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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 28.06.1900
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1900-06-28
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19000628017
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1900062801
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1900062801
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1900
- Monat1900-06
- Tag1900-06-28
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Die Morgen-AuSgabe erscheint um '/,? Uhr, die Abend-Ausgabe Wochentags um 5 Uhr. Redaktion und Expedition: Iohanni-gaffe 8. Die Expedition ist Wochentags ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis Abends 7 Uhr. Filialen: Alfred Hahn vorm. v. klemm'» Sorkin». Universitätsstraße 3 (Paulinum), LoniS Lösche, Katharinenstr. 14, »art. und KönigSplatz Bezugs-PreiS K der Haiiptexpedition oder den im Stadt, berirk und den Vororten errichteten AuS- oavrstellen ab geholt: vierteljährlich.^4.50, bet zweimaliger täglicher Zustellung iuS Haus -L b.50. Durch die Post bezogen für x-rutschland und Oesterreich: vierteliäbrlich 6.—. Direkte tüultchr jireuzbandiendung inS Ausland: monatlich 7.50. 323. Morgen-Attsgube. KipMcr TagMatt Anzeiger. Ämlsösatt des Äömgkichen Land- nnd Amtsgerichtes Leipzig, -es Rathes und Notizei-Ämtes der Stadt Leipzig. Donnerstag den 28. Juni 1900. Nnzeigen-PreiS die 6 gespaltene Petitzeile 20 Pfg, Neclamen unter dem Redactioiitstrich (4go- spalten) 50/^, vor den Famtlienuachrich»» (6 gespalten) 40/ij- Größere Schriften laut unserem Preis- verzeichniß. Tabellarischer und Ziffernsatz nach höherem Tarif. Extr«-Beilage» (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbrförderung 60.—, mit Postbesördrruog ^ll 70.—. Annahmeschtuß für Anzeige«: Ab end-Ausgabe: Vormittag» 10 UHL Morgen-Ausgabe: Nachmittag» 4 Uhr. vri den Filialen und Annahmestelle» je eine halbe Stund« frühe». Anzeigen sind stets au die Oxpedtttan zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig 94. Jahrgang. Dte politische Bedeutung der Neise des Schah. V. 8. Mufsaffer-Eddin, der Schah von Persien, hat am 12. April seine lange angekündigte Reise angetreten, um die europäischen Höfe zu besuchen. Diese Reise besitzt insofern be sondere Bedeutung, als der gegenwärtige Schah zum ersten Male seit seiner Thronbesteigung sein Land verläßt, um un mittelbare Beziehungen in Europa anzuknüpfen, und die abend ländische Cultur durch persönliche Anschauung kennen zu lernen. Sein Vorgänger, der staatskluge Nasr-Eddin, hatte vor Jahren die strenge Abgeschlossenheit des Hofes zu Teheran durchbrochen; er erkannte den Werth, den ein directer Verkehr mit aufgeklärten Staatsmännern und Monarchen und die Bekanntschaft mit den im Westen herrschenden Zuständen für sein Reich und Volk haben mußte; er mühte sich redlich, das Neue in Europa in sich aufzunehmen, um seine Unterthanen kulturell zu heben, aber auch, um politische Vortheile zu gewinnen. Es ist bekannt, wie sehr dieser Herrscher bei seinem ersten Besuche durch die an ihm haftenden asiatischen Gepflogenheiten an- und abgestoßen hat; aber wenige Jahre später hatte Nasr-Eddin seine Sitten gemildert und durfte den Anspruch auf Gleichberechtigung erheben. Seine natürliche Verschlagenheit war ihm behilflich, seiner Stellung nach außen Geltung zu verschaffen, und sie zwischen Engländern und Russen, trotz des Uebergewichtes der letzteren, aufrecht zu erhalten. Für Persien war es ein schwerer Schlag, als Nasr- Eddin durch Mörderhand