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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 17.04.1900
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1900-04-17
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19000417011
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1900041701
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1900041701
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- LDP: Zeitungen
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1900
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Jeder wird wohl das Zutreffend: dieser Ansichten über ein« wissenschaftlich werthvolle Biographie des Reformators anerkennen, und deshalb auch an die eines jeden seiner großen Zeitgenoffen dieselben Anforderungen stellen. Die Bedeutung unseres ehemaligen Bürgermeisters wird also eben falls nur verständlich gemacht weiden können, indem man sich zunächst die Zustände und Probleme seiner Zeit vergegenwärtigt. — Geboren am 31. Januar 1497 zu Langensalza und gestorben am 6. April 1554 zu Leipzig, ist er so recht «in Zeitgenosse Luther'Z, und die Zustände und Probleme jener Zeit vergegen wärtigen, hieße mit Recht, Allbekanntes wiederholen, wollte man darstellen, was der große Wittenberger von seinem wesentlich reli giösen Standpunkt aus sah. Der Reiz der Neuheit ist aber sofort verbürgt für eine Darstellung der damaligen Zustände und Probleme, wenn st« erfolgt vom Standpunkt« unseres Ludwig Fachs aus, aus dem Gesichtskreise eines Juristen. Als was Fachs auch die Zustände und Probleme seines Zeit alters wahrnahm, ob als Kind im Hause der Eltern zu Langen salza oder als Student der Rechte an der Universität Leipzig, die ihn als 15jährigen inscribirte und in Simon Pistoris den Mann feines Herzens finden ließ, ob als vr- jurio und Rechtsanwalt, als welcher er schon seit 1520 ein« zahlreiche Kundschaft hatte, oder als Mitglied der Stadtverwaltung zu Leipzig, di« ihn 1534 zum ersten Male und seitdem mindestens alle drei Jahre hinter einander zum Bürgermeister machte, ob als Oberhaupt seiner Familie, die außer der am 22. November 1559 gestorbenen Gattin Barbara aus mehreren Söhnen und einer Tochter bestand, oder als Diplomat, mochte er in landesherrlichem Auftrage zu Dres den, Mügeln, Grimma, Speier ode. Augsburg weilen: in zedem Alter seines Lebens, auf jeder Stufe seiner aufsteigenden Lauf bahn lernte er die Zustände und Probleme seiner Zeit bester kennen als Hunderte seiner Landsleute. Zunächst die religiösen Verhältnisse jener Zeit! Eine Spaltung trat ein in religiöser Beziehung zwischen Fürst und Volk: Das Volk, sowohl das vornehme, der Adel und die Kaufmannschaft, wie auch das niedere, der Handwerkerstand und das Händlerthum, trat zumeist rasch und entschied» zur Lehre Luther's über; aber die Obrigkeit, also Landesherr und Beamtenthum, nur zögernd aus dem Lager der Altgläubigen. Sollte dadurch nicht schon vorhandener Zwist neue Förderung und neu« Nahrung finden, um endlich zum Schaden Aller zu gereichen? Fragen, die zum Theil schon einmal vor Jahrhunderten in den Zeiten des Jnvestiturstreitrs brennend gewesen waren, forderten jetzt wieder, wenn auch in ganz anderem Zusammenhänge als früher, Beantwortung. Die maßgebende Stimme bei der Wahl eines Bischofs verlangten jetzt evangelische und katholische Fürsten nachdrücklicher, als sonst, und umgekehrt hielten nachlutherische Inhaber katholischer Sitze nicht minder zäh fest an ihren