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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 12.06.1900
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1900-06-12
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19000612021
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1900061202
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1900061202
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1900
- Monat1900-06
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Die Morgen-Ausgabe erscheint um '/,? Uhr, die Abend-Ausgabe Wochentags um 5 Uhr. Filialen: Alsre- Hahn vorm. v. Klemm'» Sartim. Uuiversitätsstraße 3 (Paulinum,, v-ni» Lösche, Ralhaiianiftr. I«, Part, und Königsplatz 7. Ne-aclion und Lrpe-ition: JobanntSgaffe 8. Die Expedition ist Wochentags ununterbrochen geöffnet von srüh 8 bi- Abend- 7 Uhr. VezngS-PrekS der Hauptexpedition oder den im Kindt» tzerirk und den Vororten errichteten Aus» «ivestrllen ab geholt: vierteljährlich ^14.50, oet zweimaliger täglicher Zustellung in» Hao- 5.50. Durch die Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: vierteljährlich 6.—. Direkte tägliche Krcuzbandicndung in- Ausland: monatlich 7.50. 2Si. Abend-Ansgabe. Anzeiger. Amtsblatt -es Hömglichen Land- UN- Amtsgerichtes Leipzig, -es Mathes und Polizei-Amtes -er S1a-t Leipzig. Dienstag den 12. Juni 1900. Anzeigen-Preis die 6 gespaltene Petitzeile L0 Pfg. Reklamen unter dem Redactionsstrich (4ge- spalten) üO-ij, vor den Familieunachrichtea (8 gespalten) 40^. Gröbere Schriften laut unserem Preis- verzeichniß. Tabellarischer und Ziffernsutz nach höherem Tarif. Extra-Veilagen (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderunz 60.—, mrt Postbesörderung 70.—. .'Zlunahmeschluß für Anzeige«: Abend-Ausgabe: Vormittags 10 Uhr. Morgeu-Ausgabe: Nachmittag- 4Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je ei» halbe Stunde früher. Anzeiger» sind stets an die Expe-tttos zu richten. Druck und Verlag vou T. Polj in Leipzig 94. Jahrgang. Die Krisis in China. Neber die Lage in China hat sich, wie schon kurz er wähnt, der französische Minister deS Acußeren Delcass6 in Beantwortung einer Interpellation des Abgeordneten Cochins in ziemlich optimistischer Weise ausgesprochen. Er führte, nach einem uus jetzt zugegangenen ausführlichen Berichte, auS: „Welches auch die Gründe der aufrührerischen Bewegung in China sein mögen, das ist sicher, dass sie eine Gefahr für alle Ausländer geworden ist. In Peking hat die Bewegung Anhänger, die nur die Zeit abwarten, um sich ihr anzuschließen. Zuin zweiten Male seit zwei Jahren mußten die verschiedenen Gesandtschaften, um den Schutz ihrer Staatsangehörigen zu sichern, die Geschwadcrchefs um die Landung von Truppen ersuchen, und ich glaube deshalb, daß die Gemeinsamkeit der Gefahr, die ihre Staatsangehörigen be droht, den Mächten ihre Haltung vorschreibt. Ich weiß nicht und will auch nicht untersuchen, ob die Mächte bezüglich Chinas abweichende Standpuncte einnehmen; es erscheint mir aber gewiß, daß die Betonung der Solidarität in dieser gesährlichen Lage die sicherste Garantie für die Interessen jeder Macht ist. („Sehr gut!" Beifall.) Sobald die Mächte lln- einigkcit und Zwietracht zu Tage treten lassen, ist der Ohnmacht der chinesischen Regierung, den Aufstand, Lurch den sie weder er- schreckt, noch überrascht scheint, zu unterdrücken, nicht mehr abzuhelfe», und ohne ein Freund großer Worte und düsterer Prophezeiungen zu sein, glaube ich, daß man dann bald neues und größeres Unglück zu beklagen hätte. Ich habe deshalb unseren Ge sandten in Peking, zu dessen Berfüguug die Regierung