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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 21.07.1900
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1900-07-21
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19000721021
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1900072102
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1900072102
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1900
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rante Bevölkerung Wirtz mehr oder weniger künstlich in einen Zustand wahnsinniger Aufregung gebracht und fortwährend in Angst und Erwartung gehalten. Alle diese Präparationen wer» den getroffen, während das kühle Wetter noch anhält, und sobald die heiße Witterung eintritt, wird die sorgfältig bereitete Mine zur Explosion gebracht und die Anstifter können sich des mehr oder weniger großen Erfolges ihrer Wühlereien nach Herzenslust erfreuen. Die eingeborenen Behörden sind im höchsten Grade Meister in der Kunst des NichtsehenS und Nichthörens, wo sie nicht zu sehen und zu hören wünschen, und ebenso in der Geschicklichkeit, anrüchige Elemente zu ihrem eigenen Vortheile zu verwenden, die sie kraft ihres Amtes ergreifen und bestrafen sollen. Es giebt zwei besondere Ursachen, die als ganz besonders verantwortlich für die meisten der aufrührerischen Bewegungen in China verantwortlich gehalten werden können, und zwar sind dies die Machinationen der geheimen Gesell schaften und die störenden religiösen Be strebungen der Ausländer. Bon diesen beiden Ursachen ist dieletztere von der größten Wichtigkeit, da es ihr allein zuzuschreiben war, daß die große mohammedanische Empörung in Nordchina und in Uunnan, sowie die fürchterliche Taiping-Rebelliou in den Mer und 60er Jahren zum Ausbruche kamen. Die Empörungsversuche, welche allein von geheimen Gesellschaften aus in Scene gesetzt wurden, waren meistens mehr oder weniger erfolglos im Vergleich mit den eben erwähnten Bewegungen, und die einzige, "welche wirklich eine gefährliche Ausdehnung gewann, war le've, während welcher dieTriaden Shanghai einnahmen. Heute (der Brief ist vom 16. Juni) muß also ganz besonders kennzeichnend in Betracht gezogen werden, daß, während alle früheren Ausbrüche in großer Entfernung von der Haupt stadt stattfanden, die jetzige Boxerbewegung sich geradezu in und um Peking centralisirt und daß, obwohl die Regierung eine beträchtliche Truppenmacht zu ihrer Verfügung hat, doch nichts geschieht, um den Aufstand zu unterdrücken; im Gegcn- theil, verschiedene Generäle haben es sich als ganz besondere Gunst ausgebeten, mit ihren Truppen alle „Fremden Teufel" in die See zu jagen. Dieses ist an und für sich bereits ein aus reichender Beweis, daß die Boxerbewegung seit ihrem Entstehen von den Behörden im Geheimen unterstützt und ge billigt worden ist. Die hiesige Presse hat, wie bereits erwähnt, die Behörden und auswärtigen Vertreter seit zwei Monaten wiederholt dar auf aufmerksam gemacht, daß man sich keinen Illusionen mit Bezug auf die Ungefährlichkcit der jetzigen Bewegung hingeben dürfe und daß es der allerbeste Beweis selbst für den ver bohrtesten und dickköpfigsten Mandschu dafür sein würde, daß die Großmächte sich nicht zum Narren halten lassen werden, wenn eine gemischte internationale Armee ge landet würde und den Befehl erhielte, mit Kanone und Bajonett aufzuräumen, die Ordnung wieder Her- Zustellen und den Boxern und ihren geheimen Gönnern auf diesem Wege den nöthigen Respect vor den Ausländern neuer dings beizubringen. Inzwischen thun aber die aufhetzenden Placate und Pamphlete, wie das gegen die christliche Religion gerichtete, mit dem schönen Titel: „Ein Todesstreich den korrupten Doktrinen", ihr unheimliches Werk und wiegeln in allen Provinzen, speciell des nördlichen Chinas, das Volk sowohl als Beamtenschaft