fiel. Mit dem Regierungsantritt Mussaffer-Eddin's haben sich die Verhältnisse bedeutend geändert. Zu den inneren, durch eine grenzenlose Mißwirthschaft hervorgerufenen Schwierigkeiten ist ein erheblicher Rückgang des Ansehens nach außen getreten. Rußland besitzt heute einen derartigen Einfluß, daß der Zar als der eigentliche Herrscher des Landes anzusehen ist. Da aber England hierbei aufs Lebhafteste interessirt ist, so erklärt es sich, wenn man allgemein dem Verlauf der Reise des Schah nicht ohne Spannung entgegensieht. Mufsaffer-Eddin hat lange ge zögert, bevor er sich entschloß, dem Beispiele seines Vorgängers zu folgen und den üblichen Besuch in Europa zu machen. Den äußeren Vorwand bildete sein Wunsch, einerseits eine Cur im französischen Bade Contrexöville zu gebrauchen und andererseits die Pariser Weltausstellung zu sehen. Das ist begreiflich, aber damit erschöpft sich jedenfalls nicht der Zweck der Fahrt. Wir haben es vielmehr mit einer politischen Action zu thun, deren Rückwirkung auf die äußere und die innere Politik Persiens un ausbleiblich ist. Während des Aufenthaltes des Schah in Peters burg, Paris und London wird man sich nicht mit Festlichkeiten zu seinen Ehren begnügen, sondern Verhandlungen führen, in denen die Diplomaten der betheiligten Staaten die verworrene centralasiatische Frage und die Abgrenzung der Machtsphären am Persischen Meere erörtern dürften. Bezeichnender Weise stattet Mufsaffer-Eddin seine erste Visite in Petersburg ab. Das ist nicht wunderbar, wenn man das Abhängigkeitsverhältniß berücksichtigt in dem er zum Zaren steht. Bei der Unbeständigkeit des Charakters des Schah hätte Rußland es niemals zugelaffen, daß der Herrscher, bevor er in Petersburg gewesen, am englischen Hofe seine Auf wartung macht, oder mit Staatsmännern der rivalisirenden Macht conferirt. Darum muß Mussaffer-Eddin zuerst in Europa den Boden des Zarenreiches betreten und nach Beendi gung seiner Cur in Contrexöville nach Petersburg eilen. Was dort verhandelt werden wird, ist nicht schwer zu errathen. Man wird den Abmachungen, die vor Kurzem in Teheran getroffen wurden, eine bindende Form zu geben wissen, so daß der Schah nicht mehr zurück kann. Sowohl das Eisenbahnmonopol, als den Hafen am Persischen Meere, die durch die Anleihe ohnehin gesichert sind, wird man für Rußland endgiltig festlegen. Daneben wird dann die Reform in der persischen Armee, an der bekanntlich russische Jnstructeurc thätig sind, sicherlich zwischen den Tehe raner Würdenträgern und den russischen Diplomaten besprochen werden. In den Petersburger Blättern werden seit Langem neue Forderungen an Persien gestellt, von denen officiell keine Rede war, die aber, wenn man sie nur zum Theil erfüllte, der Machtstellung des Zarenreiches eine abermalige Festigung inner halb Centralasiens geben müßte. Man wünscht u. A., die Kon suln zu vermehren, Russen in Menge ins Land zu ziehen und die persische Armee in vollste Abhängigkeit von der Petersburger Militärverwaltung zu bringen. Wie weit das Alles erreicht werden wird, muß sich bald zeigen; jedenfalls darf man an nehmen, daß Graf Lamsdorf nichts versäumt, um Muffaffer- Eddin die Lust zu nehmen, mit England Verpflichtungen ein zugehen, die die russischen Pläne in Asien stören. Es ist begreiflich, daß man in London den Verlauf der Europarcise des Schah nicht mit sehr freundlichen Augen ansieht. Die Presse verhält sich vorläufig merkwürdig still; die britischen Staatsmänner werden es an Versuchen schwerlich fehlen lassen, Mufsaffer-Eddin und seine