie nicht zu verkennen, nach den ReichStagsrorgängen der letzten Tage schwerer als unter anderen Umständen fallen müßte. DaS Zurückweichen vor der Socialdemokratie, das mit der An setzung der Etatsberathungen bewirkt wurde, wird die Folge haben, daß im Reichstage vor Ostern wichtige Entscheidungen nicht mehr fallen können. Ein beschlußfähiges Haus kommt darum vor Schluß der Festpause sicher nicht mehr zusammen. DaS Fleischbeschaugesetz muß also liegen bleiben..> Die Meldung der „Nordd. Allg. Ztg.", daß der Kaiser die von landwirthschaftlichen Vereinigungen an ihn gerichteten Telegramme in Sachen dcS Fleischbeschaugesetzes ohne Antwort gelassen habe, ist von der conservative» Presse ruhig hingenommen worden. Die „Deutsche TageSzta." aber kann ihren Grimm nicht verbeißen, und da sie sich scheut, ihn an dem Oberhaupte des Reiches auSzulassen, so läßt sie ihn an dem Reichskanzler aus. Sie schreibt nämlich: „Welche landwirthfchaftliche Vereinigung, außer dem deutschen Laudwirthschaftsrath und der schlesischen Landwirthschastskamnier, sich an Se. Mas. den Kaiser gewandt habe, wissen wir nicht. Wir glauben aber zu wissen, daß man in diesen Kreisen «ine Antwort nicht erwartet hat. Die ojficiöse Note war also durchaus unnSthig. Was sie aber bezweckte, das liegt aus der Hand. Wir sind trotzdem nicht geneigt, sie tragisch zu nehmen, da wir wißen, wer die Veröffentlichung veranlaßt hat. Während so Se. Maj. der Kaiser dadurch, daß er die Telegramme unbeantwortet läßt, sich vollständig in dem constitutionellcu Rahmen hält, hat der Reichskanzler, wie unwidersprochen durch die Zeiiungrn gegangen ist, rS für angezeigt erachtet, während der schwebenden Verhandlungen zu er klären, daß er niemals seine Unterschrift einem Fleisch beschaugesetz, wie es der Reichstag in zweiter Lesung beschlossen hat, geben werde. Dieser Gegenüberstellung brauchen wir keine Kritik beizusügen; sie spricht für sich. Was gesagt werden muß, das wird sicherlich entweder bei der dritten Lesung des Fleisch- beschaugesetzes oder vielleicht schon, was unseres Erachtens zweck mäßiger wäre, bei der dritten Lesung des Etats gejagt werden." Wenn Fürst Hohenlohe ein schneidiger Redner wäre, so fände er bei der ihm hier angekündigten Anzapfung günstige Gelegenheit zu einer gründlichen Abfertigung der Bundes führer, die jo oft und so stürmisch nach einem „starken Manne" gerufen haben, der an die Stelle des Fürsten treten solle. Der jetzt gegen diesen geschleuderte Vorwurf beweist, was jener Ruf zu bedeuten hatte. Nicht einen Mann, der nach allen Seiten seine Stellung zu wahren weiß, verlangen die Rufer, sondern einen Dienstmann der Bundesleirung, der nichts denkt und thut, als waS ihm seine Auftraggeber befehlen, diese Befehle aber mit der ganzen Rücksichtslosigkeit und „Ursprünglichkeit" vollstreckt. die sich in den letzten Sitzungen de» Reichstag- durch die Zwischenrufe „Maul halten!" bekundete. Wieder ist ein ansehnliche- deutsche» Gemeinwesen an die Tscheche» verloren worden. Die Stadt Litlau, eine seit Jahrhunderten blühende deutsche Stadt, kommt in tschechische Verwaltung; der Schulrath ist tschechisch; e» folgt die Schule und in einer Generation sind Stadt und Um gebung slawisch geworder«. Seit 20 Jahren sind, von kleinen Ortgemeinden abgesehen, mehr als 10 Städte Mähren- an die Tschechen verlöre«« worden, und es sind dies nicht unbedeutende Orte, sondern Mittelpunctc gewerblicher« Leben-, der Sitz großer Fabriken. 