lehnsherrlichen Rechten auch über Städte und Dörfer mit völlig evangelischer Bevölkerung. Wem sollte man in diesen entgegengesetzten Bemühungen Beifall spenden? Wer hatte wohl Aussicht, aus diesen Wirrnissen als Sieger hervor zugehen? Ferner hatte die literarische Fehde zwischen Luther und Herzog Georg dem fürstlichen Ansehen nicht wenig Abbruch gethan, die byzantinische Gefügigkeit der Rathsverwaltung zu Leipzig gegenüber den herzoglichen Wünschen einen tiefen R:ß geschaffen zwischen Ortsobrigkeit und Einwohnerschaft, das hyperconservative Festhalten unserer Universität an dem über lebten Alten eine große Leere der Vorlesungen herbeigeführt: sicherlich eine Reihe von Zuständen bedenklichster Art, Probleme, welche dringend eine Lösung heischten! Hierzu gesellte sich weiter eine täglich zunehmende Charakterlosigkeit des Rechtes! Was auf ernestinischem Gebiete nämlich mit Amtseutsetzung gestraft wurde, das fiel im Albertinischen überhaupt nicht unter die Strafbefug- niß der weltlichen Gerechtigkeit, und gar nicht so selten war in dieser proceßreichen Zeit der Landesherr Partei und ausschlag gebende Instanz zugleich. Wohin sollte es endlich führen, daß der Adel meinte, den Bauernstand mehr und mehr entrechten zu müssen, während an den fürstlichen Höfen für Bauern und Bettler das größte Wohlwollen zu finden war. Höchste Unklarheit herrschte auch über die Schranken der einzelnen Rechtsorgane. Wieweit der Machtbereich des Bauerngerichts sich erstreckte, wie weit das Recht eines Richters in einer fremden Gerichtsbarkeit, wie weit die Wirksamkeit der geistlichen und wie weit die der weltlichen Gerichtsbarkeit, die des adeligen Schloßherrn auf hoher Burg, und die des Schöppengerichts zu Leipzig — über Alles gab es keine Gewißheit, über Alles sollte erst die Zukunft die Ent scheidung treffen. Außer all diesen Problemen religiösen oder recht lichen Charakters, harrten auch noch solche ständischer und civili- satorischer Art ihrer Lösung: bekannt ist die 30jährige Befehdung der Albertiner durch die nach Böhmen geflüchteten Kauffunger und die Herzog Georgs durch den Schloßherrn Wilhelm von Haugwitz auf Taucha. Wo heutzutage der Kern der socialisti- schen Bewegung zu suchen, das ist allbekannt; daß er zur Zeit Luther's auch im ganz entgegengesetzten Lager zu finden ge wesen, das dürfte nicht ganz uninteressant sein. Die Civilisation war noch nicht so allgemein verbreitet, wie heute, denn die mensch lichen Affecte waren noch nicht Generationen hmdunch in heilsam: Zucht genommen worden, der Enkel stand au innerlichem Gleich maß noch nicht viel über dem Ahnen, die Leid nschafien brachen gar häufig bei den geringfügigsten Anlässen in entehrendster, ja geradezu thierischer Weise hervor. Was war zu thun, jene ständischen Probleme zu lösen? Was, um die Erziehung zu einer überall heilsamen, beruhigenden Macht zu gestalten? Wohl trat man dem Extrem entgegen mit dem Extrem: war man auch von der Verbannung mehr und mehr abgekommen, so stand doch noch die Ausweisung aus einem Gerichtsbezirke im vollsten Schwange, Folterungen und Verstümmelungen waren häufig, öffentliche Auspeitschungen durchaus nichts Seltenes. Aber sollte wirklich die Bestrafung auf diesem niedrigen Stande verharren? Sollte das wirksamste und darum auch unerläßlichste Heilmittel sittlicher Schäden, das Vorbild, nicht auch seine erziehende Macht entfalten? Wie wird es möglich sein, Fürsten und Ade! auf höhere Stufen inneren