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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 27.03.1900
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1900-03-27
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19000327026
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1900032702
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1900032702
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1900
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Größere Schriften laut unserem Preis- verzeichniß. Tabellarischer und Zisfernjatz nach höhere»! Tarif. Srlra-Veilageu (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbefördernug 60.—, mit Postbesürderuug 70.—. Annahmeschluß für Anzeige«: Abend-Ausgabe: Vormittags 10 Uhr. Morge »-Ausgabe: Nachmittags 4Uhr. Bei den Filialen und Annahmestelle« je ei» halbe Stunde früher. Anzeigen sind stet» an die Expedition zu richten. »o»»»»— Druck und Verlag von E. Polz irr Leipzig 157. Dienstag den 27. März 1900. 94. Jahrgang. Die neuen Zeemannsgesehe. Bier Vorlagen, welche die rechtlichen Verhältnisse der Seeleute auf eine neue Grundlage stellen sollen, sind gestern im Reichstage zur ersten Berathung gelangt: der Entwurf einer neuen Seemannsordnung, eines Gesetzes über die Ver» pflicktung der Kauffahrteischiffe zur Mitnahme heimzuschaffender Seeleute, eines Gesetzes über die Stellenvermittelung für Seeleute und schließlich eine Novelle zu den seerechtlichen Bestimmungen des Handelsgesetzbuches. Die wirtschaftliche Entwickelung, die seit der Gründung deS Reiches sich auf allen Gebieten bemerkbar und so weit gehende RechlSveränvcrungen allerwärts notwendig gemacht, hat auch den Beruf des Seemanns in Mitleidenschaft gezogen. Am 27. Deccmber 1872 ist das Hanptgesetz, die geltende SeemannSordnung, erlassen worden. Die Kopfzahl der Be mannung der deutschen Handelsschiffe belief sich auf 40 239 Köpfe; diese vertheilten sich auf 216 Dampfer und 4311 Segel schiffe, eine Flotte von einem Raumgehalt von 999 185 Negister- tonS. Die Zahl der Segelschiffe hat sich bis zum Jahre 1899 fast auf die Hälfte, auf 2489 vermindert; die Zahl der Dampfschiffe ist fast um das Sechsfache, auf 1223 gestiegen; zugleich ist die Durchschnittsgröße der Schiffe erheblich gewachsen. Im Jahre 1873 gab cs nur 76 Schiffe von mehr als 1000 Registertons Netto-Raumgehalt, jetzt beträgt deren Zahl fast das Zehn fache. Die Zahl der Registcrtons betrug 1899 nahezu doppelt fo viel als 1873 — und die Kopfzahl der Schiffsmannschaft vermehrte sich nur um etwa 3000 auf 43 144. Tie Zunahme der Größe der Schiffe, die Verwendung von Maschinen und zwar nicht nur zur Fortbewegung der Schiffe, sondern auch zur Ausführung zahlreicher Schiffsarbeiten, insbesondere auf Segelschiffen, ballen ermöglicht, mit einer nur wenig ver stärkten Schiffsmannschaft eine doppelt fo tragfähige Handels flotte zu betreiben. Das konnte nur geschehen unter wesentlichen Veränderungen der früheren BetriebSformen; der Schiffsdienst änderte sich wesentlich; das Maschinen- und Bedienungspersonal schwoll an; der Bedarf an eigentlichem seemännischen Personal ver ringerte sich. Mit der Größe der Schiffe und der Ver stärkung der Dampferflotte vermehrten sich zugleich die regel mäßigen Linien. Die sogenannte „wilde Schifffahrt" ging zurück Damit verschoben sich die Vertrags- und Lohn verhältnisse der Seeleute und die früheren socialen und disciplinären Verhältnisse. Die Revision der Rechtsverhält nisse der Seeleute kam in Fluß; zahlreiche seemännische Korporationen wandten dieser Frage ihr Interesse