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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 26.07.1900
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1900-07-26
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19000726014
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1900072601
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1900072601
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1900
- Monat1900-07
- Tag1900-07-26
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Die Morgen-Au-gabe erscheint um '/,? Uhr, die Abend-Ausgabe Wochentag- um b Uhr. BezugS-PreiS ß» der Hauptexpedition oder de« int Stabt» bezirk und den Vororten errichteten Aoki Ladestellen abgeholt: vierteljährlich ^14.50; bei zweimaliger täglicher Zustellung in» Hau- —b.SO. Durch die Post bezogen fite Deutschland und Oesterreich: vierteljährlich ^l 6.—. Directe tägliche Kreuzbandsendung in- Au-land: monatlich ^l 7.SO. Nedaclion «n- Lrpe-itio«: 2-hannt-safle 8. Die Expedition ist Wochentag- ununterbrochen geöffnet von früh 8 bi- Abend- 7 Uhu. Filialen: Alfred Hahn von«, v. Klemm'» Torti». Universität-straffe 3 (Paulinum), Laut» Lösche, Katharinenstr. 14, pari, und König-Platz?. 3751 Morgen-Ausgabe. KipMcr TlM-latt Anzeiger. ÄmtsbCatk -es Königlichen Land- und Amtsgerichtes Leipzig, -es Mathes und Nolizei-Änrtes -er Lta-t Leipzig. Anzeigett-Peer- ' dle 6 gespaltene Petitzeile 20 Pfg. Reclomen unter dem Redactionsstrich (4ga- spalten) 50^, vor den Familiennachrichte» (6 gespalten) 40/^. Größere Schriften laut unserem Preitz» verzeichniß. Tabellarischer und Ziffernsatz nach höherem Tarif. — Extra-Btilaae« (gefalzt), nur mit de« Morgen»Ausgabe, ohne Postbefördenmg 60.—, mit Postbeförderung 70.—. Annahmeschluß für Anzeigen: Ab end »Ausgabe: Vormittag» 10 Uhk Morgen-Au-gabe: Nachmittag» 4 Uhr. V«i den Filialen und Annahmestellen je ein« halbe Stunde früher. ... Anzeige« sind stets an die Expedition zu richte«. Druck und Verlag von L. P ol» in Leipzig Donnerstag den 26. Juli 1900. 9i. Jahrgang. Handelspolitik und Freisinnige. SS Der Freisinn will bekanntlich einen Sturm gegen jede Handelsvertragspolitit erregen, die sich nicht sorgfältig auch nur von dem Gedanken einer Erhöhung der landwirthschastlichen Zölle zurückhält. Die freisinnige Vereinigung hat zuerst ihre Lungen angestrengt; in Berlin wurde von ihr eine Versammlung ver anstaltet, aus der es aber nicht stürmte, sondern höchstens säuselte, und ihr Führer, Dr. Barth, hat an ein Nürnberger Blatt eine Zuschrift gerichtet, bestimmt, die Süddeutschen „auf zurütteln". Jenes Blatt war ein Organ der Vollspavtei. Dieser Umstand und manche Eifersüchteleien zwischen beiden Flügeln des Freisinns, welche die Anfänge dieser „Bewegung" begleiten, berechtigen zu der Annahme, daß cs sich für beide Theile mehr um die Gewinnung ohnehin freihändlerischer Seelen, als um eine Missionsthätigkeit 'im schutzzöllnerischen Eigenthume handelt. Trotzdem verdienen die ersten Regungen dieser Propa ganda eine gewisse Beachtung, hauptsächlich aus dem Grunde, weil sie der — socialdemokratischen Agitation einige brauchbare Schlagwörter zurecht machen. In solcher Kunst ist aber Herr Richter der unerreichte Meister, und er hat denn auch mit einem Artikel seiner „Feis. Ztg." die Führung übernommen, die ihm die Nebenbuhler vom rechten Flügel jetzt kaum wieder werden streitig machen können. Natürlich sieht der volksparteiliche Führer in den handels politischen Plänen der Regierungen und der Mehrheitsparteien des Reichstages nichts weiter als „Lebensmittelvertheuerung", die Industrie spielt nach seiner