Werthes zu heben? Wie, die Geist lichkeit und die Männer der Schule sittlich zu heben? Wie über haupt, allem Jmponirenden inneren Adel zu geben? Auf die Lösung dieser Mißstände drängt« die Zeit unseres Fachs, aus dem Sturmgebraus seiner Tage sehnte man sich nach einer ruhi gen Weiterfahrt durch das Meer des Lebens. Eine Gleichgiltig keit gegen die Kirche, welche unsere Begriffe übersteigt, ein Sinnenleben, das keine Scham kannte, ungezügelter Eigennutz und große Verschwendung, die Laster der Spielwuth und Putz sucht — sie Alle mußten gemäßigt und in ihr Gegentheil ver wandelt werden. Anfangsweise sei noch auf folgende eigentüm lichen Zustände aufmerksam gemacht, die gleichfalls dringend die Stellungnahme jedes Gebildeten verlangten. Durch die Re formation waren den Rittergütern die Töchter wiedergegeben worden, die man «inst als Nonnen in die Klöster ausgestattet hatte, und sie machten aufs Neue Erbansprüche geltend. Die Professoren unserer Universität lasen nur in wenig Fällen, der Bürgermeister Leipzigs waltete dieses Amtes immer nur ein Jahr und trat es nach Ablauf desselben an einen seiner beiden Mitconsuln ab, so daß er nach drei Jahren erst wieder functio- nirte. Zu besonders feierlichen Amtshandlungen wurde der große Saal unseres Rathhauses mit Gras bestreut u. s. w. Wi e- fern begriff Or. Fachs diese Verhältnisse? Welche Beachtung schenkte er ihnen? Was hielt er von den selben? Als geborener Katholik, als Student der strengaltkirchlichen Universität Leipzig, als Mitglied des Lehrkörpers dieser Hoch schule, als Werkzeug Herzog Gsorg's des Bärtigen konnte er eigentlich gar nicht anders, als der Reformation Jahrzehnte lang feindlich gegenübcrstehen, und noch inmitten der dreißiger Jahre schreiben, daß er in den Osterfeiertagen „nach der alten Ge wohnheit" zum lieben Herrgott gegangen, d. h. das Sakrament des Altars unter einerlei Gestalt gefeiert. Menschlich war es darum von ihm nur, wenn er als Glied der aufgezählten Kreise auch jene Schritte mitthat, die nicht an die Weisheit des Gamaliel auf dem damaligen kursächsischen Throne erinnern, sondern an das Drohen und Schnauben des Saulus zu Dresden: wie gefügig sich auch die Universität und der Rath zu Leipzig den fanatischen Befehlen Herzog Georg's gegen evangelische Regungen in Leipzig und seinem ganzen Lande zeigten, unser Fachs hieß zunächst unbedenk lich Alles gut: das Ausschicken von Spähern, die Verhöre der Evangelischen, die Verbote, welche man gegen sie erließ, die Be drohungen derselben, ja sogar die Verweisung aus der lieb gewonnenen Heimath. Nirgends ist bis heute auch nur Spur von Opposition unseres Helden gegen diese Maßnahmen entdeckt worden, nicht ein einziges Mal, daß er die beabsichtigten Schritte betrachtet hätte vom Gebote der Nächsten- oder Feindesliebe aus: in der Zeit der allgemeinen Rückkehr zum Urchristenthum blieb er das Kind seiner eigenen Vergangenheit und erblickte als äußerlich Conservativer in den wahrhaft conservativen Schritten Luther's weniger eine Reformation, als eine Revolution. Aber auch ihm sollte noch ein Verständniß für die große, religiöse Bewegung seiner Zeit werden! Daß sich schließlich mehr als die halbe Stadt Leipzig zu Luthern bekennt und der Aus weisungsbefehl auch die kräftigsten Steuerzahler trifft, das macht unseren Fachs schließlich doch stutzig, ob man mit der Be kämpfung der Reformation nicht auch wichtigen Staatsinteressen schade; und wir finden gleichfalls nirgends, daß