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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 12.04.1901
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1901-04-12
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19010412029
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1901041202
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1901041202
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1901
- Monat1901-04
- Tag1901-04-12
- Monat1901-04
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Man nbonnirt ferner mit entsprechendem Postnusschlag bei den Postanstalten in der Schweiz, Italien, Belgien, Holland, Luxem burg, Dänemark, Schweden und Norwegen, Rußland, den Donanstaaten, der Europäischen Türkei, Egypten. Für alle übrigen Staaten ist der Bezug nur unter Kreuzband durch die Expedition dieses Blattes möglich. Die Morgen-Ausgabe erscheint um '/,7 Uhr, die Abend-AnSgabe Wochentags um 5 Uhr. Re-action und Expedition: IohanniSgasse 8. Filialen: Alfred Hahn vorm. O. Klemm'S Sortim. Umversität-straße 3 (Paulinum), Louis Lösche, Katharinenstr. 14, Part, und Königsplatz 7. 185. Abend-Aitsgave. MpMer TagMM Anzeiger. Amtsblatt des Königlichen Land- und Amtsgerichtes Leipzig, des Aathes und Nolizei-Ämtes der Stadt Leipzig. Anzeigen-Preis die ffgespaltene Petitzeile 25 H. Reclamrn unter dem Redactionsstrich (4 gespalten) 75 H, vor den Familiennach- richten ^gespalten) 50 Tabellarischer und Ziffernsatz entsprechend hoher. — Gebühren für Nachweisungen und Offertenannahme LS H ,'excl. Porto). Ertra-Beilagen (gesalzt), nur mit der Morgen Ausgabe, ohne Postbesörderung 00.—, mit Postbesörderung .al 70.—. Annahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Bormittags 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittags 4 Uhr. Bei dru Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Die Expedition ist Wochentags ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis Abends 7 Uhr. Druck und Verlag von L. Polz in Leip-i;. Freitag den 12. April 1901. 95. Jahrgang. Die Wirren in China. Mar- oder Unglücksfall. In Peking hält man, nach dem Telegramm des „Bert. Loc.-Anz.", das in unserem heutigen Morgenblatt mitgetheilt wurde, an dem Glauben fest,, daß Chinesen an dem Tode des Hauptmanns Bartsch schuld sind. Dem gegenüber scheint nach den amtlichen Berichten die Meinung vvrzuherrscben, es liege ein Unglücksfall vor, doch fällt es auf, daß der officiöse Telegraph die Meldung deS „Loc.-Anz." ver breitet hat. Daß die tödtliche Verwundung durch Vie eigene Waffe des Osficiers berbeigeführt sein sollte, ist an sich un wahrscheinlich, da die Untersuchung des Leichnams diesen Umstand zweifellos hätte klarlegen müssen. Gegen die An nahme, daß chinesische Mörder den tödtlichen Schuß abgefeucrt haben, spricht allerdings die Thatsache, daß der Leichnam nicht beraubt wurde. ES ist ja aber auch sonst noch die Möglichkeit vorhanden, daß vielleicht irgend ein Racheact vorliegt. Hauptmann Bartsch war im Jahre 1864 zu Striegau i. Schl, geboren. Nachdem er die Ober-Realschule seiner Vaterstadt absolvirt, trat er als Avantageur in das zu Zabern garnisonirende 99. Infanterie-Regiment ein. Officier 1885 geworden, wurde 1893 er Premier-Leutnant und ging im December 1894, nachdem er fast ein Jahrzehnt den Wern angehört, zur Schutztruppe nach Kamerun. Aus der Colonie December 1896 zurückgekchrt, trat Bartsck im Januar 1897 in das 116. Infanterie-Regiment ein, dessen Chef der Kaiser ist, und daS in Gießen sein Standquartier hat. Jin Jahre 1899 mit dem Kronenorden IV. Classe decorirt, avancirte er im vorigen Jahre zum Hauptmann und erhielt die 6. Compagnie. Bei Mobilmachung des Expeditionscvrps trat Bartsch in dasselbe ein. Er übernahm im 2. Ostasiatischen Infanterie-Regiment die Führung der 8. Compagnie, mit der er am 14. Juli v. Is. nach