01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 05.06.1901
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1901-06-05
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19010605018
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1901060501
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1901060501
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1901
- Monat1901-06
- Tag1901-06-05
- Monat1901-06
- Jahr1901
-
-
-
4064
-
4065
-
4066
-
4067
-
4068
-
4069
-
4070
-
4071
-
4072
-
4073
-
4074
-
4075
-
4076
-
4077
-
4078
-
4079
-
4080
- Links
-
Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
Bezugs «Preis k ber Hauptexpedition oder den im Stadt bezirk und den Vororten errichteten Aus gabestellen abgeholt: vierteljährlich >8 4.50, ort zweimaliger täglicher Zustellung i^r Han- 5.50. Durch die Host bezogen für Deutschland u. Oesterreich: vierteljährl. 6. Man abonnirt ferner mit entsprechendem Postaufschlag bei den Postanstalten in der Schweiz, Italien, Belgien, Holland, Luxem burg, Dänemark, Schweden und Norwegen, Rußland, den Doaaustaaten, der Europäischen Türkei, Egypten. Für alle übrigen Staate» ist der Bezug nur unter Kreuzband durch die Expedition dieses Blatte- möglich. Die Morgen-Ausgabe erscheint um '/,? Uhr, die Abtnd-AuSgabe Wochentag- um 5 Uhr. Redariion und Expedition: Johannisgasse 8. Filialen: Alfred Hahn vorm. O. Klemm'- Sortim. UniversitätSstraß« 3 (Panlinum), Louis Lösche, Katharinenstr. 14, purt. und König-Platz 7. Morgen-Ausgabe. WMer TaMaü Anzekgen.Prei- die 6 gespaltene Petitzeile 25 Reklamen unter dem RedacnonSstrich (-gespalten) 75 H, vor den Familirnnach- richteu («gespalten) 50 H. Tabellarischer und Ziffernsatz entsprechend höher. — Gebühren für Nachweisungen und Offertenannahme L5 H (excl. Porto). Erkra-Beilagen (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbrsörderuag 60.—, mit Postbrsürderung 70.—. Annahmeschluß für Anzeigen: Anzeiger. ÄmLMatt des Hönigkichen Land- und Ämlsgerichtes Leipzig, des Mathes und Mottzei-Ämtes -er Ltadt Leipzig. Ab end-Ausgabe: Lormsttag- 10 Uhr. Morg»»-AuSgab«: Nachmittags 4 Uhr. Bet de» Filiale» und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeige» sind stet- an di« Expedition zu richte». Die Expedition ist Wochentag- ununterbrochen geöffnet von früh 8 bi- Abend- 7 Uhr. Druck und Verlag von E. Pol- t» Leipzig. Mittwoch den 5. Juni 1901. 8s. Jahrgang. Altramontane Moral. ii. lieber die geheime Schadloshaltung (occulta compensatio) durch die Dienstboten lehrt Liguori, der „Fürst der katholischen Moraltheologie": Dienstboten, die durch die Noth gezwungen, sich zur Annahme eines zu geringen Lohnes verstanden haben, tonnen ihrer Herrschaft heimlich etwas weg nehmen. Ebenso wenn sie von ihren Herren gezwungen wer den, mehr alS die vertragsmäßige Arbeit zu liefern. An einer anderen Stelle wirft Liguori die Frage auf, ob, wer den Titus tödten wollte, durch ein Versehen aber den Cajus zetödtet habe, oder wer das Haus des Titus in Brand stecken wollte, irrthümlich aber das Haus des Cajus in Brand gesteckt habe, zum Schadenersatz verpflichtet sei? „Buftnbaum mit der gewöhnlichen Ansicht bejaht die Frage, andere große Theo logen verneinen sie, denn die Pflicht des Schadenersatzes erwächst nur aus dem formellen Unrecht, nicht aus dem bloß materiellen, wie es hier gegen Cajus begangen wurde." Bist Du zum Schadenersatz verpflichtet, wenn ein Todtschlag, den Du begangen hast, einem Andern zugeschrieben