und reguläres Militär gegen die ver haßten „Fremden Teufel" auf, ohne daß von der kaiserlichen Regierung irgend welche Gegenmaßregeln getroffen würden. Zum Ueberflusse spielt gerade jetzt wieder der chinesische Aberglauben noch eine besonders große Rolle, indem verschiedene Naturerscheinungen u. s. w. der Bevölkerung bereits zu Beginn dieses Jahres Veranlassung gaben, an gewisse Prophezeihungen sensationslustiger und habsüchtiger Priester zu glauben, die alle mehr oder weniger darauf hinausliefen, für den Verlauf dieses Jahres große und blutige Störungen im chinesischen Staatswesen vorauszusagen. Der Chinese ist eben «in leidenschaftlicher Verehrer oller abergläubischen Thesen und Gebräuche, und dies wissen die Urheber der neuen Rebellion sich zu Nutze zu machen. Es sollte eigent lich durchaus unwahrscheinlich sein, daß dieser Boxerbewegung erlaubt würde, größere Ausdehnungen anzunehmen, da doch zu große und wichtige ausländische Inter essen auf dem Spiele stehen." Diese Hoffnung hat sich leider nicht verwirklicht. Shanghais Sicherheit. Der augenblicklich in London anwesende britische General konsul in Shanghaä, Mr. Byron Brenan, hat sich einem Ver treter des „Daily Chronicle" gegenüber mit Bezug auf Shanghai wie folgt geäußert: „Ich möchte Sie vor allen Dingen warnen, sich allzusehr auf die Nachrichten, welche von genannter Stadt herüberkommen, zu verlassen. Die englische Regierung ist sicherlich nicht weniger gut informirt, als die vielen Zeitungscorrespondenten, welche die Unzahl widersprechender Schilderungen, denen man fast immer die chinesische Quelle sofort ansieht, von Shanghai nach Lon don telcgraphiren. Drüben sollte man zur Genüge wissen, daß, wenn ein Chinese irgendwelche Informationen giebt, er sozu sagen immer nur theilweise, oder überhaupt gar nicht die Wahr heit redet. Dies bezieht sich auch ganz besonders auf diechine - fischen Beamten, die in Verlogenheit und Doppelzüngigkeit sogar ganz Hervorragendes leisten. Jedenfalls kann man sich darauf verlassen, daß alle bisher ge meldeten Details von dem Massacre in Peking zum größten Thoile auf Eingeborenen-Phantasie und Sensationslust der Correspondenten beruhen. Was die Befürchtungen anbetrifst, die man bezüglich der Sicherheit von Shanghai bereits hegt, so halte ich dieselben vorläufig für durchaus unbegründet, und glaube überhaupt nicht daran, daß ein Angriff auf die Stadt seitens der chinesischen Machthaber geplant ist. In einem Radius von M Meilen in der Umgegend von Shanghai können sich kaum 10000 Mann disciplinirter kaiserlicher Truppen befinden, und diese werden es überhaupt nicht wagen, selbstständig einen Angriff zu unter nehmen. Shanghai liegt in einer vollständig flachen Ebene an der Küste, und die großen Geschütze unserer Kriegsschiffe im Hafen könnten jede angreifende Armee unter Feuer halten, und dadurch jeden Angriff unmöglich machen. Wenn wirklich irgend welche Gefahr im Verzüge wäre, so würden die Vertreter der britischen Regierung in Shanghai längst entsprechende Infor mationen nach London telegraphirt haben. Andererseits ist je doch aller Grund vorhanden, um einen allgemeinen Rebellions ausbruch in dem großen Reiche der Mitte zu befürchten, und von allen Provinzen des Landes ist vielleicht Wu-Chang die ruhigste und sicherste, weil ihr Vicekönig Chang-Chih-Tung ein Weiser Mann mit weitem Blicke ist, der ganz genau weiß, was es zu be deuten hat, wenn das Land von den Europäern mit Krieg über zogen wird." Auf die Frage, was er über Li-Hung-Tschang dächte, antwortete Mr. Byron Brenan nur, daß Li Canton ja nun endlich verlassen habe und angeblich auf dem Wege nach Pe king sei, drückte sich im Uebrigen wenig vertrauensvoll über den „großen, alten Mann" von China auS. Für die Ausländer in Peking giebt es nach Ansicht des Generalconsuls thatsächlich durchaus keine Hoffnung