China sich einschiffte, wo ihn nun so unerwartet der Tod ereilt hat. Der Entschlafene hinterläßt eine Frau, mit der er sich l8S7 in Dresden verheirathet und in glücklichster, wenn auch kinderloser Ebe gelebt hatte. Bartsch war in Gießen ein allgemein beliebter und wegen seiner Tüchtigkeit geschätzter Officier. * Brüssel, 11. April. Die Abendblätter melden, der Prior der Scheuler Missionen habe mitgetheilt, daß die russische Regierung sich weigere, sieben belgischen Missionaren, die vor kurzer Zeit aus der Mongolei ausgewiesen waren und dorthin am 12. d. M. über Moskau zurückkehren sollten, die Benutzung der transsibirischen Bahn zu gestatten. Der Prior schreibt diese Weige rung den in gewissen russischen Städten vorgekommenen Ruhe- störungen zu, sowie der durch Tun ghfus lang iu der Mongolei verursachten Erhebung. * Vokshama, II. April. (Reuter's Bureau.) Der Beschluß des Finauzmintsters Watanabe, die wichtigen staatlichen Unter nehmungen auf dem Gebiete deS Eisenbahn-, Telegraphen- und Trlephonwesens hinauSzuschieben, obwohl die Kosten derselben vom Parlament genehmigt worden sind, erregt große Un zufriedenheit. Tie öffentliche Meinung wünscht, daß Watanabe durch den Grasen Jnonye ersetzt werde. Der Urieg in Südafrika. o k «en -rv rreLse, ' o. , o — o o v FI o Das südafrikanische Kriegstheater dehnt sich immer weiter ans, ohne daß den Engländern deswegen die Unterwerfung des Landes glücken will. Im Gegentheil erleichtern sie durch die Dislocirung ihrer Truppen über immer größere Gebiete dem Feinde die Weiterführung des Kleinkrieges, und eS ist bei der zähen Beharrlichkeit der Boerenführer das Ende des Krieges jetzt noch weniger als nach der Einnahme Pretorias abzusehen. Wie wenig erfolgreich Lord Kitchener in seinen militärischen Maßnahmen ist, hat wieder einmal die große Operation des Generals French im Osten Transvaals gezeigt, der nun glück lich bei Vryheid im äußersten südöstlichen Zipfel der südafrika nischen Republik angekommen ist, während das Gros der Botha ' schcn Truppen sehr geschickt die englischen Linien zu durchbrechen verstanden hat und nun in unverminderter Stärke in seinem Rücken steht. Nur einige kleine Abtheilungen unter Grobelaar, der hierbei die Rolle des Lockvogels spielt, stehen noch östlich von Bryheid, und werden eventuell in das Zululand oder Natal einbrechen. Ganz zwecklos erscheint auch der Vorstoß des Obersten Plumer über Nhlstroom und Piet Potgietersrust nach Pietersburg, wo sich bis vor Kurzem X c> 4 O ' vV i <2 ^— I—WW o » y>. ! os— id/>7?evV> . öt.ocinmof^ 8^A3I- 1.1^0 der Sitz der Transvaalregierung befunden haben soll. Selbst verständlich haben sich die Boeren vor dem numerisch weit über legenen Feinde ohne irgend welche Verluste zurückgezogen und bedrohen nun von den Z o u t p a n s b e r g e n her den weit vorgeschobenen britischen Posten in Pietersburg und außerdem seine rückwärtige Verbindung nach Pretoria. In welcher zum Theil recht kritischen Lage sich die britischen Truppen befinden, erhellt deutlich aus unserer beistehenden, nach den neuesten Nach richten aus Südafrika angefertigten Kriegsübersichtskarte, welche ganz Transvaal und die nördliche Hälfte des Oranje-Freistaates umfaßt. Wie aus derselben ersichtlich , haben die Truppen Botha's und seiner Unterfeldherren Smuts und Beyer die Armee des Generals French von Pretoria abgeschnitten. SUv- lich und nördlich der Delagoabahn stehen kleinere Boeren- commandos, deren Specialität die Herbeiführung der Zugent gleisungen ist, von denen der Draht fast täglich berichtet. Gleicher Beschäftigung liegen auch einzelne Abtheilungen an der Natalbahn mit großem Erfolge ob, besonders in der Nähe von Standerton und Heidelberg, ohne daß die Engländer im Stande wären, diese so überaus wichtige Linie genügend zu schützen. Auch aus dem Oranje-Frei st aate werden