zu; von Reichs wegen wurde mit den auf solche Weise zu Stande gekommenen Unterlagen die „Technische Commission für See schifffahrt" befaßt und von dieser Commission unter Ver mittelung der Bnndes-Seestaaten das seemännische Personal vernommen; nach dem Hamburger Hafenstreik wurde neues Material hinzugcfügt, das die Hamburgische SeuatScommissivn gesammelt hatte. Auf diese Weise sind die dem Reichstage zugegangenen Vorlagen in engster Fühlung mit den Berufs kreisen zu Stande gekommen, wobei erwähnt sei, daß vor mehreren Jahren auch von den Socialdemokraten im Reichs tage ein bezüglicher Gesetzentwurf cingebracht wurde. Die in der neuen SeemannSordnung enthaltenen Reformen entsprechen langjährigen Wünschen der Seeleute. Unter Aufhebung der nur zu häufig zum Nachtheilc des SchiffmaonS ausfallenden freien Vereinbarungen zwischen ihm und dem Schiffer und Rheder, werden die wichtigeren Be stimmungen über das Vertragsverhältniß gesetzlich geregelt. Ferner sind über das Verbältniß der Mannschaft zu den Vorgesetzten neue Grundsätze aufgestellt. Zu den bis herigen Vorschriften, die fast ausschließlich die Musterung für die Reise regelten, ist eine weitgehende Berück sichtigung der Musterung auf Zeit getreten. Die Arbeits zeit im Hafen, der Lohn für die Überstunden, die Ruhezeit im Hafen und auf der Fahrt sind neu geregelt; ferner die Ansprüche in Erkrankungsfällen und bei vorzeitiger Entlassung und bei Rückbeförderung. Eingehend sind die Fälle festgelegt, in denen jeder Theil zur Auflösung des Dienstverhältnisses berechtigt ist. Weitgehende Aenderuugen sind in den Vor schriften über die DiSciplinargewalt vorgesehen und bezüglich der Strafvorschriften. Schließlich sind die SchisfSofsiciere, die bisher zur Schiffsmannschaft gerechnet wurden, heraus gehoben und haben eine ihren Aufgaben und socialen Ver hältnissen entsprechende Sonderstellung erhalten. Zur Natur der Seefahrt und der mit ihr verbundenen Verantwortlichkeit für Menschenleben und Güter gehört, daß an Bord die strengste DiSciplin gesichert bleibt. In Folge dessen mußte die von socialdcmokratischer Seite geforderte Gewährleistung der „Coalitionsfreiheit" abgeleont werden, desgleichen die Forderung sogenannter Sceschöffengerichtc, denen unter Betbeiligung der Schiffsleutc die vorläufige Ent scheidung über Dienstvergehen, die zur Zeit den Seemanns ämtern zusteben, überwiesen werden sollte. Der zweite Gesetzentwurf über die Mitnahme heim- zuschaffendcr Seeleute erweitert das bestehende Gesetz, wonach deutsche Kauffahrteischiffe zur Mitnahme hilfsbedürf tiger Seeleute verpflichtet sind, um die weitere Bestimmung, daß sie auch straffällige Seeleute mit nach Häuft nehmen; eine Verpflichtung, die den Ncichspostdampsern in den Subventionsverträgen bereits auferlegt ist. Die Mitnahmepflicht ist freilich an die Voraussetzung ge bunden, daß an Bord für die Unterbringung straffälliger Schiffsleute ein angemessener Raum vorhanden ist und.Laß den Nhedcreien volle Vergütung gewährt wird. Die Neuregelung der Stellenvermittelung für Schiffsleute in der dritten Novelle entspricht insofern einem dringenden Wunsche der Seeleute, indem darin dem sogenannten Heuerbaasen- wesen in den Nordsechäfcn und der dadurch verursachten Ausnutzung stellensucheudcr cseclcute (schranken gesetzt werden. Bis 15 Procent der MonatSheuer müssen unter Um ständen die SchiffSlcute dem Stellenvermittlcr, dem Heuer baas zahlen, und zwar recht häufig nur, weil sie in ihrer stellenlosen Zeit bei ihm für Kost und Wohnung in Schuld gerathcn sind. Nunmehr soll die Stellenvermittelung