er der schließlichen Fürbitte des Rathes für solche Leute entgezengetreten wäre. Es ist also zunächst nicht religiöse Vertiefung, die ihn milder werden läßt gegen Andersgläubige, sondern der handgreifliche Nutzen, nicht ein Idealismus, der in einem That-Christenthum sein Lebensziel findet, sondern der nüchternste Realismus. Dieser schwache Anfang einer Annäherung an Luther sollte recht bald auf das Erfreulichste erstarken! In einem anderen Bitt schreiben des Leipziger Rathes an Herzog Georg wird nämlich auch der makellose Ruf der Evangelischen hervorgehoben, die sich nicht einmal im Bauernaufruhre etwas hätten zu Schulden kommen lassen. Also auch Fachs erkannt damit an, daß die Lutheraner recht wohl ehrbare Leute sein könnten. Noch tieferes Verständniß für die Stellung der Reformation zum Urchristen thum sollte ihm werden durch die zahlreichen Processe seiner adligen Kunden mit Herzog Georg. Als der katholische Landes herr schließlich seinen evangelischen Unterthanen strafend gegen übertrat, da mäßigte nicht nur Fachs die Empfindlichkeit der selben, sondern bekanntlich auch Luther; Beide hielten eben da» Ansehen der Obrigkeit gleich hoch, Einer wollte dasselbe so wenig angetastet wissen, wie der Andere. Mußte damals unser Bürgermeister Fachs nicht fühlen, daß er am Ende dem Christenthum Luther's gar nicht so fern war? Mußte ec nicht unter seinem äußeren katho lischen Menschen lutherischen Geist und Sinn wahrnehmen? Nicht weniger interessant, wie Fachs'ens allmähliches Hin einwachsen in das Lutherthum, ist auch sein Begriff von den übrigen Zuständen seiner Zeit, sein« Meinung über dir sonstigen Probleme derselben. Soviel ihm in seiner juristischen Praxis auch Unthaten entgegentreten, ob die rohen Ausbrüche von Jäh zorn, Fleischeslust, Habsucht u. s. w., er würdigt sie immer als Aeußerungen des Thierischen im Menschen, und räumt weder transcen'denten Ursprüngen, noch der Macht der Verführung irgend welchen Anlaß ein. Ein wie feiner Menschenkenner er ist, beweist ferner seine Kenntniß der verschiedenen geistigen Entwickelungs stufen des Menschen: mit dem siebenten Lebensjahre legt er — nach Fachs — die erste Stufe zurück, in diesem Jahre beginnt das selbstbewußte Handeln und Leben, keineswegs aber etwa auch schon die Strafmöglichkeit in gerichtlichem Sinne. Auch eine andere tiefe Beobachtung hatte Fachs schon gemacht, nämlich die der verschiedenen Länge psychischer Stadien bei verschiedenen Menschen, und auf Grund dieser Erkenntniß werthet er mit un erbittlicher Konsequenz, indem er z. B. den trotzigen Mann nicht höher stellt, als das trotzige Kind. Als Mächte von gewaltigem Einfluß erkennt er weiter an allerlei Schicksalsschläge, z. B. Todesfälle; von ihnen weiß er, daß sie auch den glaubenseifrigen Landesherrn nicht verschonen und ihn nachgiebig machen. Weiter ist ihm Kenntniß geworden von der umgestaltcnden Gewalt der Zeit; wie viel Erbitterung gegen einander auch vorhanden sein mochte, er erfuhr, daß oft schon die nächsten Tage milderen Stimmungen Platz machen. Was ihm weiter die Zustände und Probleme seiner Zeit verständlich machte, das war sein uner schütterliches Festhalten an dem Walten einer Gerechtigkeit, wie es sich u. A. ausspricht in den Aeußerungen: „Der Meister wird seinen Gesellen lohnen müssen", und: „Doch sind noch nicht aller Tage Abend!" Aufschluß gab ihm ferner über große politische Begebenheiten seiner Zeit ein starker Gottesglaube, denn in