02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 03.05.1901
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1901-05-03
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
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- Public Domain Mark 1.0
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- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19010503020
- PURL
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- LDP: Zeitungen
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- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1901
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- Tag1901-05-03
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Arnlsvlalt des königlichen Land- nnd Amtsgerichtes Leipzig, des Nattjes und Nstizei-Ämtes der Lindt Leipzig. Anzeigen-Preis die 6gespaltene Petitzeile 25 H. Reclamen unter dem RedactionSstrich <4 gespalten) 7b vor den Familiennach» richten (6 gespalten) SO Tabellarischer und Ziffernsap entsprechend höher. — Gebühren für Nachweisungen und Offertenannahme 25 H (excl. Porto). Grtra-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderung ^4 ük—, mit Postbesörderung 70.—. Annahmeschluß für Anzeigen: Ab end-Ausgabe: Vormittag» 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittags 4 Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je ein« halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Die Expedition ist Wochentag» ununterbrochen geöffnet von früh 8 bi» Abends 7 Uhr. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig Freitag den 3. Mai 1901. 95. Jahrgang. Die „Schonzeit des Moorhuhnes". * Die „Canalkrisis" ist gestern der Gegenstand einer Be sprechung deS preußisch en Staats Ministeriums gewesen und das Resultat oder den Zweck dieser Besprechung wird man heute Abend in einer gemeinsamen Sitzung beider Häuser deS Landtags erfahren. Begreiflicher Weise hat die Ankündigung dieser Sitzung im Reichs tage sowohl, wie im preußischen Abgeordnetenhause große Erregung und gespannte Erwartung hervorgerufen. Im Abgeordnetenhause aber hielt diese Erregung den Präsi denten nicht davon ab, einen unfreiwilligen Witz zu machen. Er setzte nämlich am Schlüsse der gestrigen Sitzung die nächste um heute 1 Uhr an und verkündete als ersten Gegen stand derBerathung die „Schonzeit des MoorhuhneS". Natürlich brach daS ganze Haus in schallendes, fröhliches Gelächter aus und fand, daß niemals ein zeitgemäßerer Witz gemacht worden sei. In der Tbat sagt dieser Witz daS Schicksal deS hohen Hauses voraus. Dieses „Moorhuhn', daS wenigstens den Mittellandcanal nicht will, soll trotzdem nicht geschlachtet werden, sondern noch einmal Schonzeit haben, d. h. es steht nicht vor einer Auflösung, die der Regierung in Folge ihres bisherigen Verhaltens doch nichts helfen würde, sondern nur vor dem Schlüsse seiner Session, ja vielleichr gar nur vor einer Vertagung. Der ersteren Ansicht ist die „Nat.-Lib. Corr.", die sich in ihrer gestern Abend erschienenen Ausgabe folgendermaßen äußert: „Die heutige Sitzung de» Staatsministeriums hat im über raschende» Ergebniß gezeitigt: die Einberufung beider Häuser des Landtags zu einer gemeinschaftlichen Sitzung am Freitag. Diese Nachricht verbreitete sich gegen 3 Uhr im Abgeordneten hause und ries dort eine begreifliche Aufregung hervor. Was bedeutet diese gemeinschaftliche Sitzung? Auflösung oder Schluß deSLandtags? Zu ersterer Maßregel liegt kein Grund vor, da eine entscheidende Abstimmung über die Canalvorlage noch nicht stattgesunden hat. Also Schluß der Session! Tie Regierung ist zu der Einsicht gelangt, daß die Berathungen zu dem von ihr ge wünschten Ergebniß nicht führen können, und ist des unwürdigen Spiels müde geworden, mit dem die klerikal-conservative Mehr heit unter dem Vorwande eingehender Prüfung die Berathungen über die Canalvorlage bi» ins