im Seemannögewerbe concessionspflichtig gemacht und die Gcbührentaxe von den Behörden festgesetzt werden. Die Abänderung der seerechtlichen Bestimmungen im Handelsgesetzbuch schließlich ist durch die neueScemannS- ordnung verursacht und regelt die Ansprüche des Schiffers gegen den Rheder in Fällen von Krankheit und vorzeitiger Entlassung und die Vertheilung des HilsS- und Bergelohns zwischen Rheder und Schiffer und der übrigen Besatzung. Alles in Allem genommen bringen diese Novellen erheb liche Verbesserungen, die denn auch gestern von den Rednern aller Fraclionen, von der Socialdcmokratie natürlich ab gesehen, als solche anerkannt worden sind. Immerhin ist es fraglich, ob die Novellen noch im Laufe der (Session Gesetzes kraft erlangen. Schon der Beschluß des Plenums, die Vor lagen an eine Commission von 2l Mitgliedern zu verweisen, beweist, daß man eine sehr sorgfältige Prüfung der einzelnen Bestimmungen für nöthig hält und daß mancherlei Ab änderungsvorschläge werden gemacht werden. Aus der That- sache aber, daß dieser Beschluß von 25 Abgeordneten — mehr waren bei der Abstimmung nicht anwesend — gefaßt wurde, ergiebt sich, daß cS nicht leicht sein wird, 21 sachverständige Commissionsmitglieder zusammen zu bringen, die mit Hingabe an die ihnen gestellte Aufgabe gehen. Die gestrige Plenar- berathung hat die Hoffnung, daß dieö gelingen werde, jeden falls nicht gerechtfertigt. Politische Tagesschau. * Leipzig, 27. März. „Sie liegen immer au der „Lage" krank", mit diesen Worten beantwortete vor vier, fünf Jahren ein von der Reise nach Deutschland ins neue Vaterland zurückgekehrter Deutsch-Amerikaner die Frage der begrüßenden StammeS- genossen nach dem Ergehen der Landsleute im Mutterlande. Der Bescheid war nicht übertrieben, die „Lage" ist in der Thal unterm neuen CurS, wo cs nach dem Versprechen seines ersten Kanzlisten, des Herrn v. Caprivi, im Gegensatz zu der Amtszeit Les mittels Decrets unter die un- ruhigen politischen Dilettanten versetzten Fürsten Bis marck langweilig werden sollte, ch r o n i sch. Und zur Zeit wieder einmal acut. Die verfahrene Reichskarre ist zusammen mit der im Canalmoraste stecken gebliebenen preußischen Landestarre wieder das am häufigsten gezeigte Bild in den politischen Blättern. Als die im Mittelpunkte der Krisis steckenden Dinge sind im Reichstag die lox Heinze und das Fleischbeschangesetz bezeichnet worden, und diese beiden Gegenstände wären in der Thal auch dann Krankheits erreger, wenn hinter ihnen nicht die Flottenfrage stände, eine der Angelegenheiten, wie sie unter dem altem Curs zur Belebung, zur Stärkung, zur Klärung im stählenden Kampfe beitrugen, heutzutage aber auch gewohnheitsmäßig so instruirt werden, daß sic die Verwirrung, die Unsicherheit derNationalgesinnten mehren. Der Zustand, der durch die bewußte lex und die Fleisch vorlage geschaffen worden, ist der typische. Man bat in den Parteien, Lenen man die Flottenverstärkung abkaufen wollte, anstatt sie vermöge der den deutschen Vertheidigungs- und Wirthschaitsbedürfnifftn innewohnenden Nothwendigkeiten zur unentgeltlichen Darbietung zu zwingen, Begierden, wenn nicht erweckt, so doch groß werden lassen, die zu stillen, man aus Gründen, zu denen auch wieder die Flottenfache gehört, sich nicht mehr recht getraut, ohne aber den Muth zu einer runden Verweigerung zu finden. Das will man nicht wahr haben und so entstehen, wie immer in solchen Situationen, die von gefälligen Federn in die Welt gesctzlen anmuthigen Erfindungen von vereinzelten Schuldigen, die das immer besonnene, jeden Schritt