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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 01.10.1900
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1900-10-01
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19001001025
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1900100102
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1900100102
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
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- Ausgabe
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1900
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Größere Schriften laut unserem Preis- verzrichniß. Tabellarischer und Ziffrrnsatz nach höherem Laris. Extra-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbesörderuug 60.—, mit Postbesörderuug 70.—. Ännahmeschluß filr Anzeigen: Abend-Au-gabe: Bormittag- 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittag» 4 Uhr. vei den Filialen und Annahmestellen j» ei» halb« Stunde früher. Anzeige» sind stets au di« Expedttia» zu richte». Druck und Verlag vo» L. Pol» tu Leipzig 590. Montag den 1. October 1900. 94. Jahrgang. Die Wirren in China. Es ist eine eigene, recht eigene Sache mit dem „Lonrert der Mächte". Einmal heißt eS: cS klappt, dann wieder: e» klappt nicht; einmal wird officio- versichert: alle Mächte, abgesehen von den Vereinigten Staaten, sind eine- Sinnes, dann wieder: die Haltung der einen und der anderen Macht ist zweifelhaft geworden: einmal: England thut mit, dann wieder: das Zögern Englands fängt an Bedenken einzuflößen. Darüber vergeht kostbare Zeit, und über lauter Stimmversuchen scheint daS ganze Concert wieder in die Brüche zu geben. Am Be denklichsten ist, abgesehen von dem räthselhaften Verhalten unserer angelsächsischen Vettern, daß jetzt auch an der Bereit willigkeit Frankreichs, dem Vorschlag Deutschlands zu zustimmen, Zweifel laut werden. So wird unS berichtet: * Wie», 30. September. Aus Paris wird der „Pol. Corr." ein Artikel de- „Figaro" signalisirt, der darauf hin deutet, daß in einem Thrile der dortigen politischen Kreise in der Beurtheilnng der Haltung Deutschlands in der chinesischen Frage ein ungünstiger Umschwung eingetreten ist. In einer zu dem Beifall, mit dem eS den letzten deutschen Vor schlag anfänglich begrüßt hatte, scharf contrastirenden Weise drückt das Blatt nun gewisse Zweifel hinsichtlich der wahren Absichten de- Berliner Tabincts aus. ES behauptet, daß dies der allgemeine Eindruck in diplomatischen Kreisen sei, und will wissen, daß bei den Unterhandlungen der Mächte über die Grundlage, auf welcher sich die Friedenspräliminarien mit China zu bewegen hätten, ernste Meinungsverschieden heiten zu Tage getreten seien. Nun ist ja der „Figaro" nicht die französische Negierung und die „Nat.-Zta." glaubt nochmals feststellen zu können, raß Frankreichs Zustimmung nach den „bisher" vorliegenden Mittheilungen an keinerlei Bedingungen geknüpft sei, aber man muß doch gestehen, große» Zutrauen gewinnt man aus den letzten Meldungen nicht, vielmehr erhält man den Ein druck, daß hinter den Coulissen wieder Hände thätig sind, um die anscheinend so sorgfältig gezogenen Fäden wieder zu verwirren. Dazu mit beizutragen, ist nicht in letzter Linie daö kaiserliche Straf-eerct bestimmt, daS am 25. September erlassen worden ist und die Degradirung der Hauptschuldigen, vorab des verrufenen Prinzen Tuan, und deren strenge Bestrafung^ anordnet. Ist das Decret wirklich echt, so kann man sicher sei», daß hier den Mächten wieder einmal eine chinesiscbc Lügenposse vor gegaukelt wird. Es fällt weder der Kaiserin noch dem Kaiser ein, Leute, wie den Prinzen Tuan, der eben erst zum Vor sitzenden deS StaatSratheS ernannt wurde, für das büßen zu lassen, waS der Regentin eigenstes Werk ist. DaS