Negierung hinsichtlich Rußlands umzustimmen. Aber ein Erfolg ist so gut wie ausgeschlossen. Solange der Kriege in Südafrika währt, können die Engländer nichts versprechen und keinerlei Unterstützung für den Fall in Aussicht stellen, daß Eingriffe der Zarenmacht die Anlehnung an England wünschenswert!; erscheinen läßt. Außerdem haben gerade die asiatischen Fürsten so schlimme Erfahrungen mit Großbritannien gemacht, daß sie nicht ohne Weiteres den Zu sicherungen von London aus trauen. Wir erinnern hierbei an die Kundgebung des Emirs von Afghanistan, der den Engländern vorwarf, nichts als Worte für Freunde und Bundesgenossen in Bereitschaft zu halten. Der zehntägige Aufenthalt Mussaffer-Eddin's am Gestade der Themse wird deshalb der Weltlage kaum ein verändertes Aussehen geben oder die Beziehungen zwischen Rußland und Persien stören. Lord Salisbury und Chamberlain sind ge- nöthigt, die Reise des Schah, die der zarischen Pol'tik zu neuen Erfolgen verhelfen wird, als ein Ereigniß hinzunehmen, gegen das sich gar nichts machen läßt. Der Krieg in Transvaal kommt den Briten theuer zu steh-u. Diese Thatsache t ^it immer deutlicher hervor. Die Wirren in China. Wir haben gestern da« amtliche Telegramm veröffentlicht, nach dem Admiral Seymour umzingelt ist und zugleich eine Privatmeldung wievergegeben, nach welcher die Ver bindung der Truppen mit ihnen ermöglicht worden ist. Wir wiederholen diese letzte Nachricht: * London, 27. Juni. (Privattelegramm.) Eine japanische Privatmeldung auS Taku vom Dienstag Abend, durch «inen Eil- boten deS japanischen Commandeurs überbracht, meldet, daß die Verbindung mit Seymour's Truppen seit Sonntag Abend wieder hergestellt ist, man hoffe bis Montag die Chinesen zu ver treiben und die Vereinigung der beiden Entsatzcorps zu vollziehen. Der Bote behauptet, die Gesandten seien nicht bei Seymour, was für unglaubwürdig gilt. Die letzte Nachricht scheint doch nicht so unglaubwürdig zu sein, denn ein Telegramm deS französischen ConsulS in Shanghsai vom 26. d. MtS. besagt, „daß die Truppen der vereinigten Mächte in Tientsin eingerückt seien. Die fremden Gesandten verließen Peking auf der Nord seite mit chinesischer EScorte; man vermuthet, sie gehen in der Richtung nach Shanhaikwan längs der Großen Mauer. Der Consul fügt hinzu, der Bicekönig von Nanking und der Vicekönig von Shangchitung hätten ihn beauftragt, der fran zösischen Regierung die Versicherung zu übermitteln, daß sie für den Schutz der Missionare und fremden Kaufleute im Nang-tse-Kiang-Gebiet sorgen würden. Ein Telegramm deö ConsulS in Tschifu vom 26. d. Mts. bestätigt gleichfalls den Entsatz von Tientsin und die Abreise derGesandten von Peking." Ferner verzeichnen wir folgende Telegramme: * London, 27. Juni. „Reuter'sBureau" meldet aus Tsingtau: Die protestantische Mission in Weisien ist in der letzten Nacht von den Aufständischen niedergebrannt worden. * Shanghai, 26. Juni. (Meldung des „Rcuter'schen Bureaus".) Das deutsche Kanonenboot „Iltis", welches den Peiho nach Tientsin zu auswärts gefahren ist, meldet, daß große Abthei- lungen von Chinesen sich Tongku nähern und daß ein sofortiger Angriff erwartet werde. * Uokohama, 27. Juni. (Meldung des „Reuter'schen Bureaus".) Nach Berichten aus Söul zeigt sich eine wachsende feindselige Stimmung gegen die Christen in Korea. — Die koreanische Regierung ist nicht gewillt, den Contract betreffend Masampho zu vollziehen, da Rußland wünscht, den Betrag seiner noch schwebenden Forderungen an Korea von dem Preis für die Concession abzu rechnen. — Der