Darstellung die Rolle einer in das Agrarierthum verliebten Thörin, die nur um der Großgrund besitzer willen einer Politik der „Sammlung" zuneigt. Dabei muß aber die „Freis. Ztg." gleich im Eingänge ihrer Betrachtung den Wirtschaftlichen Ausschuß erwähnen, in dem doch recht nüchterne Industrielle sitzen und von dem man noch nicht ver nommen hat, daß in ihm eine Abneigung gegen jegliche Erhöhung von Jnldustriezöllcn sich ernstlich bemerkbar machen. Der Reichs tagswahl in Mülhausen gedenkt Herr Richter bei der Führung des Nachweises, daß die Industrie von einer Aenderung der be stehenden handelspolitischen Zustände so gut wie gar nichts wissen wolle, mit keiner Silbe. Und doch ist diese für die Socialdemo kratie so unglücklich ausgefallene Abstimmung in einem der iNdustriercichsten Wahlkreise des Reiches ein Triumph der Schutz zollpolitik, und zwar gerade auf einer Erhöhung von industriellen Tarifpositionen gerichteten Schutzzollpolitik. Natürlich fällt der „Freis. Ztg." dort, wo sie es so darstellt, als ob nur von den großen Grundbesitzern eine Erhöhung der landwirthschastlichen Zölle angestrebt werde, auch die Wahl in Northeim nicht ein, einem Bezirke, in dessen landwirthschaft- licher Bevölkerung der Großgrundbesitz eine untergeordnete Rolle spielt. Und wie steht es denn mit der süddeutschen Volkspartei? Deren officielle Presse tritt eifrig für Zollerhöhungen ein, ohne die Interessen der Industrie mit denen der Landwirthschaft in Gegensatz zu bringen. Dabei kennt Württemberg, das Land, wo diese Partei ihren Hauptsitz hat, den Großgrundbesitz so gut wie gar nicht, dafür aber besitzt es eine ausgedehnte In dustrie. Also nicht einmal auf die im Uebrigen so willig folgende nahe Verwandte kann der Freisinn bei seinen Bemühungen rechnen, einen Keil zwischen die beiden wichtigsten Erwerbs gruppen Deutschlands zu treiben—denVorzug, nichts gelernt und nichts vergessen zu haben, bleibt sein unbestrittenes Alleineigen- thum unter den bürgerlichen Parteien. Andere verfolgen mit gespannter Aufmerksamkeit das polypenarmige Ausgreifen der Industrie des hochschutzzöllne- rischen Amerikas und die auf zollpolitische Zusammenfassung des englischen Riesenreiches gerichteten Bestrebungen, die kürzlich auf der gemeinsamen Tagung aller Handelskammern des britischen Gesammtgebietes einen großen Schritt vorwärts gethan haben; aber für den Freisinn sind das Bagatellen, um die sich ein Wirth- schaftspolitiker nicht zu kümmern braucht. Der „Fortschritt" bleibt auf seinem alten Flecke stehen und hantirt mit den ge wohnten Phrasen. So figuriren in der erwähnten Auseinandersetzung der »Freis. Ztg." über Lebensmittelvertheuerung die Maltakartoffel und der italienische Blumenkohl des armen Mannes, ein etwaiger Minimaltarif wird als identisch bezeichnet mit dem Anträge Kanitz, der bekanntlich die Verstaatlichung der Getreideeinfuhr bezweckte, und selbstverständlich fehlt auch die düstere Ausmalung der Folgen von landwirthschastlichen Zollerhöhungen für die Industrie und deren Arbeiter nicht. Solche Auslassungen erinnern an die berüchtigten Hetzflug blätter, die der Freisinn bei den Reichstagswahlen von 1890 verbreiten ließ. Man hat aber nicht bemerkt, daß diese lite rarischen Erzeugnisse der von ihnen vertretenen handels politischen Richtung genützt hätten. Vor der nächsten Handels vertragscampagne fehlt leider die Gelegenheit, bei Wahlen die Probe auf das Richter'sche Exempel zu machen, sonst würde wohl ein Automobil genügen, um die vollzählige Fraction der Volks partei in den Reichstag zu befördern. Den Führern der Socialdemokratie, die ihre Anhänger vor läufig