Decret hat lediglich den Zweck, den Mächten Sand in die Augen zu streuen: Die Bestrafung steht nur auf dem Papier, auS- gefübrt wird sie nie, aber man hofft, daß die Mächte sich täuschen lassen, das Decret als baare Münze nehmen und von einer weiteren Verfolgung der Missethäter absehen. Dem gegenüber kann nur wiederholt werden, daß die Mächte mit allem Nachdruck auf die Bestrafung der Schul digen nicht durch chinesische Decrete oder Gerichte, sondern durch ihre eigenen Organe dringen müssen; andernfalls sind sie die GenaSführten. Was überhaupt auf kaiserlich chinesische Verfügungen zu geben ist, dafür findet sich eine bezeichnende und fast komische Illustration in einer Mittheilung de» „Journal de Schanghai". Fruilleton. in Der neue Tag. Roman von Klara Zahn. Nachdruck verdaten. IV. October! DaS Weinlaub am Balcongitter glühte in den schönsten Farben, tiefroth, purpur und goldgelb nickten die lustigen Blätter in Anny's Stübchen hinein und meinten wohl, ihr Farbenzauber sei eS, der das schöne Mädchen immer und immer wieder hinaustreten und sich hinauslehnen ließ über die Brüstung. Drunten aber klang ein Radlerglöckchen, und von dem glänzenden Rade sprang ein braunlockiger Knabe herab, schwenkt« sein Mützchen gegen Anny und rief hinauf: „Sie sind noch nicht draußen! In einer halben Stunde wird's wohl soweit sein. Ich fahre rasch noch einmal hinunter und bring' Dir dann gleich Bescheid!" „Schön, mein Junge", rief Anny hinab, „sei nur vorsichtig." Ein lachender Gruß. Elastisch sprang der Knabe wieder in den Sattel und sauste davon. Mit glücklichem Lächeln sah ihm Anny nach. «Das liebe Kerlchen", dachte sie, „so mit ganzer Seele dabei, nun, wo der Bruder den ersten „Kampf um'S Dasein" ausficht. — Er wird heimkehren mit dem Einjährtgen-Zeugniß in der Tasche. Han» war ja ein guter Schüler und der Erfolg gar nicht zu bezweifeln." Dennoch fühlte sie in der Seele ihrer Knaben und lebte die große Wichtigkeit diese» Ereignisse» mit ihnen. Nichts sollte ihnen gr- nommen werden von dem Ernst und der Würde dieses ersten Schrittes in» JünglingSlebrn. Wein und Gläser standen auf dem Tische, der Vater hatte r» Anny fest versprochen, recht- zeitiadaheim zu sein, um den Knaben zu beglückwünschen und mit rhm anzustossen auf seine erfolgreiche Zukunft. Wie kam eS nur, daß er noch nicht da war? Er batte doch heute keinen Termin, wollte nur noch eine Kleinigkeit besorgen „zur Feier des Tages", wie er sagte, und nun war er schon über eine Stunde fort! DeS Vaters Ausbleiben gerade heute beunruhigte Anny mehr, als sie sich eingestehen wollte. Nicht um ihretwillen. Sic war an seine Unpünktlichkeit, an seine Rücksichtslosigkeiten der Hausordnung gegenüber gewöhnt. Aber die Knaben! Würden sie es nicht als Mangel an Liebe fühlen, wenn der Vater so wenig Interesse an dem „großen Ereigniß" ihre» jungen Lebens zeigte? Wenn er doch nur heimkrhrte, bald! Wieder trieb die Unruhe Danach erhielt der Viceköniz der Provinz, in der diese Stadt belegen ist, in einer einzigen Woche vier kaiserliche Edicte rugestcllt. Daö eine kündet ihm seine Verurtheilung zum ^ode wegen seiner verdächtigen Haltung den Europäern gegenüber an, das zweite verlieh ihm eine hohe Auszeichnung wegen seiner diplomatischen Geschicklichkeit, das dritte meldete ihm die bevorstehende Ankunft des kaiserlichen Commissars und droht ihm Degradirung an, und das vierte versicherte ihn wiederum der Huld und deS Vertrauens des Kaisers. Li-Hung-Tschang sucht unterdessen zwischen den Mächte» weiter Zwietracht zu säen und so ebenfallsdiePolitikderKaiserin-Negentinwirksam zu unterstützen. Nach einer „Standard"-Meldung aus Tientsin erklärte er in einem Interview, der russische Admiral Alexejew sei nur deshalb nach Port Arthur gegangen, um eine Zusammenkunft mit Waldersee zu vermeiden. Die