Kaiser von Japan hat die Verausgabung von 15 Millionen Ucn zu militärischen Zwecken sanctionirt. * New Vork, 27. Juni. Tie Blätter veröffentlichen ein Telegramm aus Washington, das besagt, General CHassel, der am 1. Juli von San Francisco abgeht, werde bis zum 26. Juli über eine volle mobile Brigade im Tschifu verfügen; Manila werde den Stützpunkt für die Verstärkungen bilden. * Wilhelmshaven, 27. Juli. Heute ist die zur Entsendung nach China bestimmte Batterie Feldartillerie aus Spandau hier ringetroffen. Der Krieg in Südafrika. Von dem ganz ansehnlichen Erfolg der Bo er en, die zwischen Nhenoster und Heilbron einen Convoi Weg nahmen und das Derbyshire-Regiment aufrieben, haben wir gestern schon Mittheilung gemacht. Dieser Sieg der Voeren ist wieder im Rücken Roberts' erfochten worden und in einer Gegcud, von der man immerhin an nehmen konnte, daß sie nun durch die drakonischen Ver fügungen deS Sirdars Kitchener „beruhigt" sei. Die Boeren zeigen überhaupt in letzter Zeit wieder eine größere Rührig keit, und daß der Krieg auch als nicht sobald beendigt in London angesehen wird, beweist die Meldung, daß aus Süd afrika vor Beendigung des Krieges kein Soldat abgegeben werde. Man braucht sie also noch alle. In dieser Beziehung liegt folgende Depesche vor: * Ca-stadt, 27. Juni. Amtlich wird bekannt gemacht, daß keine Truppen vor Beendigung des Krieges Südafrika verlassen. Wahrscheinlich wird dann die Garde-Brigade zuerst abreisen. Der Sieg der Boeren hat übrigens eine andere Folge noch gehabt. Aus Maseru vom 26. d. M. wird gemeldet: Eine Abtheilung Basuto-Arbeiter, die unter englischen Ingenieuren bei Kroonstab arbeiteten, wurden von den Boeren angegriffen. Sie verloren 20 Todte und Verwundete, 200 wurden gefangen. Dieser Vorfall ereignete sich gleich zeitig mit dem Unglück, daS das Derbyshire-Regiment betraf, wobei die Eingeborenen zugegen waren, die nun glauben, daß die Boeren die Engländer zurück treiben. Der Untercommissar in Ladybrand ist nach Maseru zurückgerufen worden, da, wie verlautet, der Boerenführer Olivier mit einem Commando, von Süden kommend, die Reihen der Briten durchbrochen hat. Da man die Boeren nicht mürbe machen kann, so versucht man das mit ihren Freunden: * Kapstadt, 27. Juni. („Reuter's Bureau.") Die Mitglieder der gesetzgebenden Versammlung Botha und Sauer sind unter der Anklage des Hochverraths verhaftet worden. Botha hatte die holländischen Districte der Capcolonie bereist. Etwas mystisch berichtet ein Telegramm auS Amsterdam: * Amsterdam, 27. Juni. Die Niederländisch-Südafrikanische Eisenbahngesellschaft erhielt eine Depesche von dem niederländischen Generalconsul in Capstadt, die besagt: Ein höherer Osficier, der mit dem Transportwesen beaustragt ist, erhielt Befehl, Maßregeln zu treffen, 1300 männliche Passa giere mit 1700 Familien mitgliedern von East London weiter zu schaffen. Der Consul in East London telegraphirt: Die Militärbehörden dieser Stadt haben noch keine Nachricht, wann die ermähnten Personen in East London eintreffen. Die Behörden in East London treffen Vorkehrungen für den Unterhalt der betreffenden Passagiere während ihres Aufenthalts in East London. » Was es mit diesen Familien auf sich hat, wird sich bald zeigen. Deutsches Reich« --- Berlin, 27. Juni. („Die neutralen" Gewerk schaften.) Ein Rückblick auf die verflossene Reichstagssession, die das Organ der Generalcommission der Gewerkschaften Deutschlands soeben veröffentlicht, liefert einen beachtens- werthen Beitrag zur Beurtheilung der „Neutralität" dieser