wird? Lessius antwortet, daß Du zu nichts verpflichtet bist, wenn Du den Schaden, der dem Anderen erwächst, nicht vorausgesehen hast. Probabler aber ist die Ansicht, daß Du auch in diesem Falle nicht zum Schadenersatz verpflichtet bist, denn der Schaden ent steht dem Anderen nicht aus Deiner Handlung an sich, sondern aus dem irrigen Urtheil der Anderen. Selbst wenn Du beabsich tigt haben solltest, daß der Todtschlag dem Anderen zur Last ge legt würde, so bist Du nach der probableren Ansicht nicht ersatz pflichtig. Wer in plötzlichem Zorn einen Andern getödtet hat, ist zu keinem Schadenersatz verpflichtet, weil solch ein Todschlag keine Tod-, sondern nur eine läßliche Sünde ist, läßliche Sünden aber keine Schadenersatzpflichten nach sich ziehen. Wer einen Anderen gefordert und im Duell getödtet hat, ist den Hinterbliebenen gegen über zu nichts verpflichtet. Jsteserlaubt.dieBegehungeinesklcineren Nebels anzurathen, um ein größeres zu ver hindern? Die erste Ansicht verneint, die zweite probablere bejaht es, wenn Jemand entschlossen sei, das größere Unrecht zu begehen. Denn dann wird nicht das Böse, sondern das Gute, nämlich das geringere Uebel, angerathen. So kann man Je mandem, der morden will, anrathen, statt dessen lieber Unzucht zu treiben! Solchen Rath dürfen auch Beichtväter und Eltern geben, die don Amts ¬ wegen ihre Untergebenen vor der Sünde bewahren sollen. Vätern oder Dienstherren ist es erlaubt, ihren Kindern oder Dienstboten die Gelegenheit zum Stehlen zu belassen, damit sie ertappt und dann gebessert werden. Probabel ist die Ansicht, daß es nicht erlaubt sei, solche Gelegenheiten mit Absicht herbeizu führen, doch ist auch die gegentheilige Ansicht probabel, und so ist es einem Ehemann« erlaubt, seiner Frau die Gelegenheit zur Untreu« zu verschaffen, um sie zu ertappen. Denn dann verleitet er nicht zur Sünde, sondern er läßt die Sünde des Andern nur zu, um den ihm bevorstehenden Schaden abzuwenden. Verstör bene zuverfluchen ist keine Todsünde, denn eine solche Verwünschung enthält in keiner Weise eine Beleidigung gegen die Seelen im Fegefeuer, weil das Wort „die Verstorbenen" an und für sich nichts Anderes bedeutet, als die Leichname oder höchstens di« verstorbenen Menschen, die allerdings selig sein können, wahrscheinlich aber verdammt sind, nach der gewöhnlichen Ansicht, daß der größere Theil der Christen ver dammt wird. Kann Jemand communiciren, der nach dem ersten, aber noch vor dem letzten Schlage der Mitternacht Speise zu sich ge nommen hat? Einige bejahen es, weil erst mit dem letzten Schlage Mitternacht eintritt. Richtiger aber ist es, die Frage zu verneinen, da schon beim ersten Schlage Mitternacht ein getreten ist, was mich ein sehr guter Uhrmacher versichert hat, (Also schließlich entscheiden über das Vorhandensein von Tod sünden, d. h. über den Verlust der ewigen Seligkeit, die — Uhrmacher, fügt HoenSbroech hir^u.) Nach der probabelsten und gewöhnlichsten Ansicht ist es er laubt, den Dieb einer sehr werthvollen Sache zu tödten. Welchen Werth muß die Sach« haben, um ihren Stehler tödten zu dürfen? Im Durchschnitt muß sie mindestens 40 Ducaten Werth sein. Darf ich den Dieb einer kostbaren Sach« tödten, auch wenn er sie schon bei sich in Sicherheit gebracht hat und ich sie von ihm wieder erlangen will? Ja, auch Geistlicheund Ordensleute dürfen in einem solchen Falle «inen Dieb tödten. An den pornographischen Tollheiten Liguori's eilen wir vorüber und lassen ihn weiter fragen: Genügt ein Schul d n e r seiner Ersatzpflicht, wenn er, seiner Schuld uneingedsnk, seinem Gläubiger ein Geschenk macht? Er antwortet: Die erste Ansicht, welche die gewöhnlich« und sehr probabel ist, verneint es, die zweite bejahend« Antwort entbehrt aber auch nicht der Proba- vilität. Wer einen Vertrag abschlkßt unter den äußeren Zeichen des Vertrags, aber mit dem innerlichen Willen, nicht abzuschließrn, ist im Gewissen nicht an den Vertrag gebunden, außer der andere Theil hätte seine Verpflichtung schon erfüllt. Darf Jemand, der an «inem verbotenen Spiele mit dem Vorsatz theilnimmt, seine Verluste gerichtlich zurückzu fordern, den Gewinn behalten? Nach der probateren Ansicht, ja. Kann ein Bräutigam, der eine reiche Erbschaft macht, wo durch er reicher wird, als seine Braut, die Verlobung aufheben? Busenbaum und viele Andere verneinen eS, Andere bejahen «s. Lacroix sagt, es dürst Jemand nicht deshalb sein« Braut verlaflen, w«il sich ihm Gelegenheit biete, «in viel reicheres Mädchen zu heirathen. Wenn jedoch das zweite Mädchen in sehr viel besseren Vermögensoerhältnisstn ist, möchte ich (Liguori) den Bräutigam nicht verurtheilen, wenn er diese statt der ersteren heirathet. Denn wie die Theologen lehren, ver pflichtet ein Verlöbniß nur, wenn die Verhältnisse di« gleichen bleiben. Doch brechen wir hier ab. Zur Charakterisirung dieser Art Moral bedarf es unter Nicht-Katholiken keines Wortes. Nur so viel sei bemerkt, daß sie vermöge ihrer fast überall zu Tage tretenden Zweideutigkeit den Ausschlag in jedem einzelnen Falle schließlich dem Beichtvater in die Hände legt, die Entscheidung über Seligkeit oder Verdammniß also von dessen Einsicht, Wohl oder Ue-belwoll-en und von allen möglichen Rücksichten abhängig macht. Von Benedikt XIV., dem Zeitgenossen Liguori's, an, bis zu Leo XIII. zieht sich die Kette römischer Entscheidungen, Breven und Bullen durch die Kirchen- und Zeitgeschichte hin, welche die ultramontane Welt an die Liguori'sche Moral fesseln soll. Die „Statthalter Christi", sagt Hoensbroech, die „gottbestellten Hüter des christlichen Sittengesetzes" haben in der „Moral" Liguori's der Unmoral ihren oberhirtlichen Stempel aufgedrückt. Einer erklärt oder läßt erklären, daß in Liguori's Schriften „nichts Tadelnswerthes" sei, ein Anderer, daß sic „das stärkste Bollwerk gegen alles Schlechte" bildeten, ein Dritter, daß die Professoren der Moraltheologie „alle in den Schriftwerken Liguori's ent haltenen Ansichten mit ruhigem Gewissen lehren können" und „daß jeder Beichtvater die von ihm gegebenen Entscheidungen praktisch verwerthen darf, auch wenn er von ihrer inneren Be rechtigung nicht überzeugt ist". In «inem Schreiben Äco's XIII. vom 28. August 1879 noch heißt es, daß „Liguori's Moral theologie den Beichtvätern eine ganz sichere Richtschnur darbietet". Indem sie so lehren, haben also die Päpste Liguori's Moral theologie zu ihrer eigenen gemacht. Als Pius IX. am 7. Juli 1871 Liguori zum „Kirchenlehrer" erhob, verkünvcte ec als Träger des Papstthums der katholischen Christenheit: „Christus der Herr, der verheißen hat, er werde seine Kirche nie verlassen, erweckt, wenn er sieht, daß es seiner unbefleckten Braut zum Vortheil gereicht, Männer von aus gezeichneter Frömmigkeit und Gerechtigkeit, damit sie, vom Geiste der Einsicht erfüllt, die Aussprüche ihrer Weisheit wie Regen schauer strömen lassen. Es ist nicht ohne den weisen Rathschlag Gottes geschehen, daß ... der heil. Alfons aufstand ... Er hat sehr viele Bücher voll heiliger Gelehrsamkeit und Frömmigkeit geschrieben, um durch die verwickelten laxen oder strengen Mei nungen den Theologen einen sicheren Weg zu bahnen und die Geist lichkeit zu unterrichten. Darum wollen wir kraft unserer aposto lischen Autorität dem heil. Alfons Maria von Liguori den Titel eines Kirchenlehrers zuerkennen. Außerdem wollen und ver ordnen wir, daß alle Bücher, Commentare, Werke, kurz sämmt- liche Schriften dieses Lehrers gleich denen d«r anderen Kirchen lehrer, nicht nur privatim, sondern auch öffentlich in Gymnasien, Akademien, Schulen, Collegien, Vorlesungen, Disputationen, Predigten, Vorträgen und bei allen anderen kirchlichen Studien und christlichen Hebungen angeführt und nach Bedarf verwendet werden sollen." Den Bischöfen sind dadurch die Hände gegenüber dem Werke Liguori's gebunven. Aber die Staatsgewalt begeht eine Unter- lasiungssünde, die sich bitter rächen muß, wenn sie die Ver breitung des Werkes duldet. Um es zu verbieten, bedarf es keines besonderen Gesetzes. Gerade die Stellen, die wir zu citiren uns scheuen, machen den § 184 des Straf-Gesetz-Buches auf das Werk anwendbar. —r — Die Wirren in China. Waldrrsee'S Abreise verschöbe». Wolfs'S Telegrapben-Bureau berichtet auS Tientsin vom 4. Juni: Wegen der Untersuchung über den gemeldeten Vor fall in der Taku-Straße hat Feldmarschall Graf Waldersee seine Abreise von hier verschoben. * London, 4. Juni. (Telegramm.) Der „Standard" schreibt: So bedauernswerth die letzte Ruhestörung in Tientsin ist, so kann sie doch dazu dienen, Europa daran zu erinnern, wie sehr es dem ausgezeichneten alten Soldaten verpflichtet ist, dem eS aller furcht baren Schwierigkeiten zum Trotze gelang, die vorhandene Reibung auf das Mindestmaß zu verringern. Der Bericht von den guten Diensten eines deutschen OfficierS, der durch sein rasches Einschreiten die Ruhe störung beendete, liest sich wie ein Gleichniß von einem dem Feld marschall geleisteten Dienste. Es spricht sehr für die Geschicklichkeit und den Einfluß des FeldmarschallS Gras Waldersee, daß wir am Ende einer langdauerndrn Besetzung Friedensstörungen noch als Ausnahme von der herrschenden Regel der Eintracht und Nachsicht betrachten können. Wir dürfen auch unserer Anerkennung des Werthes der deutschen Hegemonie in Petschili noch eine weitere Ausdehnung geben. Ein oder zweimal haben Einflüsse einer politischen Jntrigue zu so gespannten und so kritischen Beziehungen geführt, daß eine außerordentliche Ausübung der ruhestiftenden Autorität des Grasen Waldersee vonnöthen war, um einen ernst lichen Bruch abzuwenden. Ueberhaupt gelang «S ihm, seine College» zusammenzuhalten. Diejenigen, die unter seinem Vorsitze Berathungen abhielteu, lernten einander achten; in vielen Fällen führte die Eintracht zu herzlicher Freundschaft. Ein Missionar aus -em Innern ThantungS über die -roßenden wefahrcn. Aus Shanghai schreibt man uns End« April: Aus dem Innern der Provinz Shantung, der Gegend in der Umgegend des Kaisercanals, erhielt Ihr Corre- spondent in den letzten Tagen «in Lebenszeichen von den vor lebenden Missionaren. Diese sind seit einigen Wochen wieder auf ihre Plätze zurückgekehrt und haben ihre alt« Thätigkeil wieder ausgenommen. „Die Ereignisse des letzten Jahres", so heißt es in 'dem Briefe, „sind keineswegs spurlos an der Bevöl kerung vorübergegangen. Ganz besonders sind «s im Innern Shantungs die Deutschen, Russen und Japaner, von Venen ge sprochen