alle Streitkräfte des dortigen Geschwaders und noch mehr Streitkräfte, wenn der Gesandte es für nöthig hält, gestellt hat, angewiesen, in beständiger Verbindung Mit seinen Collegen im diplomatischen Corps zu bleiben, unter denen, wie ich mit Freude constatirt habe, die vollständigste Einigkeit zu bestehen nicht ausgehört hat. („Sehr gut!" Beifall auf vielen Bänken.) Zur Stunde, wo ich hier spreche, ist oder wird von verschiedenen Gesandtschaften der Schritt unternommen, der chinesischen Regierung zum letzten Male die gebieterische NothwenLig- keit Larzulegcn, der Bewegung unverzüglich ein Ende zu bereiten, die sowohl Lein chinesischen Reich, als auch den Interessen aller Art, die die Mächte nicht leichten Kaufes aufgeben dürften, Gefahr bringe, und daß, wenn der Appell fruchtlos bleiben sollte, die Mächte auf sich selbst und aus die Civilijatio», die sie repräsentiren, und auf die Sicherheit ihrer Staatsangehörigen Rücksicht nehmen würden. („Sehr gut!") Wenn unter den Mächten irgendwie eine Rivalität entstehen sollte, wird sie, so hoffe ich, einzig indem Wettkampf bestehen, welche Macht zuerst bereit ist und am schnellsten die wirksamsten Mittel zusammenbringt, um gleichzeitig die eigene Sache und die des ganzen Abendlandes selbst zu vertheidigen. („Sehr gut!" Beifall.) Unglücklicherweise ist Nordchina nicht der einzige Punct, der uns spectell beschäftigt. Kürzlich hat sich die Bewegung gegen die Fremden, die mit furchtbarer Intensität in Nordchina aufgetreten ist, auch in Südchina gezeigt. Unser Cabinet hat geglaubt, zur Bertheidigung das Personal des Consulats und der Eisenbahnen be waffnen zu müssen. Weit entfernt, sich zu vermindern, verdoppelt sich die Bewegung, und sie ist für unsere Staatsangehörigen so bedrohlich geworden, daß der Bicekönig von Punnan sich für ohnmächtig erklärt hat, sie zu beschützen. In einem Telegramm vom 7. d. M. setzte mich unser Cvnsul von der Lage in Kenntniß und ließ mich wissen, daß er es für nöthig erachte, sich mit allen Agenten und Missionaren nach Tonking zurückzuziehen. Ich wiederholte meine früher der chinesischen Regierung ertheilte Benachrichtigung, daß wir sie für das Leben unserer Staatsbürger verantwortlich machen. („Sehr gut!") Zur selben Zeit tele- graphirte ich an den Consul Francois und schlug ihm vor, zu seinem Schutze, wenn er es für nöthig halte, Truppen abzusenden, weil Francois allein in dieser Stunde im Stande ist, zu sagen, ob die Nachricht von der Entsendung von Truppen nicht die Gefahr für unsere Staatsangehörigen vermehren könnte und sie verderben würde, anstatt sie zu retten. (Beifall links.) Dies ist eine Vorsicht, die Alle, die China kennen, würdigen. Eintretenden Falles würden wir mit um so größerer Festigkeit handeln, als nach dem Expvsü, das ich von dieser Tribüne von unserer Politik in China soeben gegeben habe, die Billigung, die ihm Las Parlament giebt, für die ganze Welt zweifellos ist. UnS quält kein Wunsch »ach einer unfruchtbaren Eroberung; wir wollen einfach die wirthschaftlichcn Unternehmungen in Amman, die uns durch Ver trag eingeräumt worden sind, gut durchführen. ES wird der Kammer nicht entgehe», daß Erwäguugen höherer Art und Bedenken der allgemeinen Politik die Regierung vor Versuchen schützen („Sehr gut!" Beifall), deren erstes Ergebnis; wäre, daß wir zu einer neuen Zersplitterung unserer Kräfte gezwungen würden, die möglichst in der Hand zu behalten, uns die Sorge für unsere Hauptinteressen zwingt. (Beifall links und auf vielen Bänke» des CcntrumS.) Auch in dieser Hinsicht hat, wie ich hoffe und überzeugt bin, das Gefühl der Regierung nicht ausgchört, auch daS