Endlose verschleppt, um schließ, lich doch nur eigensüchtige Interessen zu verfolgen und die Hauptsache, den Mittellandkanal, abzulchnen. Der Schluß des Landtag» bringt diese so kunstvoll durchgeführte Ver schleppungspolitik um ihre von der klerikal - konservativen Mehrheit erwarteten Früchte. Die jetzige entscheidend« Maß regel de» Ministerpräsidenten kann indeß nur dann einen politi schen Sinn haben, wenn ihr eine Neubildung des Staats- Ministerium», wenigstens daS Ausscheiden einzelner Per sönlichkeiten auS demselben, folgt. Das wird wahrscheinlich nicht unmittelbar nach Schluß der Session eintreten, aber doch sich als eine Maßregel ergeben, über deren Nothweudigkeit allerdings einzig und allein der Träger der Krone, der König und Kaiser, zu entscheiden hat. Bedauerlich bleibt die Unsumme von Arbeitskraft, die durch die BerfchleppungSpolitik der Conservativen nutzlos verbraucht ist, bedauerlich auch der Fortfall wichtiger Vorlagen, die noch in diese« Tagen dem Abgeordnetenhaus« zugehen sollten: der Ent wurf über die Nebenbahnen und das Provinzialdotationsgesctz. Die Verantwortung für die Aufschiebung dieser Gesetze auf ein weiteres Jahr fällt auf die Schultern der Conservativen! Wenn in parlamentarischen Kreisen die jetzige Maßregel des Ministerpräsidenten in Zusammenhang mit der äußeren Politik gebracht wird, so müssen wir einer solchen Auffassung derGesammtlage widersprechen. Der Schluß deS Landtags erfolgt lediglich auS Gründen dec inneren preußischen Politik, die jetzt an tinrmWendepuncte steht!" Mag aber auch der Landtag geschlossen werden und dieser Maßregel der mehr oder minder freiwillige Rücktritt einiger Minister folgen: an eine bedeutsame Wendung der Dinge glauben wir ebensowenig wie diejenigen Abgeordneten, die gestern in dem unfreiwilligen Witze deS Präsidenten des Abgeordnetenhauses eine treffende Voraussage dessen, waS kommen wird, erblickten. Im Grunde — sich darüber zu täuschen, verbietet eine zwölfjährige Erfahrung — wird Alles beim Alten bleiben, die Politik teS „Fortwurstelns" mit den Allüren der Großzügigkeit und Ueberlegtheit wird fortgesetzt werden. ES kann nicht anders sein, denn was immer heute oder übermorgen in Berlin geschehen mag: Eines wird sich nicht ändern: die selbst dem absolutistischen Rußland fremde thatsächliche Ministerlosigkeit, das Handeln ohne die Rathgeber, die nach altem, guten und nothwendigem, nun aber zum leeren Scheine herabgesunkenem Brauche daS Geschehene zu decken haben. Nicht nur ohne diese Rath geber, oft auch ohne die Benachrichtigung dieser Rath geber. „Die Minister wissen häufig nicht, in welcher Richtung der Kaiser seine Politik geändert hat"; so schrieb kürzlich ei» Berliner Blail, und obwooi die Ofsiciöfen in der letzt:» Zeit s.hr vorlaut und ausfällig gewesen sind, dieser Kennzeichnung der preußischen NegierungSverhältnisfe haben sie nicht entgegen zutreten gewagt. Ungemein kennzeichnend für den herrschenden Zustand ist, daß sehr gut beobachtende Politiker gestern Nach mittag in den Wandelgängen der Berliner Parlamente ernst liche Zweifel äußerten, ob der Ministerrath, als er nach Mittag auseinanderging, gewußt habe, waö heute Abend im Landtag oder mit dem Landtag geschehen wird. Der amtliche Telegraph hat zwar die alle Welt überraschende Ankündigung so geschickt gefaßt, daß man meinen könnte und sollte, die höchst ungewöhnliche Berufung der gemeinsamen Sitzung beider Häuser beruhe auf einer Entschließung des Minister raths. Viele glaubten aber, dies nicht meinen zu dürfen, sie waren vielmehr der Ansicht, daß der Ministerrath eine ihm gewordene Anweisung vollstreckt, oder eigentlich nur halbamtlich publicirt habe. Am Mittwoch hatte der Kaiser den Reichs kanzler in dessen Palais aufgesucht. T> otzdem ist sogar noch gestern Nacht von Politikern, die gute Fühlung haben, erklärt wor den, sie