noch in genügend strenger Zucht halten, um sie bei der arbeiterverderberischen Freihandelsfahne zu halten, wird die freisinnige Aufreizungspropaganda zu Statten kommen, wie dies auch im Jahre 1890 der Fall gewesen. Aber selbst die „Ge nossen" dürften nicht unzufrieden sein, daß wegen der künftigen Handelsverträge nicht gewählt wird. Die Zusammensetzung des Reichstages läßt die Opposition der einen, wie der anderen Seite ziemlich gleichgiltig erscheinen. Sie könnte nur gefährlich werden, wenn die Führung der Reichstagsmehrheit den Leitern des Bundes der Landwirthe zufiele, deren Organ jüngst an läßlich des Handelsabkommens mit Amerika erklärte, „mit dieser Negierung die Handelsverträge so durchzusetzen, daß die Land wirthschaft nicht über den Löffel barbiert wird, ist vollkommen ausgeschlossen". — Aber die Herren Roesicke und Hahn werden die Führung nicht erlangen und deshalb kaum ein stärkeres inneres Hinderniß für das Zustandekommen neuer Handelsver träge bilden, als der Freisinn. Die Wirren in China. Da den Chinesen ihre schwindelhaften Nachrichten über die Gesandten in Peking nicht geglaubt werden und sie sich noch vor den verbündeten Mächten fürchten, lenken sie wieder ein und bereiten auf die Bestätigung de» Gesandtenmordes vor. Der große Fuchs Li-Hung-Tschang bleibt, wie eS scheint, vorläufig in Sbangbai, da kann ihm nichts passiren; er giebt jetzt auch die Möglichkeit der Gesandtenmorde zu. Mit unserer Auffassung, daß der ganze Nachrichtenbetrieb der Chinesen Dunst ist, stimmt auch vie Meinung in London jetzt überein. Unser L-Ö.-Berichterstatter schreibt uns von da unter dem 24. Juli: Trotz aller FriedenSschalmeien der Gesandten und Bicekönige Chinas bleibt das Leitmotiv in officielle« Kreisen, wie in der Presse ausgesprochen, pessimistisch. Herr Brodrick hat der Auffassung der diesseitigen Regierung den diplomatisch denkbar rückhaltlosesten Ausdruck gegeben, als er gestern Abend im Parlament den Führer der Opposition mit den Worten Auf klärung über dieStellung der britischen Regierung zur Frage des Gesandten m ordeS in Peking gab: „I. M. Regierung fühlt, daß sie keiner Mittheilung und keinem Decrete Glauben schenken kann, welche angeblich vom Kaiser von China oder der chinesischen Regierung auSgehen, so langesie nicht von Seiten Sir Claude Macdonald oder anderen britischen Be amten, oder durch irgend ein Telegramm in unserer Chiffre unterstützt werden. Da man am Quai d'Orfsay gerade so zu denken scheint, so siebt eS aus, als bliebe das Weiße Hau4 auf dem Kapitol zu Washington allein mit jenem Optimismus, den ihm wenigstens die letzten Drabtberichte aus New Jork andichten. Es dürfte aber auch dort eine neue Reaktion gegen die hoffnungsvollere Auffassung, welche angeblich in der Umgebung Mac Kinley'S herrscht, um so weniger überraschen, wenn eS sich bewahrheitet, daß Herr Wu-ting-fang, der dortige chinesische Gesandte, sich ofsiciell erboten hat,den ameri kanischen Gesandten in Peking, Mr. Conger, „an den vor Taku liegenden amerikanischen Admiral Remey auSzu liefern". Es wäre daS eine Beleuchtung der Gesammtlage, wie man sie selbst chinesischer VorurtheilSlosigkeit vernünftigerweise kaum zumuthen kann, — schlössen sie doch das rückhaltloseste Zugeständniß ein, daß die Regierung der Kaiserin-Wittwe diese ganze Zeit hindurch die übrige Welt genarrt und den Ausstand der Boxer nur benutzt habe, um China wieder der westlichen Cullur zu verschließen, und unter Simulirung eines furchtbaren Blutbades den übrigen Großmächten die Bedingungen zu dictiren, unter denen man daS Leben ihrer Gesandten schonen wolle. In Londoner officiellen