Gewerkschaften. Jener Rückblick zeigt nämlich wieder einmal, daß daS Gewerkschaftsorgan den Stanvpunct der Socialdemokratie nicht nur in socialpolitischen Fragen, sondern durchweg theilt. Ganz wie von der socialdemokratischen Presse wird geflissentlich vor Allem der Werth der Reform des JnvaliditätS- und des Unsa llversicherungSgesetze» herabgesetzt: „Die beiden VersicherungSnovellen . ., von der Negierungspresse als sociale Thaten ersten Ranges beweihräuchert, sind in Wahrheit nichts Besseres als magere Abschlagszahlungen auf mehrfach in Er innerung gebrachte Schuldversprechen, und daß sie nicht noch magerer aussiele», ist sicher nicht daS Werk der Regie rung, die sich auch nicht gegen einen einzigen der reform feindlichen Verschlechterungranträge stemmte, dagegen bei jedem socialvemokratischen VerbesferungSaotrag daS ganze Gesetz in Frage stellte... Es waren ja nur Gesetz« für die Arbeiter, für welche die Parole lautet: So wenig, al- möglich! So zwingt sie die Arbeiterclasse, die Reform propaganda von Neuem aufzuuehmen, noch ehe die Gesetz novellen in Kraft getreten sind." — Um den Eindruck dieser „vernichtenden" Kritik zu verstärken, fügt das Gewerkschaftsorgan hinzu, daß wegen der „Verböserungen" der Unsallversicherungsncvelle „sich selbst unsere Arbeiter vertreter im Reichstage geuöthigt saben, dagegen zu stimmen". — In Wirklichkeit haben die Socialdemokraten deS Reichstages schließlich ebenso für die Reform der Unfallversicherung gestimmt, wie vorher für die der JnvaliditätLversicherung! Die übrige positive Reichstags arbeit, mit Ausnahme der Novellen zu dem Post-, dem Bank- und dem Münzgesctze, erhält von dem Gewerkschaftsorgan das Prädicat „arbeiterfeindlich". Zumal die Militärvor lage von 1808 und die Flottenvorlage „nehmen der Arbeiterclasse zehnfach, was eine dürftige Reformgesetz gebung ihnen widerwillig gewährte". Somit gelangt das Gewerkschaftsorgan zu folgendem Schluffe: „Da her kann von Dank und Anerkennung feiten» der Arbeiter der Regierung und den Mehrheitsparteien gegenüber keine Rede sein. Das Facit der Reichstagssession für die gesammte Arbeiterschaft ist: Erneuter Kampf gegen jede Unterdrückung und Gefährdung ihrer Lebenshaltung und Kampf ohne Unterlaß für wirksame Reformen auf allen wirthschaftlichen und socialen Gebieten. Ein erfolgreicher Kampf kann aber nur auf der Basis starker Organisation sowohl in wirthschaftlicher als auch andererseits in poli tischer Hinsicht geführt werden". — An welche Partei das Gewerkschaftsorgan bei der Empfehlung politischer Organisation denkt, darüber hat eS sich in seiner vorletzt«» Frnttleton. Ich gewöhne mir das Rauchen ab. Skizze von Smil Gaudlitz. , Nachdruck vcrbokn. Diesmal steht es fest, fest wie der Erd« Grund: ich gewöhne mir das Rauchen ab. . . . Volle zwanzig Jahre ist es her, seit mich der Teufel Nicotin mit seinen Krallen packte; unzählige Male schon nahm ich mir vor, seine Umarmung abzuschütteln, aber immer wieder bethörte mich der Duft der Havanna, der meine Vorsätze in süßem Rausch entschlummern ließ, immer wieder wiegten mich die blauen Wölkchen in sündhafte, Alles vergessende Wohligkeit «in. . . . Nun aber ist es vorbei mit dieser verruchten Schwachheit, endgiltig vorbei! Di« Aerzte sagen, der Tabak schwäche das Auge und das Gedächtniß, irritire das Herz und verkürz« di« Lebensdauer. Grund genug, solch zweifelhaftem Einmiethrr Wohnung und Freundschaft zu kündigen. Es kann ja auch gar nicht so schwer sein, dem Tyrannen zu entrinnen! D«r Glaub« verseht Berge. ab«r der Will« stürzt