fortgesetzt Ueberfälle der Bahnzüge durch die Boeren gemeldet, die hier, in kleinere Streifcorps aufgelöst, den Krieg auf ihre Weise führen. Größere geschloffene Truppenkörper stehen nccy unter DeWetim Nordosten bei Vrede, unter Fourie im Osten in der Nähe des Basutolandes, ferner unter Hertz og und Brandtim Westen der Bahnlinie. In den Magalies bergen steht immer noch Delarey mit mehreren lausend Mann, mir auf eine günstige Gelegenheit wartend, den Eng ländern, wie schon so oft, eine empfindliche Schlappe bei zubringen. Viljoen nimmt bei Roossenkal eine sehr feste Stellung ein, und weitere Abtheilungen stehen weiter nörd lich. Die britischen Truppen sind hauptsächlich in den an dec Bahn gelegenen Orten dislocirt, um für die Sicherung der Zu fuhren zu sorgen, sind aber augenscheinlich viel zu schwach, die ganze Strecke zu sichern. Das Gros steht bei Pretoria und Johannesburg. Starke Streitkräfte sind auch dem Oberst Plumer nachgesendet worden und halten Warmbad, Nylstroom und Piet Potgieters.ust visttzt Der Dortheil, der den Engländern aus ihrer bedeutenden numerischen Ueberlegcnhcit erwächst, wird von Tag zu Tag mehr ausgeglichen durch die immer mehr zunehmenden Krank heiten in allen britischen Lagern und die Kriegsmiidigkeit dec den ungewohnten Strapazen des Kleinkrieges nicht gewachsenen englischen Soldaten, die sich denn auch bei jeder passenden Gc legenheit lieber gefangen nehmen lassen als kämpfen. Die Vermehrung der britischen Truppen durch Nachschub aus der Heimath ist illusorisch, da unausgesetzt invalide Officiere und Mannschaften zurückbefördert werden müssen, allein am 6. April nicht weniger als 27 Officiere und 488 Mann nach England und 57 Officiere und 291 Mann nach Neuseeland. Gleichzeilig kündigte Lord Kitchener die Heimscndung von 18 Compagnien Freiwilliger und 6 Compagnien Genietruppen an, deren ver tragsmäßige Dienstzeit abgelaufen ist. Sollte der sehr mögliche Fall eintreten, daß die in Capstadt schon so viele Opfer fordernde Pest in den britischen Lagern Eingang findet, so dürfte England sein ruchloses Kriegsspiel in Südafrika end- giltig verloren haben. * London» 12. April. (Privattelegramm.) Tie Preß meldungen von dec Wiedereröffnung der FriedenSoer- Handlungen durch Botha werden als gänzlich unbegründet in Regierungskcrisen dementirt. Feuilletsn. 9! Der Oger. Roman von Hermann Birkenfeld. Nachdruck vnSotea. Rudolf zittert. Aschfahl wird sein Gesicht, und der Lehrer tritt unwillkürlich einen Schritt zurück, als er gefragt wird: „Was wollen Sie damit fragen, Herr Wirsch?" „Mein Gott —" ruft Wirsch, wird aber von Helene unter brochen, die, zwischen Vie Erregten tretend, dem Oger mit dem Finger auf den Mund tippt. Nur ein Moment ist es gewesen, eine Viertelsecunde, aber vi« kurze Berührung zuckt wie ein elektrischer Schlag durch seinen Körper. „Herr Wirsch hat gar nichts sagen wollen." „Nichts Gescheidtes wenigstens", ruft Helene mit mühsam bewahrter Ruhe, nickt dann dem Schulmeister zum Abschied zu und verlangt von Rudolf: „Da — in den Schaukelstuhl letzen Sir sich, und berichten Sie mir üb^x Ihren Samariter dienst, oder —", als Wirsch mit einem gehässigen Seitenblick auf Rudolf gegangen ist, vollendet sie: „Oder wollen Sie auch hier den Oger spielen?" Er folgt ihrem Befehl«, und er erzählt, obschon hundert Fragen sich ihm aufdrängen. Doch als er zu Ende, hält er nicht länger an sich. „Er weiß —" Sie nickt. „Er hat in Karnin einen früheren Schulkameraden, «inen Lehrer Schleif. Bei dem hat er sich erkundigt und von ihm Alles er fahren, was ich längst von Ihnen weiß. Nur di« Beleuchtung der Thatsachen war eine andere. Halt!" unterbricht sie sich selbst, da er aufspringrn will. „Ich ahne, was Sie sagen wollen. Aber Sie haben nicht» zu fürchten; ich habe ihm den Mund ver schlossen, und wa» er weiß, bleibt unter un»." Ach