Kreisen glaubt man daran nicht und hält die Ausgabe all jener Nachrichten, welche behaupten, die Gesandten der Großmächte seien noch am Leben und würden von der chinesischen Regierung selbst geschützt, lediglich für Versuche, Zeit zu gewinnen, um für die Dynastie eine sickere Rückzugslinie ins Innere des Landes zu schaffen, die Vertheidigungsmaßregeln der Central- und Südprovinzen zu beendigen, und daneben für den Ausdruck der Sorge, daß eS den MandsckuS doch nicht gelingen könne, auf die Dauer der vereinigten übrigen Welt zu widerstehen. Hand in Hand damit macht sich ein schwacher Hoffnungsschimmer geltend, als könnten auf irgend eine un aufgeklärte Weise doch einige der Opfer deS allgemeinen Blutbades gerettet sein (vielleicht durch den Palast des Prinzen Ching hinüber in den Kaiserpalast selbst) und die gegenwärtigen Machthaber in Peking sich dieser Ueberlebenden, deren Existenz sie selbst vielleicht erst nachträglich entdeckt, jetzt benutzen, um sich selbst als Retter derselben aufzuspielen, von der Blutschuld rein zu waschen und, sie gleichsam als Geiseln benutzend, Unfrieden unter den übrigen Mächten zu säen. Und das Letztere gilt dabei für den Hauptzweck. An dieser Auffassung ändert auch nichts die geheimniß- volle Botschaft der chinesischen Gesandtschaft in London: „Pekinger Gesandtschaften in Sicherheit, und im Begriff nach Tientsin abzugehen", welcher gleich darauf die Bekanntmachung des folgenden TelegrammeS folgte: „Vom chinesischen Telegraphendirector Scheng, datirt Shanghai, den 23. Juli, an Sir Chihchen Lofenglub, chinesischen Gesandten in London. Ich erhalte folgende Information auS Peking, den 18. Juli. DaS Tsung li Hamen entsandte Wen-yui, einen UnterstaatSsekretär deS Departements, um die auswärtigen Minister zu besuchen, und fand sie sämmtlich wohl, ohne daß ein einziger fehlte, ausgenommen den deutschen Gesandten. Hung-lu wird eine Denkschrift an ven Thron richten, sie Alle unter Escorte nach Tientsin zu schicken in der Hoffnung, daß die militärischen Operationen dann aufhören". Die letztere ausführliche Mittheilung zeigt wieder ganz die chinesische Art, Thatsachen festzustellen, — und dementirt gleichzeitig wieder, wenn auch nur indirekt die erstere. Nach jener, welche der Presse im letzten Augenblick zuging, offenbar, eamit die frohe Botschaft noch von sämmtlichen Morgen blättern verkündet und besprochen werden konnte, ließ die Gesandten sich sozusagen bereits zur Abreise nach Tientsin rüsten, während die zweite ausführlichere Wiedergabe deS Scheng'schen Telegramms nur zu melden weiß, daß ein unbekannter Unterbeamter deS Tsung li Hamen, der natürlich jeden Augenblick dementirt werven kann, die Gesandten gesehen haben will, und daß Hung-lu, der bald Ermordete, bald Gefangene oder Geflohene, bald außerhalb Pekings im Sommer-Palast der Kaiserin-Wittwe befindliche Generalissimus der kaiserlichen Truppen lediglich eine Denkschrift an den Thron zu richten beabsichtigt, um die Erlaubnis zu erbitten, die Gesandten nach Tientsin senden zu dürfen. Dieses Telegramm, wie alle anderen bisher, gelangte an Scheng durch Liu NangkingS Vicekönig, der eS seinerseits wieder von seinem Schantunger Collegen erhalten. Scheng, wie Liu, wie der Vicekönig SchantungS haben ihre Unzuverlässigkeit mehr denn genügend bewiesen — sie alle spielen ein Doppelspiel. Aber angenommen selbst, sie wären ganz ehrlich und zuverlässig, wie kommt es, daß der Tsung li Hamen jetzt plötzlich einen Unterstaats sekretär an die Gesanvten schicken kann und über deren Schicksal so trefflich unterrichtet ist, während er vorher wochenlang nichts von