Welten um, wenn «» sein muß. Also rin bischen fester Will« — daS ist Alles, wa» noth thut. Ein philosophisch veranlagter Bekannter, mit dem ich über die Sache mich unterhielt, lächelte skeptisch und meinte: „Äieb Dir keine Mühe. Irgend eine Eselei braucht der Mensch zum Loben. Bei den Frauen ist «S die Mode und ihr ewig«! Wechsel, bei unS Männern das Gift: der Alkohol und der Tabak. Und wo man beides nicht kennt, hat man den Haschisch, daS Opium, die Coca od«r sonst etwas. Es scheint die Bestimmung de» Menschen zu sein, daß er etwas thut, waS ihm zeitweilig einen Vorgeschmack vom Nirwana verschafft. Wenn Dir ein ge liebter Weid untreu wird, Du verwindest eS; wenn ein Sturm wind alle Bierbrauereien und SchnapSbrennerrien der Welt vom Erboden wogfegt, wirst Du Deinen Durst ohn« groß« Schmerzen an der Wasserleitung stillen; aber den Labak, mein Lieber, den Tabak wirst Du nicht los, sobald Du einmal das warst, was man einen leidenschaftlichen Raucher nennt." „Nun, wir werden ja sehen! Ich hoffe dennoch, daß ich aus mir einen leidenschaftlichen Nichtraucher machen werde." Mit zärtlicher, bedächtiger Innigkeit schmauche ich an meiner Cigarre; es wird die letzte sein, deren Rauch meinen Zähnen entquillt. So etwas, wie wehmüthige Abschiedsstimmung, über kommt mich; aber st« wird übertönt von der Stimme des Stolzes, die mein Inneres erfüllt, des Stolzes über mein eignes Heldenthum. Wie sagten doch die Alten? Der schönste Sieg ist der Sieg über dich selbst! Ich rechne mir auS, welchen Gewinn ich aus meiner künftigen Enthaltsamkeit ziehen werde. Täglich mindestens fünfzig Pfennige Ersparnis daS macht im Monat fünfzehn, im Jahre hundertundachtzig Mark, vielleicht auch mehr. Nicht, daß ich nur zum Harpagon mich ausbilden und da» G«ld auf die Bank tragen werd« — o nein. Aber welch herrlich« Bibliothek kann ich mir für di«s« hundertundachtzig Mark jährlich anschaffen, und welchen Genuß werden mir diese Bücher gewähren! Mein Augenlicht wird nicht mehr, wie sonst, beim Lesen durch beißen den Rauch getrübt werden; mein Gedächtniß wird frisch bleiben, so lange ich lebe, und alle» da» aufnehmen, wa» in den Büchern Große» und Gute» enthalten ist. Während dieser Erwägungen ist mein« Cigarre bis auf den letzten kleinen Stummel verglommen. Feierlich lege ich ihn weg, feierlich klopfe ich den Aschenbecher au» — e» ist vollendet. Ich habe mit der Dame Nicotia gebrochen für immer. E» ist Sonn- tag Abend und der Letzte im Monat. Mit der neuen Woche, dem neuen Monat wird auch «in neue» Leben für mich be- ginnen. . Am Montag Morgen, nach dem Kaffee, greife ich mechanisch nach meinem Cigarrenkasten: er ist leer. Mittag» und Abend» wiederholt sich das nämliche Schauspiel, und immer ist der Kasten leer. Ich schelte mich, ob meiner Gedankenlosigkeit. Schließlich lache ich mich selbst au» und denke: „Alter Junge, so werden wir dich schon kriegen!" Mit dem Bewußtsein, dem Drachen in der «igenen Brust einen Streich gespielt zu haben, lege ich mich schlafen. Am Dienstag befinde ich mich in einer ganz merkwürdigen Stimmung: ich vermisse beständig etwas. Förmlich plan- und ziellos irren mein Auge und mein« Hand umher; ich schaue in Ecken und Winkel, wo ich nichts zu suchen habe, und taste auf Stellen herum, wo nichts ist. Sollte es wahr sein, daß Cigarre und Pfeife die Gedanken zu sammeln, auf einen Punct zu bannen vermögen? Während der folgenden Tage gerathe ich in einen Zustand, der mir fast bedenklich erscheinen will. Gaumen und Hals sind mir trocken, in den Zähnen habe ich ein Gefühl, als müsse