glaubten nicht einmal an einen Schluß der Session (von einer Auflösung deS Abgeordnetenhauses ganz zu schweigen), sondern nur an eine Vertagung, „weil die Regierung selbst noch nicht weiß, was sie will." DaS stimmte zu der Ver- muthung, daß die Regierung — in diesem Falle sind die Minister gemeint — vorgestern noch nicht im Entferntesten daran gedacht habe, in der Canalsache demnächst überhaupt etwas zu wollen. Sicher ist so viel, daß die feste Absicht bestand, daS Plenum des Abgeordnetenhauses über die wasserwirthschaft- liche Vorlage abstimmen zu lassen, was ganz gut am nächsten Montag hätte geschehen können. DaS Ergebniß, daS war gleichfalls sicher, wäre freilich ein negatives geworden. Nicht nur der Mittellandcanal, auch der Großschifffahrtsweg Berlin- Stettin sah der Ablehnung entgegen. Das Cent rum, die auch in Preußen übermächtig gemachte Partei, wollte es so und ein Blatt kennzeichnete gestern früh die Situation mit schneidendem Hohn, aber vollkommen zutreffend, indem es eine Betrachtung über den Stand der Dinge mit den Worten einleitete: kowa. looutu ost. Es ist in der That der U l t r a m o n t a n i s m u S, der daS von oben so eifrig betriebene Project abermals zu Falle bringt. Die Partei Roms auf deutschem Boden ist zwar die geborene Schacherpartei, aber sie glaubt nichts bieten zu müssen, weil sie ihrerseits gerade dadurch alles erlangt, was sie fordert. Aus dem soeben von Poschinger veröffentlichten Memoirenwerke: „Unter Friedrich Wil helm IV." lernen wir eine im Jahre 1855 geschriebene Denkschrift über die Politik dieses Königs kennen, die Otto von Manteuffel zum Verfasser hat. Darin beklagt dieser zu den Reaktionären gerechnete Staatsmann aufs Tiefste das tief eingewurzelte Mißtrauen, daß Preußen in den Händen der Ultramontanen sei. Und ohne jeden Zwischensatz bringt er diese Erscheinung mit „Handlungen und Unterlassungen Seiner Majestät" in Zusammenhang. Graf Bülow ist jedenfalls liberaler als Otto v. Manteuffel gewesen, Fürst Hohenlohe war es erst recht, und dennoch wagt heute kaum ein Politiker, der sein Urtheil auf daS Gesehene und nicht auf das ausMiuistermundcGehörte gründet, zu bestreiten,daß das heutige Preußen in den Händen der Ultramontanen ist. Das Volk — und hierin unterscheidet sich die Gegenwart von der Zeit um 1855 — hat an diesem Zustande sein gerütteltes Maß Schuld, aber daS Beste dankt der heutige IesuitismuS den maßgebenden Kreisen. Die besten Erfolge und die kühnsten Hoffnungen. Von den letzteren ein Beispiel. Von einem klerikalen Volksschulgesetze war eS eine Weile still gewesen. Da wurden die ultramontanen Er wartungen ausS Nene belebt durch das Wort, in der Schule könne viel geschehen, um Vorkommnisse wie ren Bremer Unfall oder Anfall zu verhüten. Die Klerikalen verstanden, und da einem Schulgesetze, das mit der Noth- wendigkeit der Hintanhaltung ruchlosester Verbrechen be gründet wird, ein unwiderstehliches Eigengewicht beigemessen werden kann, so hielten es die Herren nicht mehr für nöthig, wegen der Erfüllung des größten ihrer Herzenswünsche, für die ihnen an sich sehr viel feil wäre, etwas zu leisten. Die Andeutung, daß eine Wiederaufnahme der Schulgesetz campagne von 1892 erhofft werden dürfe, ist einGlied in derKette der letzten Geschehnisse, die den Muth zu dem Wagniß, den Mittel landkanal ein zweites Mal unter den Tisch zu werfen, befeuert haben. Auch was dieConservativen anlangt,soistdiegrandiose Politik, die erst canalrebellische Beamte wegen einer parla mentarischen Abstimmung aus ihren Aemtern entfernt, um sie bald darauf in begehrtere Stellungen zu befördern, keineS- wegSdieeinzigeselbstverschuldete Ursache deS gegenwärtigen aber maligen Mißerfolges gewesen. Die konstitutionelle Unordnung mit ihren unvermeidlichen Halbheiten und Schwankungen ist dem Plane wiederum zum Fluche geworden, man hat die