mehr. Das „Militärwochenblatt" veröffentlicht eine Uebersicht über die Streitkräfte der Mächte, soweit sie in China und in Kiautschau bereits sind, oder sich auf dem Wege dorthin be finden, oder ihre Abreise vorbereiten. I. In China befanden sich bereits Mitte Juli etwa 43 000 Mann, nämlich: X. In Tientsin-Taku etwa 22 000 Mann mit 80 Geschützen und 19 Maschincngeschützen; darunter deutscherseits nur Theile der Schiffsbesatzungen, nachdem eine Compagnie des 3. See bataillons wieder nach Kiautschau zurückbefördert worden war. Di: Hälfte der Kämpfer in Tientsin sind Russen, indessen treffen jetzt täglich Verstärkungen aus Indien und Japan ein. 8. In Peking waren insgesammt 431 Mann, darunter 1 Officier und 50 Mann deutsche Marine-Infanteristen. 6. auf der Halbinsel Kwan tu, dem russischen Gebiet (Liau-tung), sind augenblicklich etwa 20 000 Mann mit 32 Geschützen vereinigt, nachdem die dortigen Garnisonen aus dem mobil gemachten sibirischen Armeecorps, vornehmlich aus Wladiwostok, erheblich verstärkt worden sind. v. In Kiautschau haben wir etwa 1600 Mann mit 16 Feldgeschützen, 12 schweren Geschützen und 6 Maschinengeschlltzen. — II. Auf dem Wege nach China sind zur Zeit aus Deutschland, Frankreich und Indien etwa 15 000 Mann mit 28 Geschützen, 11 Maschinengeschützen, sowie aus Japan die ersten Theile einer mobilen Division. — III. Vorbereitet wird die Absendung von insgesammt etwa 57 000 Mann mit 144 Geschützen; darunter aus Deutsch land 11344 Mann mit 30 Geschützen, Japan 16 000 Mann mit 36 Geschützen, Rußland etwa 20 000 Mann mit 48 Geschützen, Frankreich, Amerika, Italien etwa 10 000 Mann mit 30 Ge schützen. Insgesammt berechnet sich die Stärke der für die Kämpfe in China verfügbar gemachten Truppen auf etwa 16 000 Deutsche, 12 000 Engländer, 6500 Franzosen, 50 000 Rusten, 21000 Japaner, 7000 Amerikaner, 2000 Italiener, 170 Oesterreicher, also rund 115 000 Mann mit 311 Ge schützen und 36 Maschinengeschützen. Politische Tagesschau. * Leipzig, 2l. Juli. Der englische Delezirte zum vierten internationalen Textilarbeitercon greß Holmes hat sich heraus- genommen, zu behaupten, daß die Arbriterschutz- gcsctze nirgends in dem Maße umgangen würden, als in Deutschland; in England dagegen findet Mr. Holmes Alles in schönster Ordnung. Nun ist eS ja richtig, daß in Deutschland Verstöße gegen die Arbeiter schutzgesetze Vorkommen. Eine so allgemeine Behauptung aber aufzustellen, wie eS von Seiten des Mr. Holmes geschieht, dazu gehört ein beträchtliches Maß von Arroganz und Heuchelei. Gerade ein Engländer sollte sich hüten, während er als Gast auf deutschem Boden weilt, derartige allgemeine Verdächtigungen gegen Deutschland auSzustoßen. Denn ein solches Verhalten führt nothwendig dazu, daß die ein schlägigen Verhältnisse Englands beleuchtet werden. Letztere sind in Wirklichkeit keineswegs so rosig, wie Mr. Holmes sie zu schildern beliebt bat. Dafür liegen uns englische Zeugnisse vor, deren AuthenticitätMr.HolmeS nicht in Abrede stellen kann. In der „Socialen Praxis" vom 25. Mai 1899 hat F. W. Galton-London einen Aufsatz über die Reform der Fabrikgesetzgebung Englands veröffentlicht, dem wir die nachstehenden, auf das englische Arbeiterschutzgesetz von 1891 bezüglichen Sätze entnehmen. „Da» Gesetz von 1891.. ermächtigte den Staatssekretär deS Innern, besonder« Vorschriften für jede» Gewerbe, daS er für gefährlich erklärt, zu erlassen. Doch Hot r» bisher nur ein« sehr spärliche Anwendung gesunden, von 1891—1893 wurdrn die betreffende» Vorschriften überhaupt nicht zur Au- Wendung gebleicht." Nach der Ernennung einer Ministrrialcommission für gefährliche Gewerbe im Jahre 1893 wurden 13 Gewerbe für gefährlich erklärt und eine Reihe von Sondervorschriften für sie vorgeschlagen. Jedoch hat daS Ministerium de» Innern nur zwei von ihnen Specialbestimmungen unterworfen. Woran