reiflich überlegende, zielbewußte Regiment ohne dessen Verschulden in die Tinte geritten haben. Der zuletzt entdecke Sünder ist ein ehemaliger — man höre! — Münchener Polizeipräsident, der nicht geruht haben soll, bis der 184 a. in das Zuhältergesetz hinein geflickt wurde. Daß der Mann nicht Ultramontaner, sondern Protestant gewesen, wirb mit starkem Nachdruck als Moment betont, das die Berliner Regierung von jeder Verantwortung für die durch die lex Heinze der Gesammtlage aufgebürdeten politischen Schwierigkeiten entbindet. Das Münchener Kar nickel und andere Sündenböcke imponiren aber weder Denen von rechts, noch Denen von links, und specicll die „Germania" hält sich ausschließlich an die Regierung, indem sie über die bei der letzten Berathung des „Sittlichkeits"-GesetzeS gemachte Obstruction schreibt: „Ein Nachgeben ihr gegenüber wäre ein Aufgebeu der letzten Position. Hat die Obstruction bei ihrem ersten Anhieb solche» Erfolg, dann wird sie ibre Macht bei jeder kommenden Gelegenheit auSnutzen." Die „Germania" vergißt dabei — nicht, aber sie verschweigt, daß die Regierung nur durch Passivität eine Lage sich hat ent wickeln lassen, die auch nichtsocialdemokratischen Elementen eine Obstruction nicht unerlaubt erscheinen ließ, daß aber die Möglichkeit einer zur Capirulation der ReichStagsmehrheit führenden Geschäftsstörung lediglich durch eben diese Mehrheit herbeigesührt worden war. Centrum und Conservative sind eS gewesen, die „auf den ersten Anhieb" zwar nicht nach gegeben haben, aber — in die Osterferien gegangen sind. Sehr viel kommt aber auf diese Richtigstellung nicht an. Die Regierung allerdings wäre, wenn sie die Reichstags beschlüsse ablehnte, nicht in dem Falle, vor einer sogenannten Obstruction, die, weil sie lediglich aus den inneren Verhält nissen des Reichstags herausgewachsen ist, sie, die Regierung, zunächst gar nichts angeht, zurückzuweichen, aber der Eiertanz, den der Herr Staatssekretär Nieberding, sicher nicht ohne Auftrag, um den Wvhnungs- und den Theaterparagraphen in der lox aufführte, stellt die Regierung vor vie Alter native, nach einer von zwei Seiten, von denen auch die Flotte aus Succurs rechnet, eine schwere Ent täuschung zu bereiten. Wir müssen wegen der Gefahren, die — trotz manchem blinden Hövur oder sehr scharfieheuben Loki der Literatur —daS Unglücksgesetz mik sich brächte, wünschen, die Rechte möge die enttäuschte Partei sein. Aber vor den un ausbleiblichen üblen Folgen auch dieser Entscheidung können wir die Augen nicht verschließen. Die Zedlitz'fche Schul- gesetzgeschichte lehrt, wie diese Wirkung sich gestalten wird. Diese Improvisation war ein Unglück an sich, denn sie hat Leu Cartellgedanken, wenn auch hoffentlich nicht gemordet, so doch in Starrkrampf versetzt, und ihr an sich erwünschtes Ende war nicht minder ein Unglück, weil es begründetes Mißtrauen in die Zuverlässigkeit des Regi ments in Gemüther senkte, die für Preußen und daS Reich nun einmal nicht zu entbehren sind; daS Centrum meinen wir also nicht. Jetzt wird die durch den Fall Heinze ge schaffene Lage noch außerordentlich coniplicirt durch die Fleischbeschauverbotsanträge, eine Angelegenheit, der gegen- gegenüber ein großer Bevölkerungsbruchtheil viel empfind licher ist als gegenüber den Interessen des „Schamgefühls", und die die über Gerechte und Ungerechte scheinendeRegierungs- sonne auch bis zu einer Größe hat gedeihen lassen, die das Ausreißen ohne Schmerz und Groll unmöglich macht. Die vom niederösterreichtschen Landtage beschlossene Wahlreform versetzt die politische Welt