2m Ganzen handelt es sich um eine der lorene Bevölkerung von mehr als 100 000 Seelen. Weitere Orte sind bedroht, und die begehrlichen Blicke der Slawen richten sich bereit- auf Olmütz uud sogar auf Troppau. Schwerer aber als der Verlust der einzelnen Orte wiegt es, daß die hergestellte deutsche Brücke von Schlesien gegen die österreichischen Alpeuländer zerstört wird und Böhmen durch ein immer einheitlicher werdendes Sprachgebiet mit den östlichen Slawen in Verbindung tritt. Viel Schuld trägt au diesen betrübenden Verhältnissen die Verwaltung, die Agitation vvu Geistlichen uud Beamten, au« Gefährlichsten aber ist eS für die Deutschen, daß sie einen« fanatisirtem Volk gcgeuübcrstehcn, in das die Idee der Vor herrschaft der Slawe«, gepflanzt wurde und da-nun für diese Idee Opfer bringt, wie sie anderwärts unbekannt sind. Vom Fürsten bis zum Bauer wird für nationale Zwecke gesteuert, und Niemand will oder kann sich auSschueßen. So verfügt z. B. der tschechische Schulverein über mehrere Huoderttausende im Jahr, uud jedenfalls über viel mehr als der allgemeine Dcntsche «schulverein. Ein focial-cwokratijchcr Theatercoup de- Herrn Miller and wird, wenn man den französischen Blätter- mclduugeu glauben darf, zum 15. April, dem Eröffuungs- lermine der Pariser IuhiläumoanSsteUung, vorbereitet. Ge nosse Millerand würde an diesen. Tage in seiner amtlichen Eigenschaft als französischer HaudelSmiuister seine Rede zur Eröffnung der IahrhuudertauSstellungineiue begeistert« Feier der socialdemokratischen Umsturzideea au-klingen lassen, und diese Rede würde auf da- Proletariat aller Länder eine ähnliche Wirkung üben, wie s. Z. daS Sturmgeläut der Kirchenglocke von Saint-Germain l'Auxerroi« das Signal zu der Pariser Bluthochzeit gab. In des Kreisen der franzö sischen Socialdemokratie setzt mau aus dieses parteipolitische Pronunciameuto des Genosse«, Milleraud also ausschweifende Hoffnungen. Eigentlich sollte der ConseilSpräfideut Waldeck- Rousseau die Eröffnungsrede halten, da aber Genosse Millerand als Handel-minister der designirte AuSstellungSminifter ist, so will er eö sich nicht nehme» lassen, bei dieser Gelegen heit die Hauptrolle zu spielen. Die Hetzdemagogen de» Um stürze- malen ihrer Zuhörerschaft den Eindruck, den die Millerand'sche Kundgebung auf die Capitalisten und Arbeit geber der ganzen Welt mache» werde, i» den glüheudsten Farben auS: „Es ist möglich und selbst wahrscheinlich", sagen sie, „daß bei der Rede Millerand'S seinen Miuister- Collegen die Haare zu Berge stehen werden. Aber waS Ihut daS! Der Hieb bat dann gesessen und selbst wenn er den Rücktritt Millerand'S nach sich zieht, haben wir den alleinigen Vortheil. Die Aera de» Sociali-muS ist feierlichsi eröffnet, und nachdem Millerand von der amtlichen Tribüne aus alles verkündet, WaS er auf dem