der Kammer zu sein!" (Wiederholter Beifall auf vielen Bänken.) DaDelcasfs jedenfalls über die Absichten seines russischen College» Murawjew vricntirt ist, darf mail ans seinen Aeußerungen schließen, daß Rußland nickt beabsichtigt, die jetzigen Unruhen in China zu einem Handstreich auf Peking und somit zur Ausrollung der großen chinesischen Frage zu benutzen, daß es vielmehr gewillt ist, mit den übrigen Mächten zur Wiederherstellung der Ruhe, Ordnung und Sicherheit im himmlischen Reiche zusammenzuwirkcn. Ta auch England wegen des Krieges in Südafrika Alles daran liegen muß, im Augenblicke internationale Berwickelungen folgenschwerster Art zu vermeiden, ist auch von dieser Seite eine Souderaction nicht zu erwarten. Bleiben nur noch Japan und die Ber einigten Staaten übrig. Ersteres scheint sich in Uebercin- stnnmung mit der russischen Politik zu befinden und letzteres allein wäre nicht im Stande, das Concert der übrigen Mächte zu stören. Ernste Reibungen sind also fürs Erste nicht zu befürchten. Ob freilich, wenn Bajonett und Kugel ihre Schuldigkeit gethan haben werden und die Boxererhebung als beschworen gelten kann, der Kitt, den die gemeinsame Gefahr gebildet, noch Vorhalten wird, ist eine andere Frage. Wird dann von irgend einer Seite daS Signal zur Auftheilung Chinas, als einer Macht, die nicht im Stande ist, sich selbst zu regieren und infolge dessen eine fortdauernde Gefahr für die fremden Interessen bildet, zur Discussion gestellt, so ist eS mehr als wahrscheinlich, daß das Concert mit einer schrillen Dissonanz plötzlich zu Ende geht. Als Motiv der Zurückhaltung Frankreichs hat Delcassv Erwäguugen höherer Art und Bedenken der allgemeinen! Politik angegeben; er fürchtet, Frankreichs Kräfte zu zer-1 splittern, die mit Rücksicht auf dessen „Hauptinteressen" zu- sammengehalten werden müssen. Man liest bier deutlich zwischen den Zeilen, daß Frankreich auch in dieser Frage mit von Petersburg auS gebundener Marschroute vergeht, aber ebenso, daß es, „ohne davon zu sprechen, stets an etwas denkt", was sein ganzes Interesse in Anspruch nimmt. Das kann nur Elsaß-Lothringen oder Faschoda sein; aller Wahr scheinlichkeit nach daS erstere. Wir müssen uns hier mit dieser Andeutung begnügen, um noch den neuesten Meldungen über die Boxererhebung Raum zu geben. Sie besagen: * London, 11. Juni. Dem „Reuter'schen Bureau" wird aus Peking vom 0. d. M. gemeldet: Ein heute früh erlassenes Edict beauftragt Len Militärgouverneur, mit Cavallerie und Infanterie für Aufrechterhaltung der Ruhe in den Straßen zu sorgen. Tie Straße, in welcher die Gesandtschaften sich befinden, ist trotz dem mit Gesindel ungefüllt, das auf die leiseste Provokation zu jeder Misselhat bereit ist. Ter englische Gesandte Macdonald hat zwölf und dec amerikanische Gesandte Conger zwanzig Ma- trosen zum Schutze der Mcthodisten-Mission, wo die Protestanten aller Richtungen versammelt sind, entsandt. Die eingeborenen Ge schäftsleute sind sehr beunruhigt über das ständige Zunehmen der Boxerbewegung, obgleich Plünderungen von Läden von Eingeborenen noch nicht vorgekommen sind. — AuS Tientsin wird dem „Reuter'schen Bureau" von gestern gemeldet: Tie telegraphische Verbindung zwischen Tientsin und Peking ist unterbrochen, heute früh sind alle nord chinesischen Eisenbahnen außer Betrieb. Wege» der Schwierigkeit, vom Vicekönig die Erlaubnis; für die Expedirung eines dritten Sonderzuges nach Prkulg zu erlangen, besetzten die fremden Truppen die Wagen, woraus der chinesische Lokomotiv führer mit der Maschine davoniuhr und Andere das Gleis aufrisscn. Die fremden Truppen trieben die Eingeborenen mit