Wie«» in erregte Stimmung. Man sieht sich einem Pakt gegenüber, den die Ministerien Witte! und Körber mit den Wiener Antiliberalen geschlossen haben, und wenn auch der Letztgenannte das Odium dieses Paktes auf den Statthalter Grafen KielmannSegg abzuwälzeu sucht, der die Unterhandlungen so unglücklich geführt habe, daß man schließlich vor den Antiliberalen capituliren mußte, so wird er dadurch doch nicht der Verantwortung dafür ledig, daß Wien jetzt auf unabsehbare Zeit dem Demagogenthum auSgeliefert erscheint. Fortan ist die Minorität einer schrankenlosen DiSciplinargewalt auf Gnade und Ungnade übergeben. Die Mehrheit kann über ihr miß liebige Mitglieder der Minderheit sogar Verlust des Mandates und die Nichtwählbarkeit für eine gewisse Zeit aussprechen, und wer daS zarte Gewissen der Herren Lueger, Gregorig et czuanti tutti kennt, braucht nickt daran zu zweifeln, daß für die liberalen Mitglieder des Wiener GemeinderatheS eine Aera des ii Drei Theilhaber. Roman von BretHarte. Nachdruck derbotc«. Vorspiel. Hinter den Höhen des Black-Spur-Gebirges ging die Sonne unter. Noch überfluthete ihr rother Schein den zackigen Kamm und drang durch ftde Lücke in den dichten Reihen der Nadelbäume, so daß sich die Stellen, wo di« zerbrochenen Aeste fehlten, scharf abzeichneten. Bald aber schwand die Helle Gluth und flammte nur noch hier und da plötzlich auf, wie Feuerfunken, wenn man Papier verbrennt. Dann kam der Nachtwind über das Gebirge gefegt und fing den alten Kampf an mit den Schatten, die vom Thal heraufstiegen, bis er endlich unterlag und von der Alles be siegenden Finsterniß verschlungen wurde. Nur die Bäume auf dem breiten Abhang des Kieferbergcs rauschten noch und schwangen wie abwehrend ihre Aeste; als aber die Schatten immer näher herauschlichen, bis «ine Hütt« nach der andern und Stollen auf Stollen im Dunkel verschwand, da hüllte sich zuletzt Alles in tiefes Schweigin. Das Himmelsgewölbe allein war noch sichtbar, gleich einem riesigen, stahlgrauen Spiegel, der nur den Wiederschein der Sterne zuriickzuwerfen schien — so matt war ihr Geflimmer. Eine einzige Hüttenthür auf dem Kamm des Kieferberges hatte noch bei Nacht und Wind offen gestanden. Jetzt wurde sic von unsichtbarer Hand langsam zugemacht, und man sah drinnen beim Schein der sinkenden Gluth «in« Gestalt, die das Fru«r auf dem Herde schürte. Zuerst war nur der eine Mann erkennbar, der sich darüber 'beugte, aber sobald die Flammen «mpokzüngelten, tauchten noch zwei andere Gestalten auf, die regungslos am Herde saßen. Als das Schließen der Thür di« Stille unterbrach, veränderten sie ihre Stellung ein wenig. Der, welcher aufgestanden war, um zur Thür zu gehen, nahm seinen Platz im Dunkeln wieder ein; nun saßen sie alle drei abermals stumm da, mit ihren Gedanken beschäftigt, die sich offenbar um einen Gegenstand drehten, der sie gemeinsam anging; keiner mochte den andern stören, oder das Schweigen brechen. Da stieß der Jüngst« der Gefährten auf einmal ein lustiges Lachen aus. Die beiden andern wandten den Kopf und sahen ihn fragend an, ohne ein Wort zu sprechen. „Es kommt mir nur so komisch vor", sagte er, wie zur Ent schuldigung, „wenn ich daran denke, wie wir hier Abend für Abend gesessen haben, als wir noch wie Sklaven um Hungerlöhne arbeiteten und keine Spur von 'ner Aussicht hatten — was haben wir da für närrisches Zeug geschwatzt, und uns ausgelacht, was wir Alles thun wollten, wenn wir 'mal auf Gold stießen. Und nun das Ding geglückt ist, Potzwetter, und wir uns im Golde wälzen können, sitzen wir da, wie betrübte Lohgerber, denen die Felle fortgeschwommen sind! Wißt Ihr noch, einen Abend — Herrgott! 