den Siegen des Kaisers z. B. steht er Werk« Gottes. — Zusammen fassend muß also gesagt werden, daß Fachs den hervorragendsten Zügen seiner Zeit zunächst als Alltagsmensch gegenübersteht, aber geschoben und getragen von den Fortschritten der Reformation schließlich auch ein gewisses Verständniß für ste findet; größer er scheint er den sonstigen weltlichen Erscheinungen und Vorkomm nissen gegenüber, aber völlig versöhnt uns mit ihm seine im Grunde genommene doch recht tiefe Religiosität. I n wiefern rang Fachs mit diesen Zustän- denundProülemen? In Zeiten gewaltiger Bewegungen in der menschlichen Gesellschaft wird ein Jeder mehr over weniger in Mitleidenschaft gezogen: die Ritter vom Geiste fühlen sich aus sich selbst heraus verpflichtet, öffentlich Stellung zu nehmen; von den Inhabern hoher Aemter und den Trägern berühmter Namen Feirilletsn. Ernstchen's Zahn. Don BerthaFram Holtz. Nachdruck vnHoten. Unser Ernstchen war glücklich sieben Jahre alt geworden, das erste Schuljahr lag hinter ihm. Mit den ersten Censuren hatte der Junge nicht gerade gut abgeschnitten. Das Schreiben gelang ihm nicht so recht, weil er ewig an den Fingern knabberte, das Rechnen ging auch ziemlich knapp, und das Lesen würde sich nur dann gut gemacht haben, wenn das Alphabet ein Dutzend Buch staben weniger gehabt hätte. Aber das Turnen: Sapperlot, ia diesem Fach mußte Ernstchen doch geradezu Heldenthaten ver richten. Im ersten Halbjahr: „gut", im zweiten: „recht gut" Ec mußte Courage haben, unser Junge, der bei den halsbreche rischen Turnübungen muthvoll seine zarten Glieder in di« Schanze schlug. Da mußt« ich immer an einen modernen Mucius Scae- vola denken „Es mag richtig sein", erklärte ich m«in«m Mann, „d«r Junge ist in den Schreibkünsten nicht so patent, wie ich zuerst geglaubt hatte, denn was Muth anlangt, Gelenkigkeit der Glieder, Un erschrockenheit — da marschirt er an der Spitze von Jung-Deutsch land. Der fürchtet sich ja selbst vor dem . . ." „Erzähle mir doch kein« Märchen", unterbrach mich mein Mann. „Ernst fürchtet sich vor jeder Maus, und wenn Deinem modern«» MuciuS auch nur «in nicht angezündetes Streichholz unter die Nase gehalten wird, rückt er schleunigst aus." Ich erschöpfte wich in Betheuerungen darüber, daß Ernstchen ein muthige» Kind sei, und führt« für meine Behauptung zahl reiche Thatsachen an. „Siehst Du", triumphirt« ich, „so ist'» auch jetzt wieder. Ernstchen kriegt neue Zähn« — die WeiSheitSzähne werden da wohl auch drunter s«in. Zwei von den Milchzähnen wackeln schon so sehr, daß man «» ordentlich klappern hört. Und all' diese Schmerzen erträgt da» arme Kind mit dem Gleichmuth eines Stoiker». „Nun", meinte m«in Mann mit einem noch diel unerlchütt-r- kicheren Gleichmuth, „wenn einer von den Zähnen so locker ist, daß er hin und her wackelt, dann werde ich ihn heraulziehen. Schick« mir doch den Jungen mal herein!" Ernstchen trat ein und prüft« da» Gesicht deS PapaS mit einem erwartung»voll«n Blick. „Sag' mal. Jung«", begann Papa, „Dir sitzt ein Zahn so locker? Na, komm mol heran, mach' den Mund auf, ich will mal nachsehen." Ernstchen gehorchte zögernd. „Nun, mach' den Mund auf, weit — recht west", ermunterte ihn Papa. Ernstchen preßte krampfhaft die Lippen aufeinander. „Aber Herzchen", meinte ich, „Du tapferer Junge kennst ja keine Furcht", — dabei nahm ich meinen lieben Sohn auf meinen Schooß und öffnet« ihm mit einiger Anstrengung den Munv. Mein Mann seht« sich den Klemmer