Kräfte gezwungen, sich zu paralysiren — ein Nichts ist das natürliche Ergebniß. Die neuen Minister, wenn deren auch mehr als zwei er scheinen sollten, werden die Zustände nicht bessern. Die Schonzeit, die dem „Moorhuhne" im Abgeordnetenhaus gegönnt wird und nach Lage der Dinge gegönnt werden muß, kommt doch nur dem Centrum zu gut:, daS künftig noch mehr ge schont werden wird, als bisher. Mit Herrn Miquel, mag man ihn lieben oder hassen, scheidet der letzte noch einigermaßen widerstandsfähige Verantwortliche aus. Bei der Auswahl seines Nachfolgers wird gewiß daS SelbstständigkeitSgefühl nicht die Tugend sein, die allein gefordert wird. Man kann namentlich auch wegen der Gefahren, die die Handelspolitik in ihrem Schooße birgt, nur trüb in die Zukunft sehen. Die Wirren in China. Tie Entschädigungsfrage. Von wohlunterrichteter Seite wird uns mitgetheilt: Die Finanzcommission der Vertreter der Mächte bat sich über die EntschädigungSfrage sowohl hinsichtlich der Ge- samnitsumme wie in Bezug auf die Deckung so weit geeinigt, daß binnen Kurzem der chinesischen Regierung die Forderungen der Mächte amtlich zur Kenntniß gebracht werden können. Die Vereinigten Staaken von Amerika haben ihren ursprünglichen Standpunct, die Vertheilung der Entschädigungssumme „gleich mäßig" für jede einzelne Macht vorzunehmcn, verlassen. Die den chinesischen Unterhändlern beigegebenen chinesischen Finanz- Sachverständigen erkannten an, daß China im Stande sei, 65 Mill. Pfd. Sterl. aufzubringen. Da China zur Be schaffung der Entschädigungssumme den Weg der Anleihe beschretten muß, bleibt abzuwarten, ob China genügende Sicherheit zu bieten vermag. Wäre dies nicht der Fall, so würden die Mächte die nöthige Garantie übernehmen müssen. Dabei wäre eS aber nicht unbedingt erforderlich, daß alle Mächte die Garantie übernähmen, vielmehr wäre es aus reichend, wenn dies durch eine Gruppe von Mächten geschähe. Deutsche und Franzosen iu China. Aus Berlin wird der „Münchner Allz. Ztg." geschrieben: Wenn verschiedentlich die Frage aufgeworfen wird, welchen Zweck Expeditionen an die große Mauer haben, so kann nur erwidert werden, daß es sich durchaus nicht um Prestigezelüste handelt, sondern um An forderungen der militärischen Lage, denen gereckt zu werden daö Oberkommando in Peking sich verpflichtet fühlt. lieber die Haltung der Franzosen im Zu sammenhang mit den letzten militärischen Vorgängen liegt amtlich nur die Mittbeilung des Grafen Waldersee vor, daß sie nicht zum Kampf gekommen seien. Ob die Annahme richtig ist, daß ihre Zurückhaltung auf Pariser Weisungen zurückzusühren sei, die unter russischem Druck erfolgten, darf einstweilen dahingestellt bleiben. Jedenfalls ist eS irrig, zu glauben, die Franzosen brennten darauf, nickt mehr niitzulbun. Erft dieser Tage hat der „Figaro", dessen Beziehungen zu maßgebenden Pariser Stellen bekannt sind, ausdrücklich darauf angespielt, daß die Feuilleton. Der Oger. Roman von Hermann Birkenfeld. Nachdruck verbotru. Am Markte, ein paar Häuser vor seinem Wegziel, faßt Doctor Stadler ihn am Rocktnopf. „Sie sind mir ein netter Schäker! Gestern Nachmittag machen Sie Einem mit tollen Redensarten angst und bange, und Abends retten Sie mit eigener Lebensgefahr unfern lieben Bleier! Aber ich bin stets der Ansicht gewesen: praktisch! Praktisch ist die Hauptsache. Grau, theurer Freund, ist alle Theorie, unk mit unserer Schulfuchferei rettet man keine Menschen, so etwas ver steht sich von selbst. Wir Schulmeister würden uns jämmerlich blamiren, wenn wir, im Vollgefühl unserer Kathederweisheit, den Schülern ein Prognostikon für's Leben stellen wollten. Zum Beispiel mit Ihnen: das wäre ein netter Reinfall geworden." Hier reißt Rudolf sich gewaltsam loS. „Verzeihung! Meine Zeit ist sehr knapp bemessen! Jeden falls gratulir« ich Ihnen zu Herrn Bleier's Rettung." Stadler