dem Bajonett zurück und bemächtigten sich der Lokomotive. Als der Vicekönig hiervon Kenntniß erhielt, ertheilte er die Er- laubniß zum Abgang des Zuges. * Tientsin, 11. Juni. (Ncuter's Bureau.) Heute Mittag ging ein vierterZug mit213Nussen, LGeschützen und 62 Fran zosen, sowie mit Lebensmitteln und einem Geschütz für das britische Corps von hier ab. Die ausländischen Truppenabtheilungen con- centriren sich bei Lang fang, 40 Meilen von Peking. * Washington, 11. Juni. Admiral Kempff lelegtaphirte: „Die Lage in China ist ernst. Ich bitte um die Entsendung eines Bataillons Marinemannschaften aus Manila". Marinesekretäc Lang wies Len Admiral in Manila an, dem Admiral Kempff sofort 100 Manu Marinetruppen zu senden. * Washington, 11. Juni. Nach einem hier eingetroffenen Telegramm ist LaS amerikanische Kriegsschiff „Morsocacy" in Taku «ingetroffen. Politische Tagesschau. * Leipzig, 12. Juni. Eine RcichStagSsitzung von mehr als 8^/r Stunden, wir glauben nicht, daß Aehnliches in Deutschland schon dagewesen. Selbst in der lex Heinze-Hitze blieb man nicht so lange beisammen. Freilich ist gestern, nachdem auf die Interpellation wegen einzelstaatlicher Gesetze, betr. Contractbruch länd licher Arbeiter, und einer Streikpostenverordnung Lübecks längere Zeit verwendet worden war, noch daS Neichsseuchengesetz in zweiter Lesung durchgehastet worden. ES fand im Wesentlichen Annahme. Der tz 14 der Vorlage, der bestimmt, daß für kranke oder krankheilsverdächtize Per sonen die Absonderung angeordnet werden kann, erfuhr jedoch zwei nicht unerhebliche Aenderungen. Die Zwangs unterbringung in einem Krankenhause ist, entgegen der Regierungsvorlage, von der Zustimmung des behandelnden ArzteS abhängig gemacht und der Besuch abgesonderter Kranker durch Angehörige und — auf Verlangen deS Kranken — durch andere Personen ist unter gewissen Voraussetzungen gestattet worden; bei ter letzteren, vom Centrum beantragten Acnderuug wurde jedenfalls vor Allem an geistlichen Zuspruch gedacht. Bei der Besprechung der erwähnten Interpellation scheint uns zu Tage getreten zu sein, daß die RcchtSauffassunz des Abg. Basser mann in allen Punkten die der großen Mehr heit dcS HauseS war. Darnach wird durch LandeSgrfetz, welches den Contractbruch ländlicher Arbeiter — nicht gewerblicher — mit Strafe bedroht, kein Reichsgesetz verletzt, dagegen sind die neuen Bestimmungen von Anhalt und Reuß unzulässig und ungiltig, wonach landwirthschaftliche Arbeiter, weiche ihre Arbeitgeber zu gewissen Handlungen oder Zu geständnissen in Bezug auf den bestehenden ArbeilSvertrag da durch zu bestimmen suchen, daß sie die Einstellung der Arbeit verabreden, mit Gesängniß bestraft werden und zwar bis zu einem Jahre. Die Lübecker Streikposlenverordnung wurde vom Abg. Bassermann, dem Abg. vr. Spahn u. A. mit aller Bestimmtheit für ungiltig erklärt und der Staatssekretär Nieberding schien Nicht recht vom Gcgentheil überzeugt. Da aber der Re ichskanzler in dieser Beziehung wie auch hinsichtlich der Streikverabreduug eine andere Auffassung bekundet bat, so werden wohl die Gerichte zu ent scheiden haben. Bcmerkenswcrth ist die Mittheilung deS Staatssekretärs Grasen Bülow, daß der viel beachtete italienische Erlaß über die Auswanderung nach Deutschland kein förmlicher Erlaß, sondern eine Rotiz in einem Blätte mit allerdings amtlichem Charakter ist und daß dieser Notiz eine falsche Jnformirung der italienischen Regierung durch ihre Agenten zu Grunde lag. Wie mit einem Zauberschlage hat sich die Situation innerhalb des GesammtfreisinnS geändert. Gestern noch er bitterte Feindschaft, harte Borwürfe bier über Flotten