auf. „Ach so", meinte er nach kurzer Prüfung, „der erste Vordere ist es. Der muß 'raus, das ist ja die höchste Zeit. Der neue Zahn steht ja schon Dicht dahinter. . ., da bedarf es nur eines Griffes — absolut schmerz los Komm' mal 'ran, mein heldenhaftes Ernstchen. . . ." Ernstch«n trat auf Papa zu. Es war mir so vorgekommen, als ob ein heftiges Zittern, eine Art Schüttelfrost, die Gliever des armen Jungen durchbebt hätte. Aber er hielt sich brav. „Das Ding da vorn muß sofort heraus", erklärte mein Mann, „das stört ja das Vordringen des neuen Zahnes. Na, sichst Du, mein Ernstchen . . — damit legt« er den Zeigefinger ar. den Zahn Da sprang der Junge empor, wie von einer Tarantel ge- ficchen, stieß ein Zetergeschrei aus und stürzt« zur Thür hinaus. „Ab«r Mann", mahnte ich, „Du hast doch rin Kind vor Dir, ein immerhin zartes Kind und keinen Elephanten. Dem kannst Du ja schließlich Daumenschrauben um «inen kranken Zahn legen!" „Thur mir den Gefallen, Bertha, und rede keine Makulatur. Ich habe Dein süßes Ernstchen behandelt wie zwei rohe Eier. Aber wenn's dem Kerlchen nicht recht ist, daß ich mit meinem Zeigefinger dem Zahne zu nah« komme, dann können wir's ja mit einem Zwirnsfaden versuchen. Der wird um den Zahn ge schlungen — ein kleines Ruckchen, und di« Sache ist erledigt. Girb' doch mal so «in Zwirnknäuel her." Ich brachte das Verlangt«. Ernstchen wurde wiederum citirt. Das Kind schien mir blaß zu sein, e» näherte sich nur unsicheren Schrittes. „Feste 'ran, mein Junge", lachte Papa, „das Zähnchen muß 'raus. Sieh' mal, ich mach's mit 'nem Bindfaden. Da ist 'ne Schlinge d'ran, di« kommt um den Zahn, und dann . . ." Kaum hatte Ernstchen den Zwirnsfaden gesehen, al» er unter einem furchtbaren Gezeter nach der Thür« retirirte. „O Wetter", rief mein Mann, „hat dieses Biirschlein Angst." „Das muß ich mir doch sehr verbitten, mein Freund", ent- gegnete ich ganz ernsthaft, „der Jung« kennt da» Gefühl der Angst gar nicht, da» ist ein erstklassiger Turner in der Schul«, und alle Turner haben «ine riesenhafte Courage." „Warum reißt Ernstchen denn aber aus?" fragte mein Mann. „Na, sei so gut", remonstrirte ich, „willst Du Dir etwa «inen Zahn mit einem Zwirnsfaden ziehen lassen?" „Nein", erwiderte mein Mann, „ich brauche dazu eine derbe Zang«, die der Zahnarzt in Anwendung bringt —" „Gut, daß Du mir von der Zange sprichst", erklärte ich, „damit ist die Sache erledigt. Heut' Mittag besucht uns Onkel August. Wenn Ihr bei der ersten Cigarre gemüthvoll beisammen sitzt, werde ich unser Ernstchen vorführen — mit dem ausgezogenen Zahn!" . . . Parterre wohnte ein Friseur, Haarkünstler, Masseur, Chirurg, Heilkünstler und Zahnzieher. Zu dem ging ich und klagte ihm mein Leid. Der Zahnbrechcrmeister Naumann lachte. „Das ist ja eine Kleinigkeit, gnädige Frau", versichert« er, „Ihr Sohn wird das Zünglein gar nicht sehen. Wissen Sie, ich thue so, als ob ich da im Munde was nachsehen wollte. Ernstchen macht den Mund auf. In diesem Augenblick schon kommt das Zünglein aus meiner Manschette hervor — dorthin habe ich's vorher gesteckt —, ein Griff, ein Ruck . . . und heraus ist der Zahn!" „Gut, gut", lobt« ich den klugen Mann, „Sie verstehen Ihr Handwerk aus dem Doppel-F. Der Jung« fürchtet sich übrigens nicht. Das ist der beste Turner in der Schule. Sie brauchen also so zart gar nicht vorzugehen. Mein Ernstchen hat mehr Courage, als sich Mancher träumen läßt." » * * Onkel August hatte sich für diesen