Minen in Tongschang seien mit Hypotheken für die Deutsche Bank belastet. Falls Rußland Tongschang besetzen sollte, würden Verwickelungen zwischen Deutschland und Rußland entstehen, außerdem würde es wahrscheinlich die Zerstörung der englischen Bahnbauten jjur Folge haben. Li bedauerte die Schwierigkeiten, welche ihm die „Versöhnung" englischer und russischer Interessen verursachten, er halte sich nur deshalb an Rußland, weil England ihm früher Unterstützung versagte. Graf Waldersee ist am 27. September in Taku angckommcn und bat seine militärische Tbätigkeit in Petschili sofort begonnen. Am gleichen Tage ist er bis Tientsin weitergercist, wo er durch eine aus Truppen aller Verbündeten bestehende Ehrenwache auf dem Bahnhof salutirt wurde. „Renter's Bureau" berichtet ans Tientsin unter dem 28. September: General Gaseler ist heute morgen hier eingetroffen und wird sich nach einem Besuche beim General feldmarschall Grafen Waldersee nach Taku begeben, um den Admiral Seymour einen Besuch abzustatten. Nach seiner Rückkehr wird «ine C»ufer-«z der Beseh' .aber der Verbündeten abgehalten werden. — Gestern Avend wuroe von den Deutschen zu Ehren deS Generalfeldmarschalls Grafen Waldersee ein Fackelzug und Zapfenstreich ver anstaltet. Weitere Meldung. * London, 1. Lctober. „Standard" berichtet au- Shanghai unter dein 28. September: Im hiesigen Arsenal wird Tag und Nacht an der Herstellung von Kriegsmaterial gearbeitet, das nach Norden und Westen verschifft wird. Wie verlautet, ver- stärken die Bicekönige der Pangtse-Provinzen schleunig die Ver- theidigungSmittel der Flußhäfen. Die „Times" berichten aus Peking unter dem 24. September: Wie amtlich gemeldet wird, waren die Engländer aufgesordert worden, an dem Angriffe auf Peitang theilzunrhmen; da sie zu spät eintrasen, fanden sie die Forts bereits im Besitze der Nüssen, Franzosen und Deutschen. — Die „Times" berichten aus Hongkong unter dem 28. September: Die Unruhen am Ost-Flusse breiten sich weiter aus. Die rheinische Mission in Tung-Kon sei, wie verlautet, zer stört worden, und eine strengere Bewachung des Hinterlandes von Kaulung sei daher nöthig. Nach Depeschen auS Shanghai sind dort Berichte mit interessanten Einzelheiten über die Flucht des chiuesischcn HofeS aus Peking eingelaufen. Hieraus ergiebt sich, daß die Kaiserin-Regentin von ihrer Umgebung über die wahre Sachlage fortwährend das Mädchen, vom Balcon aus hinabzuspähen auf die Straße. Da unten hasteten die Menschen vorüber. Ein paar Fremde schlenderten vorbei und blieben oft stehen vor den gicbelreichen Häusern. Der Rechtsanwalt war nicht zu sehen. Jetzt aber jagte Ernst Folgers auf seinem Rade in Windeseile die Straße herauf. Er grüßt und winkt zu Anny hinauf, sie sieht die Jubel botschaft schon in den strahlenden Knabenaugen, und streicht rasch mit der Hand über die Stirne, als ließen Sorgenwolken sich so leicht verjagen. Freilich, für den Augenblick! Dem Hereinstürmenden breitet sie die Arme freudig entgegen, als wäre er der Sieger. „Er hat's! DaS beste Zeugniß hat Hans, und natürlich seinen Einjährigen." „Das ist schön, — er kommt doch wohl gleich?" sagte Anny, dem Erhitzten das Haar aus der Stirn-, streichend. „Ja natürlich! Wo ist denn Papa?" „Noch nicht heim, er wird gewiß gegen seinen Willen aufge halten." Ernst sagt nichts. Er tritt schweigend auf den Balcon hinaus und späht hinab. Es thäte ihm doch gar zu Leid um den Bruder, wenn sich Papa wieder gar nicht um ihn kümmern würde. Auch Anny wartet. Nun klingt die Entröeglocke. Das ist natürlich Hans. Wie er hereinstürmt und dann doch so halbverlegen, fast beschämt, daß man seinetwegen ein solche» Aufheben macht. Anny streckt ihm beide Hände entgegen. „Alle» Glück, wie et» Dir heut' wurde, auch für Dein künfti ge» Streben, mein