schwärmerei, dort Uber Unverbesserlichen Eigensinn, und heute, »lehr oder weniger laut, aber überall die AttinghaNsen- Mahnung. DaS hat Vie vorgestrige Sitzung des Centralvorstandes der nattonallt-eralttt Partei und ihrer Fraktionen, über die wir berichtet, gethan. Der Zorn im freisinnigen Lager und daS Sicktviederfinden der beiden, eben auf einander noch so erbosten Schwestern beweisen zweierlei. Erstens, daß der Freisinn in beiderlei Gestalt die NichtS-alS-FreihanvelSpartei geblieben, die er immer gewesen. Zweitens, daß er sich in einem schwer begreiflichen Feuilleton. Aus -em Lebe» einer Russin. 7j Von Eh. v. Fabrik». , Nachdruck »erb»:««. Bei der für ihn so qualvollen Erinnerung an diese schmach volle Stunde, in der er die mit allerlei frechen Witzen vorge« brachte Erzählung deS Schurken hatte anhören muffen, und an das schallende Gelächter und die Spottreden, mit denen Kras« zinSliS Zuhörer dieselbe ausgenommen hatten, versagte dem Staatsrath fast di« Stimme. Mehr als einmal wollte Anna Feodorowna den Gatten unterbrechen und ihn verhindern, weiter« zusprechen. Aber jedes Mal wies er sie mit einer leisen Hand bewegung zurück und fuhr auch jetzt nach einer kleinen Weile ruhiger werdend, fort, ihr Alle» zu erzählen. Den Hohn der Polen hätte er geduldig ertragen. Die drohende Todesgefahr tonnte ihn nicht erschrecken. Siarb er dann doch im Dienst und für seinen kaiserlichen Herrn. Schrecken und Staunen aber be mächtigte sich de» Gefangenen und er hatte Mühe, äußerlich seine bithrrige stolzverächtliche Haltung vor diesen Leuten zu bewahren, als er so Kra-zinski von dessen früheren Beziehungen zu Anna Feodorowna erzählen hörte. Wie er sich ihr in Paris wieder genähert und sie unbarmherzig gemartert hatte, und wie dennoch alle seine Pläne an ihrem unbeugsamen Widerstande gescheitert waren. Zuweilen genügt ein einziger, flüchtiger Augenblick, um wunderbares Licht über Menschenleben und Menschenschicksale zu verbreiten, dem Blitze gleich, der plötzlich die nächtliche Dunkel« heit der Sturmnacht in Tageshelle verkehrt. Mit überraschender Klarheit enthüllte sich dem Staotsrath die ganze Vergangenheit und wie Keul«nschläge schmetterten ihn die höhnenden WortR seine» Feindes zu Boden. Was hatte seine unglückliche Gattin alle diese Jahr« erdukdcn müssen, während er sie mit seiner blinden, sinnlosen Eifersucht quält«, und ihr dabei doch den natür« liehen Schutz versagte, den er ihr gegen einen Kra»zin»ki hätte bieten sollen! Jetzt, wo e» zu spät war, wurden ihm plötzlich die Augen geöffnet. Nicht der Hohn und Spott diese» Schurken schmerzten ihn. Mit reuevoller Beschämung aber gedachte er der Schmerzen, die er ihr, der Reinen, durch seinen nie ruhenden Argwohn bereitet hatte. Welche Niedrigkeit hatte ihn bis zu dieser letzten Stunde seine» Leben» derartig verblendet und seinen Geist verwirrt? — Leidenschaftlicher al» je lohte seine Liebe zu seinen fernen Angehörigen, zu seiner Gattin und seinen Kindern empor, da er inne wurde, wie schwer seine Gemahlin durch seine Schuld gelitten hatte. Sein Herz verzehrte sich in heißer Sehn sucht nach ihr angesichts des unvermeidlich scheinenden Todes. Als dann Kraszinski erkannt hatte, daß er genöthigt sein würde, dem Willen seiner Gefährten zu folgen, di« entschlossen schienen, da» Leben der beiden gefangenen Beamten zu schonen, um dieselben zur Auswechselung gegen gefangen« Insurgenten- führer zu bewahren, war der Elende plötzlich auf den Staats rath losgestürzt und ehe die Umstehenden es verhindern konnten, hatte er mit einem neuen Schimpfworte di« Pistole gegen dessen Brust abgefeuert. Erst hier war der