liegt diese Unthätigkeil? Galto» antwortet hierauf: „Der Grund beruht in dem Gesetze selbst, welches verordnet, daß, wenn «in Gewerbe für gefährlich erklärt und Sondrrbestim- mungen erlassen sind, jeder Unternehmer in dem Gewerbe die letz teren onfechten und Abänderungen Vorschlägen darf. Das Mini sterium deS Jnuern ist verpflichtet, die Einsprüche entgegeuzu- nehmen und die Vorschläge zu prüfen. Wenn sie obgelehnt werden, darf der Unternehmer «inen Schiedsspruch an rufen. Das Ergebniß Lieser lächerlichen Behandlungsart ist, daß in allen Fällen, in denen Sondervorschriften erlassen werden, dieser oder jener Unternehmer Einspruch erhebt. Dann schließt daS Ministerium des Innern, um nur ja die Mühen, Unkosten und Verzögerungen eines Schiedsverfahren» zu sparen, einen Compromiß durch Abänderung der angefochtenen Bestimmungen, und damit werden die Sondervorschriften so lang« verwässert, bis ihre Zweckmäßigkeit geradezu illusorisch wird." In welchem Grade daS englische Gesetz von 1895, das den Minister des Jnuern ermächtigt, die Heimarbeiter den sanitären Schutzbestimmungen der Fabrikgesetze zu unter stellen, eine Comödie ist, darüber schreibt Galton Folgendes: „Es (daS Gesetz von 1895) verordnet, daß, wenn nach Erlaß der Bestimmungen die Inspektoren Außeuarbeiter (Heimarbeiter) an Plätzen oder unter Verhältnissen, die gesundheitsschädlich oder -ge fährdet erscheinen, bei der Arbeit finden, sie dem Unternehmer ... eine Warnung zu ertheileu haben; wenn dann nach Monatsfrist der Arbeiter an demselben Platze oder unter gleichen Arbeittbedingnugen wieder angetroffen wird, ist rin Verfahren gegen den Unternehmer riiizuleiten. Aber gerade diese Bestimmung hinsichtlich der einmonatigen Verwarnung macht das Gesetz thatsächlich bedeutungslos. Die Außeuarbeiter sind in der Regel die Aerinsten der Armen. Sie leben in den schauderhaftesten Spelunken und ziehen leicht und schnell von Spelunke zu Spelunke um. Di« Folge ist, daß sie, wenn der Jnspector die Mittheilung erlassen hat, daß ihre Lebensbedingungeu gefährlich sind, unmittelbar ousziehen. Ihre neue Wohnstätte ist ebenso schlecht, wie die bisherige. Nichtsdesto weniger muß nach dem abermaligen Besuche wiederum eine ein monatige Warnung ertheilt werden, und inzwischen ziehen sie zu ihrer ursprünglichen Wohnstätte zurück oder fiudeu wieder «ine neue Spelunke..'. Kurz, der ganze Vorgang ist nicht viel mehr als eine Komödie, und «S ist fraglich, ob «» bisher zu einem gerichtlichen Verfahren überhaupt gekommen ist." Aus dem Vorstehenden erhellt zur Genüge, mit welchem Rechte Mr. Holme- die englischen Verhältnisse gegenüber den deutschen herausstreicht. Wir möchten indessen auS dem Jahresberichte der englischen Fabrikinspectoren für 1897 (besprochen in der „Socialen Praxi»" vom 6. October 1898) einige wenige charakteristische Einzelheiten nicht unerwähnt lassen. Seit Erlaß der „Special Nuleü" von 1893/94 find 24 Fälle von Pbosphornekrose be kannt geworden. Die vielerörterte Verheimlichung schwerer Fälle in der Londoner Firma Bryant L May — Mr. Holmes scheint nichts davon gehört zu haben — haben eine eingeheode Untersuchung der betreffenden Fabrikation veranlaßt. Die Gesammtsumme gemeldeter Vergiftungen be läuft sich im Jahre 1897 aut 1239 gegen 1050 im Vorjahre. „Man bat guten Grund, anzunehmen", so citirt die „Sociale Praxis" auS dem Jahresberichte wört lich, „daß die Zahlen w e i t g r L ß e r wären, wenn alleFälle an dieOeffentlichkeit gelangten." Trotz der verschärften Gesetzgebung haben die Bleiweißvergistungen in den letzten 3 Jahren an Zahl und Schwere zugenvmnien. Dieses Resultat wird in erster Linie auf die Oberfläch lichkeit der Vorbeugungsmaßregeln zurückgeführt. Wegen Verstoße» gegen die für Waschanstalten erlassene» Schutzbeslimmungen wurden 1897 85 Strafverfolgungen gegen 21 im Vorjahre