Herzen trägt, wird er 3U Hans Eickstedt. Roman in zwei Bänden voo Anna Maul (M. Gerhardt). Nachdruck undmtn. Siebenundzwanzigste» Capitel. Wo nur chn fittven? Ein rauher Mud fegte durch die Straßen und trieb seine Eiskrystalle vor sich hin, Vie scharf wie Nadelspitzen da- Gesicht trafen. Unter Gertrud'- hvst-igen Schritten knisterte die von leichtem Frost erstarrte Oberfläche des Straßenschlammes. Eileiche Fußgänger, Wagenrollen, schrilles Geläute der Pferde bahnwagen, Lärm und Treiben wie immer. MS wäre es ein Tag wie alle Tage. — In seiner alten Wohnung nach «hm zu fragen —? Das lohnte kaum. Sein Verleger wohnte in Leipzig. Aber vielleicht im Schauspielhause — Wo man fraglos Kenntniß seines Aufenthaltes hatte, wußte Gertrud wohl. Aber der Gedanke, das Mattiny'sche Haus zu be treten, war ihr unüberwindlich. An der Leipziger Straße trat Gertrud in «ine Buchhandlung. Im Hintergründe unterhielten sich zwei Herren aus dem Geschäft lebhaft und halblaut mit einem dritten im Mantel und Hut. Es dauerte eine Weile, bis ein blasser, blonder Jüngling nach vorn kam und nach dem Begehr der Dame fragte. Bei dem Namen Eickstedt zuckle eS vergnüglich über sein Gesicht, doch er bot er sich höflich, im Kürschner nachzuschlagen. Der Chef wurde aufmerksam unkd kam näher, die anderen Herren folgten, und der Au-druck ihrer Mienen sagte Gertvud deutlich, daß ihre Er- kundüaung dem Gegenstand ihre» interessanten Gespräche» gelte. Dee Wohnung Doctor Eickstedt'» — leider zur Zttt «richt an zugehen. Er sei verrätst gewesen. Biellttcht würde die Dam« im Bureau de» Schauspielhauses Aulkunft erhalten. „Eickstedt, überall Eickstedt!" sagte der Herr im Mantel, als Gertrüd den Micken wandte. „Ja, wir Haden heute schon fünf Exemplare von seinen neu- ersckfienenen Novellen verkauft. Wer kaust sonst Novellen, frage ich Sie? Außer etwa in der Weihnachtszeit." Der Herr im Mantel locht«. „Bei Damen macht er sein Glück al» gefährlicher Wüstling." „Ich sag'- Ahnen, die Geschichte kommt ihm zu Statten", behauptet« der Ches. „Er könnt« sie sich selbst geschrieben haben. Keine bessere Reklame als 'ne anstößige Liebes geschichte." „Hm, für den Augenblick", meinte der Andere. „Unser Publi cum ist und bleibt phitzrströs." „Aber eS schämt sich dessen." „Ein Franzose dürste ihm ganz andere Dinge bieten. Einem Deutschen können sie den Hals brechen." Mit dem Gefühl, daß spöttische Mänirerbkicke ihr folgten, ver ließ Gertrud den Lochen. ES war ihr gleichgiltlig. Alles auf der Welt war ihr gleichgilttg. Sie sah den geliebten Mann wie einen verurthoilten Verbrecher in der Arena, nackt und bloß, den wüthenden Bestien gegenüber, die nach seinem Blute lechzten, umringt von einer jauchzenden, johlenden Menge, di« das seltene Schauspiel nicht erwarten kann, den edlen Leib zerfleischt und blutend über den Sand schleifen zu sehen. Und sie allein neben ihm — sie allein gegen alle Welt — Vit zu s-inem letzten Athem- zuge — dem feinen und dSm ihren. Die fragte sich nach dem Bureau des Schauspielhauses durch und erhielt dort wirtlich Auskunft, in glaichgilbigem Geschäfts ton. Doctor Eickstedt wohnt« in der Dorothevnstrvß« bei