ihnen zu wissen vorgab. Weshalb befreit Hung-lu, wenn er überhaupt dazu die Macht bat, nicht einfach die Ge sandtschaften, wie eS seine Pflicht wäre? Was nützt uns eine Denkschrift, wo Kanonen sprechen, was hilft selbst der Befehl einer Regierung, die nickt Herrin ihrer Hauptstadt, und von der gestern noch behauptet wurde, sie sei in ihrem eigenen Palaste von Aufständischen belagert, eine Regierung, deren Träger ihre eigenen Gesandten nicht einmal zu kennen vor geben. DaS hiesige Auswärtige Amt batte gestern auf der chinesischen Gesandtschaft angesragt, ob diese ihm die Mittel und Wege bezeichnen könne, über welche Lo-fen-zluh verfüge, um mit seiner Regierung in Verbindung zu treten. Die Antwort lautete verneinend. Das war endgiltig entscheidend für die Auffassung der Negierung, die, ohne alle Hoffnung aufzugeben, auch in dieser letzten „frohen Botschaft" vor läufig nichts Anderes sieht, als eine neue Phase in dem Ränkespiel Li-Hnng-Tsckang'S und der Pekinger Machthaber, die Großmächte zu trennen und zu Unterhandlungen zu ver locken, deren Grundlage und Ziel die Zurückziehung der vereinigten Truppen sein soll. Li-Hung-Tschang's Aufenthalt in Shanghai scheint einiges weitere, wenn auck immer nock recht zweifelhafte Licht über die Lage zu verbreiten. Er sollte bekanntlich nach Peking berufen worden sein, um die oberste Leitung der Kaiserprovinz zu übernehmen. Jetzt stellt sich heraus, daß der bisherige Vicekönig von Tschili Hulu gar nickt seines Postens enthoben ist, sondern im Gegentheil „vom Kaiser" auf diesem festgehalten wird, während er gleichzeitig „degra- dirt und eines Knopfes durch kaiserliches Decret verlustig erklärt wurde". Andererseits fand Li bei seiner Ankunft ein kaiserliches Decret vor, welches ihm befahl, Shanghai nicht zu verlassen, und die Vicekönige deS Südens anwies, ihn nicht als mit irgend welchen Unterhandlungen betraut zu betrachten, so lange nicht weitere endgiltige In structionen des Kaisers eingegangen seien. Und Li war so von der Wichtigkeit und dem Werthe dieses Dokumentes überzeugt, daß er erklärte, er bleibe vorläufig in Shanghai und ein langes Tele gramm an den Tsunz-li-Hamen sandte, in welchem er die Noth- wcndigkeit auseinander setzte, ibm in einem offenen Docu- mente mitzutheilen, ob seine Berufung nach Peking vom Kaiser oder vom Prinzen Tuan ausgcbe, und wer von beiden ihn beauftrage, mit den Großmächten über die Zurückziehung ihrer Truppen zu unterhandeln. All daS deutet darauf hin, daß gegenwärtig eine Art Doppel-Regierung besteht, die eine, die eigentliche alte Negierung der Kaiserin-Wittwe, die sich offenbar immer ncch in ihrem Sommer-Palast außer halb der Stadt befindet, und die tbatsächliche Regierung Prinz TuanS in Peking selbst, gleichviel ob sich derselbe nun lediglich als Major Domuü der Kaiserin fühlt, oder zum Gegenkaiser aufgeworfen hat. Wenn die» der Fall, so würde das Vieles in der gegenwärtigen Lage der Dinge erschweren und es wäre dann selbst möglich, daß ein Siez der Gemäßigten unter Hung-lu und Prinz Ching über die Boxer und Prinz Tuan die überlebenden Europäer gerettet und wenigstens die Möglichkeit geschaffen habe, sie endgiltig zu befreien. Bekanntlich hieß eS schon einmal, die Gesandten seien nach dem Palast des Prinzen Ching hinüber gerettet und schließlich, sie befänden sich jetzt „in bombensickeren Räumen". Eine solche Rettung einiger weniger Männer, wie die Gesandten selbst, wäre sehr wobl denkbar, selbst wenn die übrigen Insassen der britischen Gesandtschaft ermordet und diese selbst zerstört wären. Auf Letzteres deutet auch ein am 21. Juli in Shanghai eingetroffcner