tupft sich, hinter ihm dreinsehend, mit dem Stock griff an die Stirn. „Er hat sie doch wohl nicht all« fünf beisammen. Mir gra- tuliren. Und in den „Rothen Ochsen" geht er. Scheint nicht gerade die feinste Gesellschaft aufzusuchen." Doctor Stadler hat natürlich kein« Ahnung, mit welcher Sehnsucht Rudolf in dem von Heini Flügge bewohnten Logir- stübchen des „Rothen Ochsen" erwartet, noch, wie herzlich er em pfangen wird. Herzlich, nicht freudig. Dafür sieht der Steuermann vom Lloyd zu finster d'rein. So trostlos, weltf-indlich, daß sein Be such ordentlich erschrickt. „Heini! — Du wirfst doch nicht die Flinte ins Korn?" „Letzter Nothschuß — Schiff im Sinken, meinst Du? Nee, Ruding, so weit ist'» noch nicht. Sie ist d'rüben in ihrem Zimmer und wohlauf, daS heißt körperlich. Mit ihrer Gemiithsverfaffung ist das ein ander Ding, just wie mit meiner." Heini fitzt am Fenster, Jetzt stützt er den Kopf ist die Hand und stndirt die schmucklose Front deS gegenüberliegenden! Hauses. Eine Weile hört man nur das Ticken seiner großen Taschen uhr, die auf dem Tische liegt. Rudolf holt ein Papier hervor. „Das fiel dem Rechtsanwalt Bleier gestern aus der Tasche. Weil Deines Vaters Namen d'rauf steht, hob ich es auf." Wie widerwillig hat sein Freund sich nach ihm umgedreht. Aber kaum, daß er einen Blick auf das Blatt geworfen, da greifen seine Finger heftig zu. „Das ist's, das!" Mit brennenden Augen prüft er das Document. „Oh, der Schuft! Die Schufte! Aber ich werde es ihnen eintränken; dem Einen ihrem Vater, —" Er lacht laut auf. „Und dem Anderen noch viel saftiger." Er ist aufgesprungen und geht breitspurig im Zimmer umher. „Möchtest wissen, woher der Wind Pfeift? Warum das un glückselige Geschöpf zur Brandstifterin, beinahe zur Mörderin wurde? Um den Lappen da!" Klatschend schlägt seine Hand auf das Blatt. „Was drin steht, hast Du natürlich gelesen?" Rudolf nickt. „Und auch die Fälschung entdeckt?" „Was?" „Meiner Treu, ich rede doch deutlich genug. Sieh Dir den Wisch nur 'mal ein bischen genauer an! 's ist ein Schuldschein über sechstausend Thaler, unverzinslich, die mein Vater am ersten October achtzehnhunidertachtundfünfzig von seinem Schwager, dem Kaufmann Friedrich Fetthenne in Karnin erhalten hat. Ab ersten October achtzehnhundertsechzig nach vorhergegangener dreimonatiger Kündigung zurückzuzahlen, — nicht wahr? Und darunter ein Bleistiftgekritzel von meinem Alten, daß die Schuld summe am ersten April fünsundsechzig bezahlt worden ist. Nur daß die Zahlung mit dem kompletten Ruin meines Vaters zu sammenfiel, daß meine Mutter über der zunehmenden Lotter- wirthschaft hinwegstnrb, das steht nicht dabei. Auch nicht, daß Onkel Fetthenne die Sechs in dem Worte sichStausend künstlich aus einer Drei zurecht gefälscht hat." „Heini!" „Kommt Dir 'was spaßig vor? Mir auch. Aber nur die Verbohrtheit der Gerichte, di« damals den plumpen Betrug nicht entdeckten. Heute, nach soviel Jahren, ist es kein Kunststück mehr, zu sagen, daß das eine Wort aus zwei ganz verschiedenen Tinten zusammengekleckst ist. Die eine ist fuchsig geworden, die andere nicht. Und die Rasur unter der Sechs wurde mit der Zeit auch nicht sauberer." „Wie konnte denn Dein Vater seiner Zeit die Summe be zahlen?" „Wie? Ich meine, ich hätte es eben gesagt: indem er sich sein bischen Hab und Gut über den Kopf weg verkaufen ließ. Aber — warum er es that, wolltest Du fragen? — Ganz einfach des halb, weil er nicht im Stande war, den Betrug nachzuweisen. Weil das Gericht, als es zum Schwören kam, ihm wahrscheinlich die heikle Frage vorlegte, ob er bei Abschließung des Vertrages auch im Vollbesitze seiner Sinne gewesen wäre, und weil mein Vater, wie im Elend ein Gewohnheitssäufer, so in seinen besseren Tagen schon mindestens Gelegenheitstrinker war. Es konnte ja möglich sein, daß er das einmal so unterschrieben