angestrengt. — Hiermit mag eS genug sein! Der ehrenwerthe Mr. HolmeS hat mit seiner Verdächtigung zwar unserer Socialbemokratie einen Lecker bissen dargeboten, zugleich aber der englischen Heuchelei ein neues Denkmal gesetzt. Herr August Bebel ist auf dem jüngsten socialdemokrati schen Parteitage von anderen hervorragenden „Genossen" ge radezu verhöhnt worden, weil er seine Prophezeiung des „großen Kladderadatsches" wiederholt hinaus schieben, und, als der Kladderadatsch sogar auf dem ihm ge setzten letzten Termine, nämlich tm Jahre 1898, boshafter Weise nicht rintreten wollte, ihn ziemlich ganz an den Nagel hängen mußte. Jetzt leuchtet indeß Herrn Bebel ein neuer Hoffnungs strahl aus Ostasien. Wie schon berichtet, sprach er dieser Tage in Zürich in einer stark besuchten socialdemokratischen Bersamm- lung über die chinesischen Wirren. Er prophezeite dabei unter tosendem Beifall den Zusammenbruch der kapitalistischen Gesell schaft, falls die Eifersucht der Mächte in China einen Weltbrand entzünde. Nun wird es ja auch erklärlicher, warum der „Vor wärts" und die ihm nachbetende sociabdemokratische Presse so eifriig die Partei der Chinesen nimmt. Die wahnwitzigen gelben Mörder sind gerade gut genug, um unseren Umstürzlern das Feld zu ebnen; vielleicht, so meinen die „Berl. N. N." ziehen die Herren Bebel und Liebknecht und Singer noch als Freiwillige nach China, um sich an die Spitze der blutdürstigen Mörder bande zu stellen und so den „Zusammenbruch der kapitalistischen Gesellschaft" zu fördern. Oder glaubt Herr Bebel, daß der „in China entzündete Weltbrand" die Zustände daheim für eine Re volution reif machen könnte? Vielleicht hat ihn nur die außer ordentliche Sommerhitze zeitweilig ebenso wie Herrn Liebknecht besonders toll gemacht. Die socialistische Arbeiterpartei in Belgien hatte bisher mit ihrer Agitation für das allgemeine gleiche Wahlrecht recht wenig Erfolg. Nur die Radikalen haben sich angeschlossen, und da diese eine kleine Minderheit bilden, hat die Leitung der Partei beschlossen, das Programm zu erweitern. Beim Beginn der Herbstsession des Parlaments wollen die Socialisten sofort einen Antrag einbringen, der das allgemeine Wahlrecht bei Gemeinde- und Provi-nzialwahlen auch für die Frauen fordert. Die belgischen Frauenvereine werden in die Liga für Erkämpfung des allgemeinen Stimmrechts ausgenommen werden und sich an der allgemeinen Bewegung betheiligen. Das Sprachrohr des Ministerpräsidenten und Finanzministers De Smet befürwortet in auffälliger Weise das Wahlrecht der Frauen und seltsamer Weise zugleich die Einführung des Branntweinmonopols. Die Liberalen werden nun erst recht die Campagne mitmachen. Der Krieg in Südafrika. Präsident Krüger und Lord Salisbury. Die englische Negierung hat ein ferneres parlamentarisches Blaubuch veröffenllicht, welches eine Fortsetzung der zwischen den Präsidenten Krüger unv Steijn und dem englischen Premier gewechselten drahtlichen und brieflichen Correspon- denzen enthält. Von besonderem Interesse ist der Krüger'sche Friedensvorschlag auf Basis der Unabhängigkeit beider Republiken und die entrüstete Ablehnung dieser Bedingungen auf Seiten des englischen Premiers; ferner die Depesche der beiden Präsidenten, in welcher sie das Verlangen stellen, daß die so genannten Rebellen in Natal und der Capcolonie als Kriegs gefangene von den Engländern behandelt werden sollen, da andernfalls gewisse Repressalien an den gefangenen britischen Truppen auSgeübt werden würden. Lord Salisbury'ö Antwort hierauf ist ebenso hochfahrend wie inconsequent, und wenn er die beiden Präsidenten in seinem Antwortschreiben mit ihren Personen für die Sicherheit und die gute Behandlung der in de» Händen der BurgherS befindlichen englischen Truppen verau lwortlich macht, so verdient er in vollem Umfange die ebenso rückhaltlose wie schneidige