Bries eine- chinesischen Würden trägers, welcher schreibt: „Anfang des Monats machten die fremden Missinare verschiedene Versuche, Botschaften auS Peking hinauSzusenden, Dank der strengen Ueberwachung der Stadt aber wurden alle Boten abgefaßt und hin gerichtet. (Einer derselben hätte sehr wohl auch die Meldung Conger'S mit sich haben, ja, eS wäre denkbar, daß nachträglich eine ganze Reihe so ab gefangener Meldungen jetzt als Lebenszeichen von der chine- FeuiHetsii. Loborykin's Eigentum. Russische Skizz« von Clara Nasi (Tilsit). r.ochtrua verrvtrn. Eustach Eustachowitsch Boborykin war nahezu fünfzig Jahre alt geworden, ohne je daran gedacht zu haben, eine Gattin heim zuführen. Soft dr«ti Tagen beschäftigte er sich jedoch sehr start mit dem Gedanken, und zwar deshalb, weil er Helena Iwanowna gesehen hatte. Diese reizende, kaum dreiundzwanzigjährige Witiwe hielt sich besuchsweise bei seinem GutSnachbar auf, bSi dem er am ver gangenen Sonntag zu Abend gegessen hatte. „Zum Teufel, das wäre kein schlechter Bissen!" dachte Eustach Eustachowitsch und blickte schmunzelnd in den Hof hinaus, auf dem der Wind Berge von Schnee zusammentneb. „Wenn die verdammte Gicht mich nicht so plagte, suchte ich die Kleine heute wieder auf." Einige Tage später ließen dir Schmerzen in den Beinen etwa» nach, und Boborykin fuhr zu seinem Nachbar. Als <r mit den großen, pelzgefütterten Stiefeln schwerfällig auf Helena Iwanowna zustampfte, lächelte die niedliche Wittwe, die sich so Wicht wie «ine Flaumfeder bewegte, und als er ihr in seiner täppischen Weise den Hof zu machen begann, da lachte sie sogar. Die wurde jedoch bald wieder ernst, denn Eustach Eustacho witsch verstand sehr unterhaltend zu plaudern. Er sprach von seinen Schaf- und Rinderheenden, seinen Pferden, Wäldern, Feldern und schließlich auch von feinem großen Geldkasten. Da» Alle» tnteresfirt« Helena Iwanowna ungemein. Sie hatte gemein sam Mit Hvem Gatten ein wahrhaft fürstliche» vermögen ver praßt und lebte nun von der Gnade reicher Verwandter. Das sagte ihr nicht zu, und deshalb lugte sie unablässig Mit ihren Nixenaugen nach einem reichen Freier aus, und es war ihr auch geglückt, einige junge, vermögende Cavaliere ins Netz zu locken. Diese Helden, die weniger Geist als Geld besaßen, bildeten be ständig ihr Gefolge, und da Helena Iwanowna es verstanden hatte, in Jedem von ihnen den Glauben zu erwecken, sie werde gerade ihn einst zum Gatten wählen, so waren Alle glücklich. Dieses Glück währte jedoch nur bis zu dem Tage, an dem Boborykin so überaus anziehend von seinem Eigenthum sprach, denn von dem Augenblick an widmete sich die Schöne ausschließlich Eustach Eustachowitsch. Sie saß den ganzen Nachmittag und Abend über an seiner Seite, und als er endlich aufbrach, geleitete sie ihn noch bis zu seinem Schlitten. Das Abschiednehmen zog sich in die Länge. Der Wind pfiff, und die Rosse schnoben und schüttelten un geduldig die langen Mähnen. Endlich trat Helena Iwanowna in- Hau» zurück. Am anderen Morgen brachte Franka wie gewöhnlich ihrem Herrn das Frühstück ins Schlafzimmer. Boborykin lag noch im Bette. „Höre, Franka", sagte er, ohne sich nach dem Mädchen umzu drehen. „'Ich bekomm« heute Besuch. Sorg« dafür, daß Abend» auf der Tafel in der Fruchtschaale eine AnanaS liegt." „Warum denn?" meinte Franka. „ES sind ja Aepfel und Birnen da." „Helena Iwanowna sagte Mir gestern, daß AnanaS ihre Lieb- lingsfrucht wäre", brummte Boborykin. Franka schwieg und ging hinaus. Bevor sie die Thür hinter sich in» Schloß gedrückt hatte, rief Eustach Eustachowitsch sie noch einmal zurück. „ES ist nicht auigeschloffen, daß