ja! Diese Abmachung hat er soeben selbst gehört! Er hält den Kopf in die Hand gestützt. „Au» welchen Gründen nur —?" Jetzt lucht sie. „Habe ich Ihnen nicht gesagt, er sei maßlos neugierig? Daß er ebenso eifersüchtig sein könnt«, ahnte ich nur halb. — WaS sehen Sie mich so verwundert an? Er hält Sie für seinen Rivalen. Daß dabei mehr sein« gekränkt« Eitelkeit in Frage kommt, als das, was er Liebe nennt, daran zweifle ich allerdings nicht. Eine Andere an meiner Stell« hätte ihm vielleicht ein fach die Thür gewiesen, ich fühle aber Kraft genug, ihn im Zaum zu halten, und habe ihm einstweilen gerathen, sich eine resolute Frau zu nehmen, die ihn vielleicht zur Vernunft bringt. Mit be nachbarten Gutsbesitzern haben wir hier ja so viel wie gar keinen Verkehr, und die Interessen der meisten jungen Herren aus jenen Kreisen weichen von den meinen so erheblich ab, daß ich Leute, wie unseren Jodocus, schwer entbehren kann. Vielleicht —" hier läßt sie die Stimme sinken und schließt nachdenklich: „Vielleicht habe ich ihn auch überschätzt." Rudolf Lammert springt auf. „Nicht vielleicht — gewiß, Fräulein Helene! Er mißbraucht Ihre Güte, sucht Unfrieden zu stiften, er —" Hochroth im Gesicht, mit geschwollener Stirnader, steht er vor ihr. Als sie ihn ab« mit beruhigendem Lächeln eine Weile ansi'bt, senkt er den Blick. „Wenn ich Sie nun nicht kennt«, Rudolf, so genau, wie nur ein Mensch d«n anderen in ein paar Wochen kennen lernen kann, und wenn ich nicht solch' unerschütterliches Vertrauen in Ihre Wahrhaftigkeit setzte, so könnte mir vor Ihnen bang« werden", spricht sie leise. Sie schlägt »inen ganz neuen Ton an. Nie zuvor hat si« ihn bei seinem Vur.amrn angeredet. Wie Schwester Gabriele! d-nkt er. Nur, daß diese ein Kind und — eben sein« leiblich« Schwester ist, während Helene — Er setzt sich wieder hin, ihr gegenüber, und starrt sie an. Zu viel hat heut« neben der ewig quälenden Unruhe um sein und Anderer Geschick auf ihn eingewirkt — er fühlt's wieder in sich emporsteigen wie am Sterbebett« der Taglöhnrrsfrau, nur daß er e» jetzt nicht zurückzuhalten vermag. Mit einer raschen Bewegung schlägt er die Hände vor daS Gesicht und bricht in Schluchzen aus. Der erste Thränenstrom, seit er von der Heimath fern! Da für ist'S wie «in Krampf. Helene ist auf^estanden und an eine» der großen Fenster ge treten. Auch in ihren Augen schimmert es feucht, und sie hält den Kopf gesenkt, wie unterm Sommerregen die Blüthen des RiesenmohnS draußen im BoSkett. Als er sich beruhigt hat, tritt sie langsam auf ihn zu und reicht ihm die Hand. „Wir sind uns heute in einer Viertelstunde näher getreten, als sonst in acht Tagen — nicht durch Worte, noch weniger durch Handlungen -" Sie stockt. „Ich habe Ihnen erzählt, daß ich seit zehn Jahren fast gänz lich auf mich allein angewiesen war. Zeit genug, es anders zu wünschen! O, wie oft ich mir einen Bruoer gewünscht habe!" Sie muß erst einmal tief Athem holen, ehe sie fortfährt: „Wir Bruder und Schwester, Rudolf, so sollten wir zu einander stehen. Ja, wollen Sie?" Er hat nicht gewagt, den Blick zu ihr aufzuschlagen. Nun möchte er vor ihr in die Kniee sinken. Er schüttelt aber nur den Kopf. „Es ist zuviel. Der Vogelfreie —" Er kann nicht weiter; ihm fällt ein, wie «r neulich dasselbe Wort zu der kleinen Erna Hansen gesprochen hat — Sie 'hält noch immer seine Hand. „Vogelfrei? Sehr hübsch! So habe ich Sie hiermit ein gefangen — als guten Kameraden." Da ist sie wieder in ihren alten, scherzend kecken Ton gefallen, nun hat er den Muth, das Haupt emporzuheben. „Treu für das Leben!" sagt er. „Ist die Treue so fest wie Ihr Händedruck, so taugt sie", ruft sie aus und bringt ihn dadurch selbst ins Lachen. Dann aber stottert er verlegen: „Ich muß heim." Sie hält ihn nicht. Draußen tobt es auf ihn ein: von außen der Regen, von innen der Kampf