's ist noch gar nicht lange her —, da zanktet Ihr Euch, in welchem vornehmen Hotel Ihr in Frisco*) absteigen wolltet, und ob Ihr direct nach London, Paris und Rom reisen,, oder lieber den Weg über Japan, China, Indien und das Rothe Meer wählen solltet." „Bewahre, gezankt haben wir uns nicht", sagte einer der Männer in sanftem Ton, „wir besprachen es nur miteinander." „Und doch habt Jhr's gethan, Demorest, ich bleibe dabei", rief der junge Mensch voller Muthwillen. „Du hast auch zu Stacy gesagt: statt uns breit hinzustellen und zu fragen: „Was kostet die Welt?" sollten wir lieber erst trocken hinter den Ohren werden, etwas Erfahrung sammeln und uns vor Allem den Schlamm und Schmutz von den Stiftln kratzen, ehe wir versuchen, in feiner Gesellschaft zu verkehren." „Na, ich glaube, das ist auch jetzt noch meine Meinung", ent gegnete der Andere gutmüthig. „Aber", fuhr er sehr ernsthaft fort, „gezankt haben wir uns nicht. Gott behüte!" Es lag etwas in dem Ton, mit dem er die Worte sprach, was eine gleichgestimmte Saite ihres Wesens berühren mochte, und der junge Barker gab dem Gefühl, das sie beseelte, jetzt plötzlich einen ordentlich feierlichen Ausdruck: „Wißt Ihr was, Jungens", ri«f er voll Eifer, „wir sollten uns heute Abend, hier auf der Stelle, geloben, einander allezeit beizustehen — in guten und bösen Tagen — und auf den ersten Ruf zu gegenseitigem Dienst bereit zu sein. Wie wär's, wenn wir eine Art Zeichen, oder Losungswort verabredeten, auf daS wir sofort, von den fernsten Enden der Erde, zur Hilfe hevbeieilen müßten!" „Verlier' Dich nur nicht in den Wolken, Barker", brummte Stacy, ohne vom Feuer aufzubkicken, während Demorest mit nachsichtigem Lächeln zu dem jüngeren Genossen hinüberschaute. „Nein, aber wirklich, Stach", fuhr Barker unbeirrt fort. „Gute Kameraden thaten das früher immer in Noth und Ge fahr. Warum sollten wir es nicht thun, nun das Glück uns lacht?" *) Allgemein übliche Abkürzung für San Francisco. „Es wäre gar nicht so übel, alter Junge", sagte Demorest. „Nur macht solche Losung, wie alle schönen Worte, meistens den Kohl nicht fett. Auch auf das erste beste Wolfsgcheul pflegt das ganze Rudel so rasch herbeizulaufen, wo cs eine Beute zu holen giebt, als wäre es die schönste Losung. Aber halte Du dies Gefühl nur fest und verwahr' cs mit Deinem Goldstaube zusammen unter dem Gürtel." „Barker ist ein gemüthliches Haus, deshalb gefällt er mir", sagte Stacy. „Er ist der Einzige von uns, dessen Zukunft schon feststeht, weil er sie sich im Voraus hat verbrieft und versiegelt geben lassen. Nun das Glück bei ihm einkehrt, braucht er sich blos häuslich niederzulassen und sein Mädchen zu hsirathen. Was würde wohl Kitty Carter, wenn sie erst Frau Barker ist, für ein Gesicht dazu machen, wenn unsereins ihren Mann nach Asien oder Afrika sprengen wollte? An dem Losungswort würde sie wenig Gefallen finden. Wenn er und sie erst ihr neues Compagniegeschäft gründen, wird sie wohl nach den Theilhabern des alten nicht viel fragen." Da irrst Du Dich doch gewaltig", sagte Barker und wurde feuerroth. „Sie ist das beste Mädchen von der Welt und würde gewiß unsere Freundschaft verstehen, denn auf Euch Beide hält sie die größten Stücke. Währessd ich noch unschlüssig war, hat sie eifrig dafür gestimmt, daß Ihr durchaus die Parcelle haben müßtet, der wir unser Glück verdanken. Ohne ihr Zureden wäre sie uns wahrscheinlich entgangen." „Das hat sic blos um Deinetwillen gethan", erwiderte Stacy mit verhaltenem Gähnen. „Nun