Frau Kanzloiräthin Neumann. Fetzt stand sie an der Thür, an die er seine Katt« geheftet, läutete und fragt« dos Dienstmädchen, daS ihr öffnete, ob er zu sprechen sei. Nein, Herr Doctor wären ausgeaangen. Sir wüßte nicht, wann er nach Hause käme. Ob dre Dame ihr einen Auftrag hinterlaflen wolle? Gertrud schrieb ein paar Worte auf ihre Karte und über gab sie dem Mädchen. Die Thür« schloß sich — Alles war vorbei. Er konnte sie ja aufsuchen — sie konnte ihm schreiben — sie hatte das Gefühl, daß weder da» Eine noch daS Andere ge schehen würde. Sie fing an, di« Treppe hlnodzustttgen. Sollte sie wirklich so ganz unverrichteter Dinge den Rückweg antreten? — Auf dem nächsten Treppenabsatz stand ckn Stuhl. Sie sank «schöpft darauf nieder. Hier wollt« sie Eickstedt erwarten. In dem Winkel, wo sie saß, fing e» bereit» an, dunkel zu werden. Sie rückte noch tiefer in den Schatten. Sie drelhle den Kopf, wenn Jemand an ihr vorüberkam — daß eS nicht der Er- wartete war, hatte sie schon vorher geschen. Viertelstunden vergingen — halbe Stunden — Stunden — ES fiel Gertrud ein, daß Irmgard einst zu Haus gekommen, daß sie sich sein Jimmer hatte aufschfleßen lassen und ihn dort erwartet. Das hatte sie ja auch thun können. Sie hätte sich für Eickstedt'» Schwester ausgeben können — mit dollem Recht. Oder nicht» weiter zu erklären — vielleicht war «in Damenbrsuch hier gar nichts so Erstaunliches. Irmgard hatte sich nicht an das unverschämt« Gesicht der Wirth in gekehrt. War sie denn feiger? Was hatte sie denn zu fürchten? — Nichts. Sie hatte einfach gar nicht an die Möglichkeit ge dacht. Und jetzt tonnte sie eben so gut hier ivatten. Plötzlich ettnner-te sich Gertrud des Briefes von Irmgard. Sie war von Hause fortgegcmgrn, ohne ihn zu bsantwotten. Was schritt» sie doch? Sie wollte Gertrud besuchen, oder sie erwarten — im Kaiserhof. Ob sie heute dort zu finden wäre? Würde sie vielleicht den alten Einfluß auf Hans haben? Sie, die er geliebt? — Aber was könnte sie ändern? Ihn retten? Sein Schicksal wenden? — Konnte sie ihn zu einem Anderen machen, als er «vor? — Dazu war es jetzt zu spät. Wie oin Schatten huschte die Gestalt des Portiers die dunklen Treppen hinauf. Die Gasflammen brannten auf. Gertrud's Hände und Füße waren von Frost erstarrt, si« hatte kein Mittag gegessen. Em Gefühl von Schwindel und Ohnmacht überfiel sie von Zeit zu Zelt. Wahrscheinlich kam Hans gar nicht mehr noch Hanse. Es war halb sechs, um sisben fing das Theater an. Und was wollte sie überhaupt von ihm? Trotzdem blieb sie. Es kamen jetzt verschiedene Personen treppauf, treppab. Aber kein Hans. Endlich merkte Gertrud, daß ihr Verweilen auffitt. Einen Herrn Mit einer Dame in gelbem Theatermantel, der die Treppe herunterkam, hatte sie — vor wie langer Zeit entsann sie sich nicht — bereits hinaufstovgen sehen. „Die lauert ihrem ungetreuen Schatz auf", sagte die Dame mit leichtfertigem Lachen zu ihrem Begleiter. „Sie hält den Revolver lm Gewände — er mag sich in Acht nehmen." „Den Revolver oder die Schneiderrechnung", muthmaßte der Herr, und lachend verschwand Las Pärchen. Gertrud raffte sich auf — sie schwankte