wird; merkwürdiger Weis« werden dagegen die Ameri kaner, die doch in der ganzen Provinz durch zahlreiche Missionare vertreten sind, und die Engländer weniger viel genannt, und jedenfalls als erheblich unbedeutender behandelt. Aber man würde einen schweren Jrrthum begehen, wenn man daraus nun etwa den Schluß ziehen wollte, die Chinesen «rkennten di« frem den Völker als gleichberechtigt an; das ist keineswegs «der Fall. Die Beamten sind geschmeidig und unterwürfig. Die Ereignisse von Tung-chang-f-u (dort hatten Boxer Anfang März den an erkannt srcmdenfreunvlichen Mandarin ermordet, waren dafür aber vom Gouverneur in härtester Weise bestraft worden) haben gezeigt, wessen sie sich zu versehen haben, wenn sie nicht Ruhe halten und «twa gar gegen die Jr«mv«n selbst sich auflehnen würden. Aber Haß und Ueberhebung sind nur zurückgedämmt, nicht er loschen. Ueberall werden im Lande jene Bilderbogen ver trieben, di« die siegreichen Gefechte der chinesischen Heerführer g«gen die Barbaren verherrlichen, und das Volk glaubt nach wie vor an die Unbesieglichkeit der gelben Rasse. Di« Rücksichten, die man heute auf die Ausländer nimmt, hält es für ein -übergroßes Wohlwollen des Kaisers gegen die rebellischen Vasallen, die er mit «iner für die großen Massen fast unverständlichen Milde und Gnade be- Fenilletsn. Die letzte Fahrt -es Drumond-Castle. Zwei Stücklein Lebenswahrheit vonKarlRode. Nachdruck verdoteu. Stolz und kühn strich der „Drumond-Castle" durch die Wogen des Atlantischen Oceans. An seinem Bord herrschte frohes Treiben. Das Promenadendeck der zweiten Cajüte war zu ein«m Concertsaal umgewandelt worden, in welchem zu den Klängen «irres verstimmten Pianos Gesangsoorträge mit Dekla mationen abwechseltrn. U«lxr dem Schiff« wölbte sich der stern- besäete Abendhimmel der südlichen Grade unserer nördlichen Hemisphäre, und unten «rstrahlte di« See in jenem Zauberlichte, das rhr die Myriaden phosphorescirend«r Quallen verleihen, welche das Schiff an die Oberfläche treibt. Der „Drumond-Castle" war auf der Heimreise begriffen, er kam vom Cap der guten Hoffnung, um nach Southampton zu gehen. An der Backbordbrüstiqig der «rsten Cajüte lehnt« ein hoch gewachsener H«rr in vornehmer Haltung und schaute über die weit« 'See hinaus. Von dem Singsang in der zweiten Cajüte hörte er nichts; um so mehr von jenem Singen und Klingen, das aus den Werken 'Gottes in unsere Seele tönt, wo immer wir zu hören bereit sind. Unter diesem Singen und Klingen erschauerte sein Körper bis in das Herz hinein, und aus seinen Augen tropf ten Thränen heiß und bitter in die See hinab. Ein schwarzer Diener trat an den Mann heran, demüthig, bescheiden: „Baas, soll Ben dem Baas das Tuch umhängen?" „Ich danke Dir, Ben!" Der Herr wandte sich langsam nach dem Kaffer um. „Gehe hinüber, dorthin, wo gesungen wird, das wird Dir Freud« machen. Ich brauche Dich heute nicht mehr." Der Kaffer trat zurück, unhörbar fast; aber nicht um dorthin zu gehen, wo gesungen wurde, sondern nach d«m Steu«rhäuschen, um sofort bei der Hand zu sein, falls sein Herr seiner Dienste Loch noch begehren würde. Der „Baas" dagegen wandt« sich der See wieder zu. Fünfzehn Jahre waren es her, da befand «r sich gleichfalls am Bord des „Drumond-Castle", aber nicht auf der Heimreise als Passagier der «rsten Cajüte, sondern — «in schuld- und fluch beladener Bube — als Kohlentrimmer im Bunker unten auf der Flucht vor dem strafenden Arm des Richters, vor dem zermal menden Zorn eines braven