ich fortwährend auf ein unbestimmtes Etwas beißen. Ich schaue in den Spiegel und komme mir blaß und zusammengeschrumpft vor. Im Magen eine eigersihiimliche Empfindung, wie von schlecht verdauten Mahlzeiten. ... In meiner Wohnung fahre ich umher, wie eine Hornisse im gläsernen Gefängniß. Was ich früher nicht bemerkte oder wohlwollend ignorirte, sehe ich jetzt in unheimlicher Schärfe und Klarheit: alle die kleinen Mängel und Unzulänglichkeiten, die von einer größeren HauSwirthschaft sozusagen unzertrennlich sind. Ich rege mich über das Schnitzel Papier auf, das <rm Boden liegt, ich wische nervös über die Möbel, auf denen ein Körnchen Staub geblieben ist, ich finde, daß Dies und Jene» nicht an seinem richtigen Platze ist. Alles daS ließ mich sonst, wo ich in friedlichem Sinnen meinen Rauch ringen vom Kanapee aus nachschaute, völlig kalt. Ich bin so empfindlich, wie jenes Kind, das da eines TageS auSrief: „Mutter, dir albern« Fliege guckt mich immer so an!" Ich befinde mich in einem Stadium der Reizbarkeit, daß ich bei dem geringsten Anlaß explodire, wie ein Pulverfaß. Ich nörgle, quengle, tadle, chikanire, daß daS ganze HauS vor mir auf der Flucht ist. . . . „Aber, um GotteSwillen, WaS hast Du nur, Männe!" frägt meine Frau, deren unendlich langer Ge duldsfaden zu reißen beginnt. „Himmeldonnerwetter, krank bin ich, krank!" schreie ich, daß die Fensterscheiben klirren, und be denke dabei nicht, daß Kranke in der Regel nicht wie die Löwen brüllen. . . . Und doch bin ich wirklich krank. Mir ist so elend zu Muthe, al» wäre ich besser nie geboren worden. Der herrliche Bierdurfl, dessen ich mich zuweilen erfreute, will sich nicht mehr einstellen; die angenehme träumerische Schläfrigkeit, die mich nach dem Mittagessen nebst obligater Cigarre regelmäßig befiel, bleibt aus. Dafür giebt ein ganz niederträchtiger Zahnschmerz sein»'. Visitenkarte ab. Grantigkeit und Grillenfängerei haben einen höchst ungemüthlichen Gesellen aus mir gemacht — meine Be liebtheit als „guter Papa" ist bedenklich im Schwinden begriffen. Wie! sollte der Mensch wirklich des Giftes bedürfen, damit er für seine „Mitreisenden zum Grabe" genießbar bleibt? Am Sonntag besucht mich «in Freund, der stets des Lobe» meiner Cigarren voll war, weil «r nirgends so billig rauchte, al» bei mir. Etwas verlegen entschuldige ich mich, daß ich ihm kein«n Glimmstengel anbieten kann. Er lächelt einigermaßen ungläubig: „Du rauchst wohl gar nicht mehr?" „Seit acht Tagen schon", erwidere ich und werfe mich in di». Brust. „Nanu!" sagt er und blickt mich an, als zweifle er an meiner geistigen Verfassung. „WaS ist denn in Dich gefahren?" „Ich will mir das Laster abgewöhnen. Erstens ruinirt es die Augen, zweitens das Gedächtniß und dritten» das Her^." Mein Freund macht ein Gesicht so lang wie der JohannisL tag. „Wie lange rauchst Du schon?" „Seit zwanzig Jahren." „Trägst Du Brille beim Arbeiten?" „Nein, ich sehe noch ausgezeichnet." „Und wie viel Sprachen sprichst Du? Sechs, nicht wahr?" „ES sind ziemlich sieben." , „Und wie hast Du Dich in den acht Tagen ohne Cigarre» befunden?" „Offen gestanden: scheußlich", antworte ich kleinlaut. Eine Pause entsteht, während welcher mein Freund in die Brusttasche greift, sein Cigarrenetui hervorzieht und e» mir vor die Nase hält. „Jetzt sei mal vernünftig", sagt er, und steck' Dir eine zur Feier deS TageS ins Gesicht. Mit der Bibliothek für hundrrtundachtzig Mark jährlich wird e» doch wohl etwa» langsamer vorang«h«n, al» ich dachte
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