Antwort, welche ihm von Krüger und Steijn prompt zuging. Der Wortlaut derselben ist der folgende: „Wir haben die Ehre, Lea Empfang Eiv. Excellenz Telegramm vom 4. dS. anzuerkennen. Wenn nicht alle jene Perfonrn, welche die Schuld au diesem, u»S in ungerechter Weise aufgezwungeiien Kriege tragen, in sicherer Entfernung vom Kriegsschauplätze sich befänden, so könnten wir es uns allenfalls erlauben, Drohungen gegen Diejenigen auszustoßeu, welche wir persönlich verantwortlich halten für oll das unschuldige Blut, welches jetzt auf beiden Seiten in Südafrika vergossen werden muß. Da wir constatiren müssen, daß die Drohungen Ew. Excellenz von einem Platze aus gerichtet werden, wo Sie durchaus keine Gefahr laufen, mit Ihrer Persou für irgendwelche ungerechtfertigte Action in Verbindung mit diesem Kriege, au welchem Ew. Excellenz Jhren guten An- theil haben, zur Verantwortung gezogen werden zu können, so überlassen wir die Beurtheilung des eigenartigen Verhaltens Ew. Excellenz mit Vertrauen der ganzen civilisirten Welt, welche übrigens zu unserer großen Befriedigung allmählich, aber sicher, sich von den Absichten und Zielen überzeugt, mit welchen das britische Cabinet diesen Krieg hervorgerufen hat. Wir versichern Ew. Excellenz, daß Ihre Drohungen, die Sie von einem Platze völliger Sicherheit gegen uns ausstoßen, uns in keiner Weise abhalten werden, unsere Pflicht nicht nur im Interesse der Republiken und ihrer alten BurgherS zu thun, sondern auch zu Gunsten derjenigen, welche als Verbündete und neue BurgherS sich mit uns in dem Kampfe für unsere Existenz und unsere Freiheit verbündet haben, und die wirbis zum Aeußersten zu beschützen beabsichtigen." Diese kräftige Sprache erregt selbst jetzt noch in der eng lischen Presse einen kleinen Sturm des Unwillens, da man haglich rinzurichten, und auch an dem nöthigen Wandschmuck fehlte «S nicht. Es gab Jagdtrophäen und alte Familienbilder in Menge, und wenn letztere auch schon sehr nachgedunkelt waren, so paßten sie doch vortrefflich in das ganze Ensemble hinein. Im neuen Schloß, einem sehr Hellen, eleganten, weitläufigen Gebäude, dessen Neuheit, nebenbei gesagt, auch schon seit fünfzig Jahren bestand, fehlte es durchaus nicht an Raum, und gern hätte man ihm dort eine Reihe von Zimmern angewiesen, aber der Gedanke, immer mit der Familie zusammenzuleben, erschien ihm ganz unerträglich, und so lehnte er das Anerbieten dankend ab. Im alten Schloß war er bisher immer Alleinherrscher ge wesen. Niemand hatte dort seine Ruhe und sein Behagen je mals gestört, und auch für sein leibliches Wohl war da bestens gesorgt. — Frau Wenslein, eine stattliche und streitbare Wittwe, die vorzüglich kochte und schon lange in der gräflichen Familie war, führte ihm mit großem Eifer die Wirtschaft, Johann vereinigte in sich alle Vorzüge eines Kutschers, Dieners und Gärtners, und seine Gattin, nach ihm kurzweg Johanne genannt, besorgte mit Hilfe eines halb erwachsenen Mädchens die Haus arbeit. Da die Beiden, als kinderloses Ehepaar, im Schloß Kost und Wohnung hatten und sich Frau Wenslein's höherer Einsicht un bedingt fügten, herrschte allezeit Friede und Freude im Hause, und die regelmäßige Verbindung mit der Außenwelt unterhielt der Reder-Gustel, ein schwächlicher, etwas verwachsener Mensch, der zu schwerer Arbeit nicht recht zu brauchen war, sich aber durch ein vortreffliche» Gedächtniß und große Findigkeit auSzeichnete. Mit seinem Einspänner erschien er täglich zur bestimmten Stunde vor dem alten Schloß, um Bestelltes obzuliefern und neue Aufträge in Empfang zu nehmen, holte Kisten und Körbe von der Bahn, besorgte die Postsachen und galt zugleich für eine wandelnde Chronik, denn ihm entging nichts, was in der Gegend passirte, und er erzählte im alten Schloß grundsätzlich Alles wieder, wa» er vorher im neuen Schloß gehört oder er späht