Schwerverletzte wieder zu sich gekommen, um Diejenige an seiner Seite zu sehen, der sein« letzten, schmerzlichen Gedankn gegolten hatten! Anna Feodorowna hatte mit im Schooß ruhenden Händen gespannt auf jedes Wort ihres Gemahls gelauscht. Wie ein wunderbarer Traum schien ihr Alles. Hin und her schweiften ihre Gedanken. Sie dacht« in dieser kurzen Zeit an unzählige Dinge, an alle Demiithigungen und Schmerzen, di« sie er duldet hatte, an ihr vergangenes Leden, das so lange durch das auf ihr lastende Geheimnis; aus ihrer Jugendzeit aller wahren, ruhigen Freude bar war. Aus jedem Wort« Dimitri Jwano- wiksch'S erkannt« sie feine aufrichtige Reue, und daß sie sein Vertrauen völlig und bedingungslos wieder besitze, obgleich ihm doch noch so Manches in ihrem bisherigen Verhalten gegen ihn unaufgeklärt und befremdend geblieben sein mußte. Damit verschwand unerwartet die Traurigkeit, die so lange Jahr« wie ein kalter, düsterer Schatten auf ihrem Leben geruht hatte. Kein« Silbe vermochte sie zu erwidern. Schluchzend sank sie zur Seite d«s Lagers auf die Knie nieder und aus tiefstem Herzen sandte sie ein heißes Dankgebet zum Himmel empor. Von der Erzählung erschöpft, war der StaatSrath in die Kiffen zurückgesunken. In ti«fschmerzlicher Ergriffenheit strich er leise mit der Hand über da» lockige, dunkle Haar der Gattin und während sie zu seiner Seite kniete, schweiften seine Ge danken, Zett und Raum überbrückend, zurück in die Vergangen heit. Von Neuem sah er sie vor sich in der vollen Schönheit der Jugend, als er ihr den Brautkuß gab und ein Leben voll sonnigen, reichen Glückes vor ihnen lag. Wie zart und kind- sich war sie gewesen, wie wenig noch gestählt für die Kämpfe deS Lrbrns und wie vertrauensvoll hatte sie sich seiner Führung ergeben. Und durch seine Schuld war dann ihr junges Ehe glück nur zu bald getrübt worden, sein unseliges Mißtrauen hatte da» Kreuz ihres Lebens gebildet. Nun richtete sie den Kopf auf und er blickte tief in ihre thränenumflorten Augen. So viel treue Hingebung, so viel Selbstaufopferung las «r in denselben, daß er bis in die Tiefe seiner Seele gerührt wurde. Mit leiser, liebkosender Stimme, die Augen zur Hälfte schließend, sagte sie, sich rasch über ihn beugend: „Jetzt ist Alles gut. Die ganze traurige Leidens zeit ist nun vorüber, endgiltig vorüber, mein Dimitri, denke nicht mehr daran. Verweht und zerstoben ist Alles, wak uns bedrückt«, als wäre es nie gewesen. Wozu noch zurückblicken? Der Himmel wird uns aus den Händen unserer Feinde er retten und vor uns liegt noch ein neues, schönes Leben voll vertrauender -Liebe und wahren Freuden." Dankbar drückte Dimitri Iwanowitsch ihre Hand. Ja, er fühlte, daß sie noch vertrauensvoll an ihm hing, und s«ine neu erwachte Liebe sollt« sie entschädigen für alle vergangene Trüb sal. Er wollte kämpfen, sein so wunderbar wiedergefundenes Glück sich zu erhalten. Willensstark richtete er sich auf und besprach mit Anna Feodorowna die zur Rettung zu er greifenden Maßregeln. Der Ernst ihrer Lage verdoppelte auch Anna's Muth, und das Glücksgefühl, das sie belebend durch drang, erfüllte sie mit frischer, freudiger Thatkraft. Handelte es sich doch um das Leben des geliebten Gatten, um ihre Ehre, die von jenem Wüstling bedroht wurde. Sie wußte, daß sie nur auf sich selbst angewiesen war und allein an das Rettungswerk gehen mußte. Ihr russischer Kutscher war gleich nach Ankunft der Freischärler von den selben entdeckt worden und, wie sie vom Fenster au» gesehen, hatten sie ihn mit Stricken gebunden und in einen ihr un bekannten Keller des weitläufigen Schlöffe» gebracht. Auf ihr vor Angst fast