Vaters, und vor den Kummerthränen «iner nur allzu gütigen Mutter. Als Primus des Gymnasiums seiner Vaterstadt hatte er sich mit s«in«n Commilitonen zu wüsten Gelagen zusammeng«fund«n. Er, der auSersehen gewesen, ihnen ein Vorbild zu sein im Guten, hatte sie zu Trunk und Spiel verleitet; er war ihr Anführer bei lärmenden Austritten in >den Straßen, ihr Haupt bei bewaffnetem Widerstand« gegen di« «inschreitenden Beamten geworden. Ent setzliches Elend hatte er über viele seiner Mitschüler, bitteres Herzeleid über deren Eltern gebracht, und den eigenen Eltern hatte er nicht allein daß Herz gebrochen; er hatte auch den Vater entehrt, indem er di« demselben anvrrtraute Casse bestahl und mit dem V«ld« di« Flucht ergriff. Relegation und Steckbrief folgten. Natürlich! Da war nach wochenlangem Ilmherirren sein letztes Asyl der Kohlenbunker des „Drumond-Castle" geworden. In den Kohlenkellern des englischen Schiffes suchte kein Mensch den releglrten -deutschen Schüler, und mit diesem Schiffe kam er am «heften fort, weit fort. Das war die Hauptsache für ihn, der Taumel der Schuld. Dann kam das allmählich« Erwachen. Ach, waren das unbarmherzige Prügel von seinen Neben arbeitern, denen «r es mit seinen ungestählten -Gliedern in der schweren Arbeit des Kohlenschlcppens nicht gleich zu thun ver mochte, als sie für ihn Mitarbeiten sollten, wenn seine Kräfte nachließen?! Und dann die Fußtritte und Nackenschlage von Seiten des Quartrrmasters, mit denen man ihn, in der Capstadt angelangt, vom „Drumond-Castl«" fortjagte, — ihn, den Un tauglichen, entblößt von Allem. Der Hunger dann als zweites Stadium des Erwachens! Er thut weh, wenn man jung ist. Und daS Betteln ist so schwer, so schwer, daß mancher lieber verhungert, als den Hut zieht. Aber Noth lehrt beten! Beten und betteln! Der flüchtige Schüler lernte beides. Aber er lernte es doch erst recht eigentlich, als er in das dritte Stadium des Erwachens aus dem Taumel der Schuld eintrat, als eine mondenlange Krankheit ihn auf das Mitleid Anderer vollständig anwies. Da lernet er sogar um den Tod beten, zuerst! und als der nicht kommen wollte, um Ge nesung, um ein recht langes Leben, damit er büßen und sühnen könne, was er gefehlt hatte. Dies« Bitt« wurde ihm gewährt, er genas. Mitleidige Leute verschafft«» ihm «ine kleine Stelle in einem großen Bankhause. Ihm, dem Dieb«! Aber davon wußte Niemand am Cap. Es fragte auch Niemand danach. Er war da und bedurfte der Arbeit, das genügte. Und wie er arbeitete! Da kam auch der Segen, der keiner ehrlichen Arbeit versagt bleibt. Der relegirte Gymnasialprimus, der steckbrieflich verfolgte Dieb, der mit Fußtritten vom „Drumond-Castle" fortgejagt« Kohlentrimmer wurde «in geachteter Mann am Cap. Erst langsam, denn aller Anfang ist schwer! Am schwersten der Aufbau eines neuen Lebens, nachdem man das alte vernichtet hat. Es gehörten viel« Jahr« heißer Arbeit dazu, viel ernstes Wollen und mannhaftes Entsagen in treuer Buße. Aber es kam. Und mit der Achtung kam die Ehrung, mit dem Vertrauen das Vermögen. Der Mann, der da an der Brüstung des ersten Cajüten-Decks der „Drumond-Castl«" lehnte und heiße Thränen in die See niedertropfen ließ, derselbe Mann, der fünfzehn Jahre früher tief unten im Kohlenbunker desselben Schiffes unbarm herzig durchgeprügelt worden war, Tag um Tag, drei Wochen lang, war mehrfacher Pfundmillionär heute. Die großen Bank institute am Cap indossirten ihm fünf Millionen Pfund Sterling auf die englische Bank, als