hatte. Frau WenSlein lebte gewissermaßen nur von diesen Neuig keiten. Sie liebte die beschauliche Stille und Zurückgezogenheit ihre» Dasein» nicht, und bedurfte zu ihrem Glück einer steten Anregung von außen. Ganz ähnlich erging e» ihrer würdigen Freundin, der alten Frau Försterin, die am Tage auch viel allein war und sich regelmäßig in der herrschaftlichen Küche einfand, wenn da» Fuhrwerk de» Reder-Gustel vor der Thüre hielt. Mit seinem Bruder, dem Grasen Max, stand Graf Egon sich ausgezeichnet, aber mit seiner Schwägerin konnte er sich um so weniger vertragen und es herrschte immer eine gewisse Kriegs stimmung zwischen den Beiden. Sie reizte ihn, trotz ihrer scheinbar sanften, verbindlichen Art, und wenn er sich ärgerte, was allerdings nicht allzu oft vorkam, so war sie fast immer die Ursache seines Grolls. Auch heute hatte sie ihm die ganze Stimmung verdorben. Wie immer nach einer längeren Abwesenheit, war er gern nach Hause zurückgekehrt, hatte sich auf sein gemüthliches Heim gefreut und erfuhr nun zu seinem lebhaften Mißbehagen, daß er das Schloß fortan mit einer anderen Familie zu theilen habe. Den Grund der unliebsamen Ueberraschung errieth er leicht. Gräfin Gabriele war eine außerordentlich kluge und prak tische Dame, die nicht allein alle Ausgaben zu beschränken, sondern auch immer neue Einnahmequellen zu entdecken verstand und sich von ihrem Eifer mitunter weiter fortreißen ließ, als für ihren Namen und ihre Stellung Wünschenswerth war. Graf Egon, dem dieser Zug ihres Charakters besonders un verständlich und unsympathisch war, nannte sie darum nicht nur sparsam, sondern geizig und gewinnsüchtig, aber Graf Max, ein sehr liebenswürdiger, nachgiebiger Charakter, be- urtheilte ihre kleinen Schwächen milder, und wenn er ihre Maßnahmen auch nicht immer billigte, so ließ er ihr doch in jeder Beziehung freie Hand. Der Einzige, der ihr Opposition machte, war eben Graf Egon, der schon um des PrincipS willen mit ihr kämpfte, und da sie diesen Kampf nicht fürchtete, aber als unnöthig und unbequem gern vermied, so wählte sie meist seine Abwesenheit, um etwas durchzusetzen. In ihrer äußeren Erscheinung war Gräfin Gabriele eine hübsche, elegante und vornehme Frau, und al» sie nun, in Gegenwart von Kindern, Hauslehrer und Gouvernante, den heimgekehrten Schwager am Theetisch begrüßte, machte eS den Eindruck, als ließe ihr verwandtschaftliches Verhältniß nicht daS Geringste zu wünschen übrig. Auch er war scheinbar ganz unbefangen und erzählte leb haft und angregend von seinen Reiseerlebnissen. Kaum war er aber mit den Geschwistern allein, so brach seine wahre Stim mung durch, und jede Einleitung verschmähend, rief er heftig: „Nun sagt mir, um de» Himmel» willen, wa» soll denn da» heißen? Wie ich von Johann höre, habt Ihr im alten Schloß Alles auf den Kopf gestellt und wollt mir wildfremde Leute in« Hau» bringen. Ich muß sagen, daS ist ein starkes Stück, und waS ich dazu thun kann, um sie wieder hinauSzugraulen, da» werde ich thun. Verlaßt Euch darauf." Gräfin Gabriele verlor nie ihre Selbstbeherrschung und Geduld und war schon dadurch immer im Vortheil gegen ihn. So lächelte sie ihm auch diesmal ganz freundlich zu und sagte mit sanfter Ueberlegenheit in Ton und Blick: „Der Gedanke ist Dir neu, lieber Egon, und darum er schreckt er Dich, aber ich bin überzeugt, Du gewöhnst Dich daran und bist mir vielleicht noch einmal dankbar dafür, daß ich den Bann Deiner Einsamkeit gewaltsam brach. Ein Jung geselle in Deinem Alter wird doch gar so leicht zum Sonderling." Er beachtete die legte, etwas boshafte Bemerkung nicht, sondern hielt sich nur an da» Vorhergehende. „Dankbar?" wiederholte er spöttisch, „liebe Gabriele, das glaubst Du ja selbst nicht. Sage mir lieber, wie Ihr plötzlich dazu kommt, das Schloß zu vermiethen? Ich finde, es ist eine tolle Idee!" Die Dame