ich mich heute verlobe, Franka", sagt« er mit verhaltener Stimme. „Ja, e» ist sogar sehr wahrscheinlich — r» ist ganz gekvrtz." Franka wurde blaß und preßte die Lippen fest aufeinander. „Nun, weshalb sprichst Du nichts?" fragte Boborykin ver wundert und setzte sich plötzlich aufrecht im Bett« hin. Aber Franka schwieg auch jetzt noch, und das gab Eustach Eustachowitsch den Muth, zu sagen, daß «r bereits gestern Abend, kurz vor der Heimfahrt, von Helena Iwanowna den Verlobungs kuß empfangen habe, daß er in vier Wochen Hochzeit feiern werde und Franka in den nächsten Tagen den Dienst verlassen müsse. Das Mädchen sah ihn «ine Weile wortlos an. Boborykin blinzelte mit den Augen und versuchte unbefangen zu lächeln. Sowie Franka gegangen war, verließ ihn das unbehagliche Gefühl, das ihn beglichen hatte, während er mit ihr sprach, und er verzehrte mit gutem Appetit sein Frühstück. „Sie ist doch ein vernünftiges Mädel", dachte er, gemächlich den Thee schlürfend. „Ich glaubte bestimmt, daß sie mir eine Scene machen würde." Draußen im Flur schloß Franka einen Augenblick die Lider und lehnte den Kopf an die Wand, dann biß sie die Zähne zu sammen und ging an ihre Arbeit. Am Nachmittag füllte sich das Haus mit Gästen. Helena Iwanowna erschien in Begleitung ihrer Anbeter, die sehr nieder- geschlagen aussahen. Boborykin, den die Gicht wieder heftiger plagte, weil er gestern Nacht wohl eine halbe Stunde lang auf dem winddurch- sausten Hof von „seiner Helena" Abschied genommen hatte, stelzte seiner Zukünftigen, so gut es gehen wollte, entgegen. Um den Mund der kleinen Wittwe zuckte es secundenlang verrätherisch, doch da kamen ihr die Schaf- und Biehheerden, die Wälder und Felder und der groß, Geldkasten in den Sinn, und sie kämpfte das Lachen nieder. „Ich sehe keine Ananas", raunte Eustachowitsch dem bei Tisch aufwartenden Diener zu. „Franka wollte nach der Stadt gehen und Früchte holen", gab der Bursche leise zurück. „Nun dürfte e» an der Zeit sein, daß wir un» unseren Gästen als Verlobte vorstellen, wandte sich Boborkyn an Helena Iwanowna. Die kleine Wrttwe erschauerte leise, dann nickte sie hastig mit dem blonden Köpfchen. Boborkyn hatte sich eben erhoben, als Franka eintrat und rasch einen Korb vor ihn auf den Tisch stellte. „Du bringst Wohl die Ananas", rief Eustach Eustachowitsch vergnügt. „Das ist recht. Aber, wie es scheint, hast Du statt einer Frucht zehn gekauft. Das Körbchen ist sehr umfangreich." Er schlug die Deck« zurück und erblickte ein dralle» Bübchen, das an seinem rosigen Fäustchen lutschte. „Was ist denn das?" stieß er erschreckt hervor und sank auf seinen Stuhl zurück. „Euer Eigenthum", sagte Franka, und ihre Augen blitzten, dann lief sie hinaus. „Davon habt Ihr mir gestern nichts gesagt, als Ihr Alles aufzähltet, was Euch gehört", sagte Helena Iwanowna und er hob sich. Beleidigt verlicß sie das HauS und fuhr mit ihren vergnügt lächelnden Anbetern davon. Nachdem der letzte Gast aufgebrochen war, fragte Boborykin nach Franka. Er fand sie in ihrer Kammer. Sie hockte neben dem Korbe, den man ihr wieder zurückgegeben hatte und weinte leise in sich hinom. Eustach Eustachowitsch legte die Arme um sie, und es gelang ihm, sie zu trösten. Als Boborykin am anderen Tage in seinem bequemen Lehn stuhl saß unv Franka ihn, wie immer, mit rührender Sorgfalt umgab, konnte er es nicht begreifen, wie eS ihm möglich gewesen war, seine treue Pflegerin und da» Bübchen, da» munter auf seinem Schooße spielte, auch nur einen Augenblick zu vergessen. Waren doch Beide sein Eigenthum. — —
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