Du Deinen Antheil in der Tasche hast, wird sie sich unsertwegen nicht außer Athem setzen. Mir ist's übrigens lieber, wenn Du uns daran erinnerst, daß wir ihr unser Glück verdanken, als daß sie eS Dir je ins Gedächt- niß rufen sollte." „Was soll das heißen?" rief Baker erregt. Aber Demorest hatte sich schwerfällig erhoben und sich zwischen sie, mit dem Rücken ans Feuer, gestellt, so daß sein riesiger Schatten auf die Wand fiel. „Das soll heißen", sagte er bedächtig, „daß Du Unsinn schwatzest, und er auch. Doch Dein Gewäsch kommt aus dem Herzen, und seins aus dem Kopf; drum ist mir Deins lieber. Mich macht's aber müde, Euch zuznhören; ich dächte, Ihr ginget zu etwas Anderm über." Demorest zu widersprechen, fiel keinem Menschen jemals ein. Barker konnte sich indessen noch nicht beruhigen. „Mir scheint doch, wir hätten alle Ursache, vergnügt und glücklich zu sein", sagte er. „Es ist doch kein Verbrechen, daß wir di« Goldader entdeckt haben. Im Gegentheil, von allen Arten Gelderwerb halte ich das für den redlichsten und glattesten; Niemand wird ärmer dadurch; unser Glück thut den Andern keinen Schaden. Seit Urzeiten liegt das Gold da für den Entdecker; wir haben es gefunden; kein Mensch hat cs je vor uns berührt. Ob's Euch ebenso geht, Jungens, weiß ich nicht; aber mir ist zu Muthe, als wäre dies Geschenk ganz unmittelbar für uns bestimmt. Denn, mögen wir's nun verdienen oder nicht, wir erhalten es aus erster Hand — von Gott!" Die Heiden Männer warfen ihrem Gefährten einen raschen Blick zu; er wechselte die Farbe und lächelte dann verlegen, als schäme er sich der schwärmerischen Aufwallung, in die er gerathen war. Aber Demorest blieb ganz ernst, und Stacy's Augen leuchteten beim Feuerschein, während er nachdenklich erwiderte: „Daß das Goldgruben eine religiöse Handlung ist, habe ich noch nie gehört; aber wer weiß, Barker, mein Junge, ob Du nicht recht hast. So wollen wir's uns denn wohl ftin lassen!" Doch rührte er sich nicht vom Fleck; ebensowenig wie seine Genossen. Die Flamme schlug höher empor, so daß man das rohe Gebälk und die ganze ureinfachc Ausstattung der be scheidenen Hütte erkennen konnte; die Gestalten ihrer drei Be wohner, die da am Feuer saßen, schien«» dagegen ins Riesenhafte zu wachsen. ' „Wer hat die Thür zugemacht?" fragte Demorest nach einer Paus«. „Ich", erwiderte Barker; „mir kam es kalt vor." „Mach' sie lieber wieder auf, nun das Feuer so hell Lrennt. Wenn einer von den Leuten unten heute Abend noch bei uns vor sprechen will, kann es ihm den Weg zeigen." Stacy sah seinen Gefährten starr an. „Ich dachte, wir hätten sie All« auf morgen zum AbschiedsschmauS nach Boomville geladen, in der Voraussetzung, daß wir den letzten Abend hier in Frieden und Ruhe unter uns bleiben könnten." „Jawohl, aber wenn sich doch Jemand «instelli«, wäre es unfreundlich, ihm die Thür vor der Nase zuzumachen", meinte Demorest. „Mir scheint. Dir ist ungefähr ebenso zu Muthe, wie mir", sagte Stacy; „unser Glück kommt Dir überwältigend vor für uns Drei allein. Ich meinerseits gestehe offen", fuhr er fort und warf einen Blick nach dem Winkel in der Hütte, wo ein gewisser Haufen lag, der mit einem Tuch zngedeckt war, „daß ich mich ordentlich bedrückt fühle von seiner — specifischen Schloere; es zwickt und zwackt mich in allen Gliedern, als sollte ich aufspringen und etwas unternehmen; und doch hält es mich hier fest. Weißt Du, ich glaube eigentlich nicht, daß noch einer von den Jungen heraufkommt — außer wenn ihn die Neugier plagt. Unser
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