hatte, wie es da stand, und — bitte nicht zu vergessen — zwischen Eingehen und Lösung der Schuld lagen sieben Jahre, während welcher mein Vater das Blatt nicht zu Gesicht bekam. Erst als in Karnin der neue Hafenbau die Schifffahrt in die Höhe brachte und der vermögende Onkel Fetthenne sich besann, daß er als Rheder noch ein bischen wohlhabender werden könnte — das heißt anno fünsundsechzig — da machte er von seinem Kündi gungsrechte Gebrauch. Und verrechnet hat er sich ja nicht, weder m seiner kaufmännischen Speculation, noch in der Kurzsichtig keit der Behörde. Ob unsere Familie darüber zu Grunde ging, kümmerte ihn nicht. Ebenso wenig, daß der Alte sich vom alten Lumpensammler Berndt die Buve an der Stadtmauer kaufte. So verloddert er damals schon war — das Zartgefühl seines Herrn Schwagers, dem er damit einen Tort anthun wollte, hatte er doch überschätzt." Heini Flügge thut einen tiefen Seufzer. „Ich verstehe nur nicht", fragt nach ein paar Minuten Ru dolf, dem die Worte schon längst auf der Zunge brennen, „in welchem Zusammenhänge Bleier —" „Der edle Menschenfreund, meinst Du? — Ich hätt's eher verstanden, als Du. Vor Jahren schon, als der Alte ihn bei irgend einem Trödel, ich glaube einer Steuergeschichte oder der gleichen, um Rath fragte, gab ihm das Gelegenheit, die in Stettin begonnene Bekanntschaft mit Lisa wieder anzuknüpsen. Mir fällt dabei jener letzte Nachmittag ein, den wir hier zu sammen verlebten, am Wildkrug. Weißt noch? Damals war er iust von Stettin hierhergekommen, und dann, als Du fort warst, alle Naselang in unserem Hause. Dem Alten Flöhe ins Ohr gesetzt von Wiederaufnahme des Verfahrens, Klage gegen Onkel Fetthenne und dergleichen Unsinn. Denn Unsinn war's ja, weil es sich um eine längst verjährte Niedertracht handelte. Natürlich wurde auch nichts Ernstliches unternommen, blos mit Lisa ge schwatzt und mit dem Alten gesoffen, auf dessen schlechte Augen man sich nebenbei verließ; sonst hätte Vater bei genauem Zu sehen selbst die Fälschung entdecken müssen. Aber er sah ja mordsschlecht — außer, wcnn's galt, in fremder Jagd herumzu knallen. Da hatte er's im Griff, wie er sagte." Ruvolf hat zu der Ausführung ein paar Mal finster ge nickt. Er wundert sich jetzt nicht mehr, gestern Abend den Rechtsanwalt in so intimer Gesellschaft mit Karl Flügge gesehen zu haben. „So kam denn auch das Document in Bleier's Tasche?" fragte er jetzt. „Was? — So? — Wieso? Weil er'S gestern Abend ge stohlen hat, deshalb stak's in seinem Rock. Er hatte den Alten mal wieder sinnlos betrunken nach Haus geschleppt, und, selbst be nebelt. Lisa allerlei Blech von Liebe und Einanderangehören vor gequasselt, bis das geängstigte Mädchen die Thür hinter sich zuschlug und ihn mit Vater allein ließ. Nun war eS für ihn, der in jedem Winkel der Wohnstube Bescheid wußte — leicht genug; denn unser Hausrath war ja nicht fürstlich — er hat in des Alten Tasche herumgefühlt, bis er den Schlüssel zu dem Koffer fand, der meines Vaters früheren Geschäftskram ent hielt. Und dann mit dem gefundenen Papier oben hinauf, unter's Dach. Das bischen Schloß an Lisa'S Stubenthür — daß Gott erbarm', das knaxte ein Kind aus dem Rahmen! So steht er bei Kem armen Ding und redet ihm vor, was er Alles mit dem Schuldscheine in der Hand anfangen könnte: ihn an Fetthenne, dem trotz der Verjährung leidlich viel an dem Wisch liegen mußte, verkaufen, oder ihn gegxn den Betrüger verwenden, ihm mit Anzeige drohen, bi» er de» Alten Schulden Deckt und noch ein anständiges Capital herausrückt, das ihm eine neue Existenz öffnet. Er zeigt Lisa die Fälschung so klar, daß kein Zweifel mehr bleibt. Und nur auf sie käme es an, wie sie sich stellte " Heini Flügge kann einen Augenblick nicht weiter. „Was er sonst noch sagte, hat sie mir nicht erzählt, aber e» Wirtz
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