seiner Empfindungen. Er fühlt seine Brust zum Zerspringen voll, und doch ist ihm dabei so leicht ums Herz! „Wie Bruder und Schwester", hat sie gesagt. Wär's denn möglich? Und nur — nur Bruder und Schwester? Welche Dummejungengedanken ihn packen! Mit langen Schritten geht er vorwärts; kein Wunder, daß ihm warm wird. Schließlich nimmt er den Hut in die Hand — es ist noH der kleine weiche Filz mit dem schmalen Rande, den Gabriele ihm neulich auS seinem Zimmer geholt hat. Wie die Tropfen rieseln!, Und wie das kühlt! Al» er auf dem Buchberg ankommt, klebt ihm das Haar in nassen Strähnen am Kopfe. Er geht auf sein Zimmer, sich noth- dürftig zu trocknen. Da fällt sein Blick auf eine Kiste mit seiner Adresse. Auf dem Deckel liegt ein Brief: Heini Fliigge'S schwere, steif« Schrift. Er steckt ihn ein, zieht sein Taschenmesser und öffnet zuerst die Kiste. Sie enthält Kleidungsstücke, in der Tasche eines Rockes eine Geldrolle und ein ziemlich umfangreiches Couvert, das er mit zitternden Fingern aufreißt. Das Erste, was herauSfällt, ist etwa» Documentartiges. Sein Abgangsz«ugnih von der Lateinschul« mit der Bemerkung: „Wegen wied«rholt«r Nicht achtung der Schulordnung, Gewaltthätigkeir uns unerlaubter Entfernung vom Schulorte mußte der Schüler mit dem zweiten Grave der Verweisung bestraft werden." Das hat er ja längst gewußt. So wirft er das Zeugniß bei Seite uns greift nach einem änderen Blatt. „Du hast mich nicht gefragt, ob Du den Weg einschlagen solltest, den Du gewählt hast", schreibt seine Mutter, „somit fühle ich gegen Dich auch keine Verpflichtung mehr als die, welche das Gesetz mir auferlegt. Einstweilen wünsche ich nicht einmal, Dich wieverzusehen; denn meine Hoffnung, Du möchtest ein Anderer werden, ist nur gering. Sollte sie sich dennoch erfüllen, so werve ich selbst Dich rufen. Die unverdiente Nachsicht des Herrn Fett Henne, der, um einen Scandal zu vermeiden, von einer gericht lichen Verfolgung Deiner absehen will, wird Dich nicht weniger in Erstaunen setzen als mich selbst; um -so inniger hast Du diesem Manne zu danken, als derselbe aus Rücksicht auf das An denken an Deinen Vater die Hand bietet, Dich zu einem brauch baren Menschen zu machen. Er hat bereits an die ihm be freundete Firma Kolbe und Sohn in Bremen geschrieben, die nach wahrheitsgetreuer Charakteristik Deiner Person bereit ist, einen Versuch mit Dir zu wagen. Du wirst also unverzüglich an diese Firma schreiben und, sobald dieselbe es wünscht, in Bremen rintreten. Das beifolgende Geld gehört Dir von Deines Baters Seite. Deine Mutter." Kein herzliches Wort der Ljzbe. Nicht einmal «ine Ueber- schrift! Ein anderer Brief ist von Gabriele. Längst hätte sie geschrieben, wenn nicht Mutter streng ver langt hätte zu 'warten, bis man ihm Bestimmtes mittheilen könnte. Nun sei Ulrich außer aller Gefahr; dennoch werde die Großmuth seiner Baters gewiß nicht zu Unrecht von allen Leuten gepriesen. „Wie ich mich geängstigt hab«, irgend Jemand möchte Deinen Aufenthaltsort erfahren!" heißt es dann weiter, und an einer anderen Stelle: „Ich kann mir ja Vorsteven, wie schwer «? Dir wurde, Deinen Groll zu bezwingen; denn Du bist einmal so, und nicht wie sie anderen Menschen. Aber ich weiß auch, Du nimmst Mutters Vorschlag an und gehst nach Bremen und wirst für alle Leute das, wozu Du allen Stoff in Dir trägst: rin tllch tiger, herzensguter Mensch. — Thu's, Rudi, thu's! Mir ist das Herz so tchwer und Mutter ist so herb und einsilbig geworden Johannes schrieb vor ein paar Tagen über Dich; es war gar nicht schön. Ich gebe Dir in Gedanken einen Kuß und bete: Gott schütze Dich! Gabriele." Das der Schluß de» Briefes. Doch nein — da steht noch das unvermeidliche Postfcriptum. „Erna war «ben hier. Du möchtest Dir de» Gelbe» wegen doch keine Sergen machen."
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