Mittag bei uns zu Tisch geladen. Bei der Suppe schon fragte unser Gast: „Es fehlt doch Jemand in der Tafelrunde — wo ist denn Ernstchen?" „Ach", antwortete ich leichthin, „der wird jeden Augenblick kommen. Er ist nur 'mal herunter zum Barbier, um sich einen Zahn ziehen zu lassen." „Und da geht der Junge ganz allein?" staunte Onkel August, „'s ist doch «in couragirtes Kerlchen!" „Das will ich meinen", pflichtet« ich ihm bei, „der würde sich all' seine Zähne ziehen lassen, ohne auch nur mit einer Wimper zu zucken." „Der Junge muß Officier werden!" rief Onkel August, „Deutschland kann solche Helden brauchen." Diese Schmeichelei schien mir denn doch etwas dick auf getragen zu sein und ich wußte für den Augenblick nicht, ob ich nicht besser thun würde, sie abzuwehren. Schließlich aber siegte doch der Mutterstolz und ich entgegnete: „Ja, mein Ernstchen scheint allerdings für einen Beruf bestimmt zu sein, für den persönlicher Muth in allererster Reih« erforderlich. . .* Ich konnte meine schön« R«d« nicht »oll«nd«n, denn plötzlich läutete die Corridorklingel Sturm, im Flur erhob sich ein Heiden lärm. Che ich noch wußte, was los war, wurde die Thür auf gerissen und Ernstchen stürzte herein — kreidebleich, eine lange Serviette flatterte um sein« Schultern. „Mama, Mama", heulte der Junge, „der Barbier wollte mir was thun, er brachte ein« Zange aus dem Aermsl." „Aber Ernstchen", versuchte ich das schluchzende Kerlchen zu trösten, „der wollte Dir eben den Zahn ausziehen» der ja schon so wackelig ist." „Ich laß mir keinen Zahn ausziehen, das thut Weh", zeterte Ernst, „als ich die Zange sah, bin ich ausgerückt, zwei Flaschen Haarpomade habe ich auch umgerissen, sie sind um und um kaput! Und auf der Straße habe ich geschrieon, daß alle Leute aus den Fenstern gesehen haben." „Ja, aber weshalb denn?" fragte ich erstaunt. „Weil der Mensch mir mit der Zange an den Zahn fassen wollte", meinte mein Jung«, „das brauche ich mir nicht zu ge fallen zu gelassen; ich lass« mir überhaupt keinen Zahn ausziehen." „Weshalb denn nicht, mein liebes Ernstchen?" fragte Onkel August erstaunt. „Sieh 'mal, der Zahn muß doch raus. Da kriegst doch 'nen neuen!" . „Das weiß ich ja gar nicht", heult« Ernstchen. „Mamw hat doch auch keinen neu«n gekriegt." V Ich fürchtete eine Indiskretion und s"chte den Redefluß mS Jungen dadurch zu unterbrechen, daß ich ihm «iwn leichten Klapps auf die Hand gab. „Mama, Mama", brüllt« da der Jung«, „Du sollst mich nicht immer prügeln . . . Und nun sag« ich'S gerade: ich lasse mir keinen Zahn ausziehen, weil ich mir keinen falschen «insetzen lassen will, wie Du!" Für den Augenblick war ich sprachlos. ,tzm, hm", räusperte sich Onkel August, „Ernftchen scheint ja in Deine Famftiengeheimnisse Durchaus eingeweih: zu sein." Jetzt überkam mich der A«rg«r. Ich nahm mir Ernstchen vor und gab ihm eine regelrechte, kraftvoll« Backpfeife. ,Äu", schrie der Junge, „das geht nicht, daß Du mir für jeden Deiner falschen Zähn« ein« Ohrfeig« giebst, da kommst Du ja aus dem Prügeln gar nicht heraus. . . . Und jetzt . . . au, au, jetzt ist der Zahn weg, der so wackelt«, und jetzt, au, au, hab' ich ihn hinuntergeschluckt. ..." Ich sprang entsetzt empor. „Siehst Du", triumphirte Ernstchen, „da» hast Du von Deinem Ohrfeig«ng«ben!" Arzt! . . . Zwei Löffel RicinuSöl. Ernstchen'» Zahlt im Familienarchiv. Ob mein Söhnchen trotzdem Officier werden kann?
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