er die Capstadt verließ. Daß er gerade mit dem „Drumond-Castle" heimfuhr, war eine jener selbstgewählten Bußen, nach denen «r lechzte. Fünfzehn Jahre dünken dem Einen «ine Ewigkeit, dem Anderen «in Traum. Was der relegirte GymnasialprimuS, der Dieb, in seiner Vaterstadt zurückgelafftn, da« wußte er. Wa» der jetzige hochgeehrte Bürger seiner zweiten Heimat^ In der ersten wiederfinden würde, das war ihm verborgen. Man mag darüber denken, wir man will; er hatte «S niemals fertig be kommen, weder -Nachricht von sich zu geben, noch Nachricht und Verzeihung von daheim zu erbitten. So oft er den Versuch dazu gemacht hatte, das rechte Wort für die Größe seiner Schuld, wie für die Tiefe seiner Reue war ihm versagt geblieben. Ein ge schriebenes Wort ist niemals ein gesprochenes; es fehlt ihm stets die Melodie der Seele. Enolich erschien ihm gerade dieses Schweigen gleichfalls ein Stück Buße, das schwerste vielleicht, das er sich auferlegte. Vom Promenadendeck der zweiten Cajüte schallte die klang lose Weise eines jener albernen englischen Gassenhauer zu dem Einsamen hin, bei denen selbst Ladies und Ge-ntlemen vor Ver gnügen mit den Beinen strampeln, mit den englischen, wohl verstanden! während Andere davonlaufen möchten; und auf der Commandobrücke wechselten Steuermann und Officier. Aber der einsame Mann a-n der Brüstung des ersten Cajütendecks be merkte nichts davon. Er bemerkte es nicht einmal, daß sein Kaffer an ihn heranhuschte und ihm zuraunte: „Baas, engelse Cäpten und Stüermann sind drunken, Baas! Engelse Cäpten und Stüermann sind so drunken, daß sie di« Treppe zur Com mandobrücke hinaufgefallen sino, Baas! Das sagt Ben, Baas, hörst Du?" Er hörte nichts davon, und der einfältige Neger in seiner hündischen Anhänglichkeit wagte nicht, eindringlicher zu reden. Er kroch betrübt an seinen Platz am Steuerhäuschen zurück. In einer Cabine der zweiten Cajüte hockte ein blasses, junges Weib an dem schmalen Lager ihrer schlafenden Kinder und starrte wehen Blickes durch das Cabinenfensterchen in die See hinaus. Auch sie war auf der Heimreis« in das Vaterhaus begriffen, das sie einst im Groll und heimlich verlassen hatte. Der Vater, ein schottischer Geistlicher, hatte gewollt, daß sie seinen Vicar heirathe; sie aber hatte bereits gewählt gehabt, «inen jungen Maschinentechniker, und nicht von ihm lassen wollen, trotz des väterlichen Gebotes: „Du sollst Deinen Vater und Deine Mutter «hren, auf daß es Dir wohl gehe und Du lange lebest auf Erden! Hast Du das vergessen, ungerathenes Mädchen?!" so eiferte der Pfarrer und Vater. „Das Weib soll Vater und Mutter verlassen und dem Manne anhangen!" so lautete die Erwiderung der Liebenden; sie verließen die schottische Heimath, verfolgt von dem Fluche ves erzürnten Bat«rs mit dem „Drumond-Castle", um nach Südafrika zu gehen. Das geschah vor fünf Jahren. Sie hatten in Afrika geheirathet und waren glücklich geworden in treuer -Gattenliebe bei redlichem Fleiß und weiser Spar samkeit. Der junge Maschinentechniker hatte in einer großen Fabrik anlage eine gut besoldete Stellung bekommen. Er trug sein junges Weib auf Händen, und dieses vergalt ihm seine Liebe. Es fehlte ihrem Glücke nichts, als der elterliche Segen. Da, Frau Mary hatte ihrem Gatten kurz vorher das dritte Kind geschenkt, ward ihr der brave Mann, ein zerfetzter und zer quetschter Fltischklumpen, in das Hau« gebracht. Sine Maschine, an der er eine kleine Unordnung abstellrn wollte, hatte ihr erfaßt und