sinnloses, stumpf in einem Winkel hockendes Kammermädchen war gleichfalls nicht zu zählen. Sie rüttelte das Mädchen auf, sprach ihr, so gut eS ging, Muth zu und übergab ihr die Sorge für den jetzt wieder schlummernden Ver wundeten, während sie selbst abwesend sein würde. Dabei schärfte sie ihr besonders ein, Li» zu ihrer eigenen Rückkehr unter keimen Umständen die Thüre zu öffnen oder auf An rufe zu antworten. Hierauf vertauschte sie die elegante Reisetoilette, die sie bis her getragen hatte, mit der einfacheren Kleidung ihrer Dienerin und entledigte sich auch der Fußbekleidung. Nach Art der Bauernmädchen, in bloßen Füßen, ein bunte» Tuch um den Kopf geschlungen, und Labei daS vom Abendessen im Zimmer zurückgebliebene Eßgeschirr tragend, wollte sie versuchen, daS Schloß zu verlassen. Sie mußte «in« klein« Wendeltreppe ge winnen, die, wie sie vorher vom Fenster aus bemerkt hatte, auf der Rücksette de» Gebäude», direkt nach dem Park hinunter fuhrt«. Der Eingang zu derselben mußt« sich am Ende des Korridors befinden, auf den ihre Zimmer münd«ten. In ihrer Verkleidung durfte sie um so mehr hoffen, im Falle sie von einem Wachtposten ungehalten würde, für eines der im Schlosse bediensteten Mädchen gehalten zu werden, als sie der polnischen Sprache durchaus mächtig war. Lange stand sie ängstlich lauschend hinter der Thüre. um den zur Flucht günstigen Augenblick zu erspähen. Trotz der vorgeschrittenen Nachtstunde herrschte noch das reyeste Leben im ganzen Hause. Drunten im Hofe an den hochlodernden Wachtfeuern sangen die Polen noch unermüdlich ihre fast end losen slawischen Gesänge, mit den ihn«n melancholisch klingenden Weisen. In der Schloßhalle hatten sich ihre An führer zum Nachtmahl versammelt, bei dem es lustig und lärmend herging, so daß das Gelächter der fröhlich Zechenden bis zu Anna Feodorowna heraufschallte. Auch der Wacht posten, der langsamen Schrittes in dem Gange vor ihrer Woh nung auf und ab patrouillirte, schien sich für diese* Vorgänge zu interesstren. Die Manneszucht mochte unter den polnischen Freischärlern niemals eine allzu straffe gewesen sein, und in dieser Nacht schienen sich ihre Bande durch die allgemeine, be geisterte Freude über den gelungenen Handstreich sogar noch mebr als gewöhnlich gelockert zu haben. Anna hörte, wie der Jnsürgenienposten öfter» lange an der vorderen Haupttreppe stehen blieb, sich mit irgend welchen Kameraden im Erdgeschoß laut unterhielt und ihnen zutrank. Sie erkannte, daß sie einen solchen Augenblick zum Ver lassen deS Zimmers benutzen müsse. Sich dem Schutzr des Himmels empfehlend, huschte sie hinaus und eilte leichten Schrittes nach dem zum Glück nur wenig entfernten Ende des Ganges. Bevor der Posten stehende Pole sich zurückwendete, war sie hinter einen Mauervorsprung getreten und vor seinen Blicken fllr's Erste geborgen. Regungslos blieb sie hier stehen. Jetzt kehrt« der Posten um und mit bange klopfendem Herzen hörte Anna Feodorowna ihn langsam den langen Corridor heraufkommen. Immer näher und näher kam er heran. Noch wenige Schotte, und er mußte sie entdecken. Würde er ihrer Aussage Glauben schenken, sie für eines der HauSmädchen halten und sie unbehelligt lassen? — Sie wagte es nicht zu hoffen. Alle Willenskraft mußte sie aufbftten. damit in ihren zitternden Händen daS Eßgeschirr, mit dem sie sich vorsichts halber beladen hatte, nicht klirrte und sie so verrietst. Sie wagte kaum noch zu athmen und hielt sich bereits für verloren, al»' das Geräusch der nahenden Tritte plötzlich verstummte: der Wachtposten war stehen geblieben! Einen Moment noch
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