wie eine Trunkene. Was hatte sie doch im Sinne gehabt? — Zu Irmgard nach dsm Kaiser Hof. Halb wie im Traume hatte sie sich nach der Mohrenstraße zurechtgefunden und im Kaisrrhof nach Herrn und Frau TlttjenS gefragt. Ja, die Herrschaften wohnten hier. Herr Treffens sei mal auSgegangen, aber die gnädige Frau zu Hause. Tine Karte fand Gertrud noch in dem kleinen Dkizzenbuche vor, VaS in ihrer Tasche zu stecken pflegte, und schickte den Kellner damit zu Frau Tittjens. Dir ließ Fräulein Pilgrim bttten, «in- zutretrn. Mn« schlanke Gestalt in tirfschwarzem Schleppkleide eilte auf Gertrud zu, sobald sie m der Thür erschien, und umarmt« sie stürmisch. „Meine liebe — liebe, alte "Gertrud!" und zwischen Lachen und Weinen küßte die junZe Frau sie wieder und wieder. „Ich freu« mich so sehr! Ich fürchtet«. Du hättest meinen Brief «richt bekommen, öder mich ganz vergessen. Erzähle «mr von Dir — und von Hans — ist er hner?" „Ich «weiß nichts — so gut wie nichts von ihm, Irmgard. Und das Wenige ist nichts Gutes." „Nichts Gutes?" wiederholte'die junge Frau gedehnt. „Komm, sctz' Dich nieder. Mr wollen ins Theater. Du gehst doch auch? Eine knappe halb« Stund« noch", überzeugte sie sich, eine kleine, brillaittenbesehie Uhr zu Rache ziehend. „Fred kann jeden Augenblick kommen. Also — da wir noch unter uns sind —" Sie besann sich einen Augenblick, sprang an die Thür und drehte rasch den Schlüssel im Schloß. „So — um lieber raschungen vorzubeugen", lacht« sie. „Wir sind ja ganz alte Freundinnen und dürfen unsere Geheimnisse habe»." Me sie in dem blassen Licht der Ampel über den dicken Teppich dcS eleganten Zimmers schritt, ward es ganz deutlich, was Gertrud im ersten Augenblick aufgefallen: Die junge Frau sah leidend auS, schmal und durchsichtig bläß. Das goldene Haar war dünn geworden, die jugendliche Fülle und Rundung der Formen geschwunden. Auch die großen, glänzenden Augen waren im Ausdruck verändert. Wie Svnnenblitze aus zartem Gewölk brach der alte kindliche Uebermuth durch den rührend gedämpften Ernst der Grundstimmung. Gertrud fühlte, daß die Seele des jungen Geschöpfes von des Lobens Schmerzen und Erfahrungen bereits tief berührt worden, sie vermochte ihr nicht mehr gram zu sein, ein Zug schwesterlicher, mitleidiger Innigkeit entsprang in di«ser Stunde und brachte sie ihr näher als je zuvor. Irmgard war Vitt zu sehr von anderen Gedanken erfüllt, um ähnliche Beobachtungen über Gertrud'» AeuhereS aazustellen. „Du trägst Trauer?" fragte diese, als Beide neben einander saßen. „Um meinen Bruder", nickte Irmgard. „Im April ist er gestovben." „Du siehst aus, als wärest Du krank gewesen, liebe Irmgard." „Ach, das weißt Du noch nicht. Freilich, sehr krank, viele Wochen. Es fehlte ganz «verrig daran, daß es «Nit mir auch zu Ende ging. Ich glaube, ich erhole mich mein Leben lang nicht davon." „O, Du wirst Dich erholen. Wa» war es?" „Was es war?" wiederholte Irmgard bitter. „WaS so vielen Frauen Leben und Gesundheit kostet. Ein Kind — daS kommen sollte — zum Glück nicht zur Welt kam." „Me, zum Glück?" fragte Gertrud brtroffen.
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