zermalmt, noch ehe er einen Laut des Schreckens ausstoßen tonnte. „Das ist der Fluch meines VaterS!" rief daS junge Weib !m Wahnstnnswehe, als sie sich an der Bahre niederwarf, auf der dt, Kafftrn den Leichnam des Unglücklichen angebracht hatten. „Das ist der Fluch meines Vaters!" Aber sie rief es im Wahn. Der alte Vater in Schottland hatte längst verziehen. Er und sein braves Weib hatten Herzen und Arme weit geöffnet, die Tochter und ihre Kinder zu em pfangen. Aber das Weh um den so jäh von ihrer Seite gerissenen Mann brannte fort in der jungen Brust, so heiß, so erbarmungslos, daß es den Augen die lindernde Thräne versagte. Und vom Promenadendeck über ihrer Cabine drang der Sing sang der Lustigen, ihr Lachen und Scherzen, in das kleine Fensterchen hinein. Und das Steuer sammt ver Schraube thaten ihre Schuldigkeit. Der „Drumond-Castle" durchschnitt kühn und stolz die Wogen des Oceans; über ihm flammte der nächtliche Sternenhimmel in hehrer -Pracht und unten flimmerte das Zauberlicht des Meeres; es flimmerte noch in langem Strudel hinter dem Schiffe her. Da erfolgte plötzlich ein furchtbarer Ruck. Der Officier auf der Commandobrücke hatte Mühe, sich an deren Geländer zu halten. Der einsame Mann amPromenadendeck der erstenCajüte wäre über Bord geflogen, wenn sein Kaffer ihn nicht zurückgerissen hätte. Das arme Weib in der Cabine der zweiten Cajüte wurde über das Lager ihrer Kinder hingeschlcudert, daß diese von dem Druck erwachten. Auf dem Promenadendeck über ihr aber gab es «in Chaos von Männern und Weibern, Stühlen, Bänken, Tischchen, Musikinstrumenten, und ein entsetzliches Angstgeh«ul. Wer keinen Halt gewinnen konnte, rollte über Bord in di« See; eine viertel Minute lang, «ine halbe vielleicht. Die Schiffsmannschaft fand kaum Zeit, sich auf die Davids zu besinnen und auf die Rettungsboote, die daran hangen. Dann hob sich der Hinterleib des Schiffes, der „Drumond-Castle" legte sich auf die Seite; in der nächsten Minute zeigte nur noch einGurgeln der lächelndenSee, wo das schöne, stolze Schiff mit seinem Lachen und Leben, mit seinem Sing und Sang und seinem Weh und Wohl von der Bildfläcke verschwunden war. Ein wenig abseits von der Fahrstraße nur. ein ganz klein wenig, wo die Klippen zur Ast der Ebbe fall aus dem Wasser ragen. Das hatten die Männer auf der Comwc-dc- brücke und am Steuerrade allerdings nicht feben kc--:- Möa lick auch, daß sie es doppelt gesehen hatten und dazwi'-e.-. durch fahren wollten. Eine schwankende Compaßnadel und ein schwankend«! Schiffsführer ergänzen sich zum Unheil de» Fahrzeuges u^d seiner Gäste. Von der ganzen Schaar Menschen, die der „Drumond-Castl«" barg — dreihundert und einige waren eS! — wurde nur ein ein ziger, der Deutsche. Marquardt, gerettet. Französische Fischir fischten ihn gegen Morgen im Meerbusen von Biskaya auf. Der konnte berichten. DaS war im Mai 1897. Der schottische Pfarrer und sein Weib beweinen «ine geliebte Tochter und drei Enkelkinder; der greise deutsche Beamte mit seiner Gattin einen „verlorenen Sohn", den sie so gern wiedrr bei sich ausgenommen haben würden, wenn «r zurückgekehrt wäre; und viele Ander« wiederum andere Lieben. Da» war di« letzt« Fahrt des „Drumond-Castle".
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)
- Doppelseitenansicht
- Keine Volltexte in der Vorschau-Ansicht.
- Einzelseitenansicht
- Ansicht nach links drehen Ansicht nach rechts drehen Drehung zurücksetzen
- Ansicht vergrößern Ansicht verkleinern Vollansicht