wandte sich, gleichsam Unterstützung heischend, an ihren Gatten. „O, es ist die natürlichste Sache von der Welt. Nicht wahr, Max? Wir thun einfach nur, was Andere thun. Früher freilich dachte Niemand daran, ein leeres Schloß zu ver miethen, jetzt aber, bei den schlechten Zeiten, ist jede Neben einnahme willkommen, und man darf in der Wahl seiner Mittel nicht gar zu wählerisch sein. Weshalb sollen die schönen Räume auch dauernd leer stehen? Dem Hause ist es ersprießlicher, wenn es bewohnt wird, und Dein kleine» Reich bleibt von der Neuerung ganz unberührt." Graf Egon zuckte die Achseln. „Ein Majoratsherr al» Zimmervermiother! — die Sache will mir nicht in den Kopf, aber eS kommt Alle- auf die Auffassung an. Wenn e» sich um den elenden Mammon handelt, erscheint ja Alles be rechtigt und gut. Ich bin nur erstaunt, daß Ihr für den alten Rumpelkasten überhaupt noch Jemanden gefunden habt. Fremde, die nicht hergehören und für die e» hier nichts zu thun giebt, müssen sich ja sträflich langweilen in dem stillen, ab gelegenen Waldwinkel." Die Gräfin nestelte an ihrer Lorgnettenschnur. „Ola ckSpenckand", sagte sie ruhig, „e» giebt Menschen, denen gerade mit dieser Abgelegenheit gedient ist." „Möglich, liebe Schwägerin, aber wo findet man die?" Sie zog die Augenbrauen erstaunt in die Höhe. „O, in der Zeitung natürlich. Der Jnseratentheil unsere» Provinzial- blotteS brachte drei Mal hintereinander eine Anzeige, wonach ein einsam gelesene» herrschaftliches Wohnhaus auf dem Lande, nebst Cartat Stallung und Wagenremise, auf fünf Jahre zu miethen gesucht wurde. Ich schrieb sofort an die betreffende Adresse, legte eine Photographie des alten Schlosses, sowie einen Grundriß der vacanten Räumlichkeiten bei, machte einige An gaben über die Gegend, die Nachbarschaft und die sonstigen Verhältnisse und erhielt sehr bald eine zusagende Antwort." Jetzt mischte sich auch der Hausherr, der sich gedankenvoll eine Cigarette gedreht hatte, ins Gespräch. „Ja", meinte er bewundernd, „es ist großartig, wie Gabriele dergleichen einzuleiten und durchzuführen versteht. Auch dies mal war die Sache in acht Tagen erledigt, und dabei hat die Dame, welche eine recht hohe Miethe zahlt, noch den Eindruck, als gewährten wir ihr eine besondere Gunst." Graf Egon fuhr erschreckt empor. „Also eine Dame ist es, eine einzelne Dame? Na, das kann ja nett werden! Gewiß eine verrückte alte Jungfer, die auf ihre alten Tage noch Grillen fangt. Ich sehe sie schon mit zwei fetten Möpsen im Mond schein lustwandeln und in zärtlichen Flüstertönen „Pet" und „Jolly" rufen. Wahrscheinlich hat sie auch einen Papagei, dessen Gekreisch ich gratis mitgenießen darf, und einen Canarienvogel, der den ganzen Tag trillert und singt." Die Gräfin schüttelte mit sanfter Abwehr den Kopf. „Lieber Egon", sagte sie, „Deine Phantasie führt Dich auf Irrwege. — Deine künftige Nachbarin ist gar kein Fräulein." „Also eine Wittwe?" „Auch da» nicht." „Ja, was denn sonst?" „Eine geschiedene Frau." Graf Egon starrte seine Schwägerin betroffen an, dann sagte er brüsk: „Und einer solchen Person öffnet Ihr Thür und Thor, er wählt sie freiwillig zu Eurer Nachbarin?" Die Gräfin nickte. „Weshalb denn nicht? Wenn sie un» nicht gefällt, beschränken wir den Verkehr auf ein Minimum. Uebrigens — sie ist auS guter Familie, und ihre Verhältnisse scheinen die allerbesten zu sein." „Ja", meinte Graf Max, „die Art, wie sie sich einführt und die geschäftliche Seite der Sache auffaßt, ist eine durchaus cou- kante und vornehme. So ersuchte sie mich zum Beispiel, die Räume, die so lange unbewohnt gewesen sind, etwas renoviren zu lassen, erklärte sich aber gleichzeitig berSit, die Hälfte der Kosten zu tragen und legte mir in Betreff der Ausführung nicht die geringste Beschränkung auf." (Fortsetzung folgt.)
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