lieber, lieber Han»." Der große Junge schmiegt sich zärtlich an die Schwester und fühlt ihren Kuß wie einen Mutterkuß. — Unwillkürlich sieht er sich um nach dem Vater, aber er sagt nichts. Er weiß, daß Anny die Frage weh thun würde. — So fängt er an zu erzählen. Wie es bei der Versetzung war, wer Alles durchgekommen ist, wer sitzen blieb. — Er ist ganz lebendig geworden, und schließ lich ruft er aus: „Jetzt hab' ich aber Hunger, essen wir bald, Anny?" „Ich denke doch, wir warten auf Papa, laß Dir indeß von Therese ein Brödchen geben, und hier, trink' einen Schluck Wein, Kind, mit dem „Anstößen" warten wir noch bi» zu Tisch, gelt?" „Aber natürlich", wehrt Han» die halb entschuldigende Bitte der Schwester ab. „Ich habe heute Gänsebraten, Hans", sagt Anny. „Fein! Da verkneife ich mir den Hunger noch", meint Hans. „Bewahre, nimm nur ein paar Bissen. Wie spät ist - eigentlich?" „Bald ein Uhr." getäuscht wurde. Während die Verbündeten schonjim Vormarsch aus Peking begriffen waren, wurden ibr täglich Mitlbeilungen über chinesische Siege gemacht, so daß sie, sich in Sicherheit wähnend, rubig im Palast blieb. Erst als die Verbündeten bereits in die Sladt einrücklen, floh sie am lö. August, begleitet vom Kaiser, in wilder Hast aus der Kaiserstadt. Beide trugen ganz gewöhnliche baumwollene Gewänder und reisten so ver kleidet auf den landesüblichen Karren mit ganz kleinem Ge folge. Unterwegs hatten sie mit mancherlei Entbehrung zu kämpfen. Drei Tage lang waren sie ausschließlich auf Hirse als Nahrung angewiesen und schliefen auf nacktem Lehmboden in unsauberen Herbergen. Es war ein für sie höchst ent würdigender Zustand. Asiatische Grausamkeit. Bei der Hinrichtung der beiden gemäßigten Mitglieder deS Tsung li Uamen, Hsü Tsching-tscheng und L)uan Tschang, hat sich die echt asiatische Grausamkeit der Mandschuren in schrecklichster Weise gezeigt. Um allen Mandarinen, die dem Kriege mit den Fremden nicht bedingungslos zustimmen, einen heilsamen Schrecken einzujazen, ließ man cs nicht bei einfacher Enthauptung bewenden, sondern besörderte die beiden Unglücklichen vor dem zum kaiserlichen Palaste führenden Thore in höchst barbarischer Weise vom Leben zum Tode. Man benutzte dazu nämlich daS sogenannte „Bauch schnitt Messer", ein Instrument, daS Aehnlich- keil mit einem Häckselmesser bat, aber viel größer ist. Der Vcrurtbeilte wird auf einen steinernen Tisch gelegt, worauf der Scharfrichter und seine Gehilfen ihm daS Messer auf den Leib setzen und ihn dann buchstäblich in zwei Stücke zerschneiden. Seit mehr als 170 Jahren war dieses gräß liche Instrument nicht mehr benutzt worden. Der letzte der artige Fall betraf einen Examinator, der während der Regie rung deS Kaiser- Nuugtschiug (1723 — 36) den zweiten literarischen Grad an einen Prüfling verkauft hatte. Viel in Anwendung kam das Messer, als die Mandschuren im 17. Jahrhundert China eroberten und nun allen Einwohnern '-en Zopf aufzwängen wollten. Bloße Enthauptung hatte da oielfach nicht d:e gewünscht': Wirkung auf widerspänstizc Leute, weshalb man zu grausameren Strafen griff, um seinen Willen durchzusetzrn. Cine Flucht aus Schaust. AuS Hankau, 15. August, wird dem „North China Herald" berichtet: Von allen Provinzen steht Schansi obenan in Bezug auf teuflische Morde und Grausamkeiten. Es sah einen Augenblick aus, als ob nicht ein Ausländer den mörderischen An schlägen Aühsiens entrinnen könnte, den unsere (die britischen) Gesandten so unüberlegt zum Gouverneur dieser Provinz hatten ernennen lassen. Glücklicher Weise sind einige entronnen. Eine Gruppe von Flüchtlingen aus Schansi ist heute hier angekommen, nachdem sie unterwegs unsägliche Leiden auszustehen hatten und oft nur um ein Haar breit mit dem Leben davongekommen sind. Es sind Herr und Frau R. A. S a u n d e r s mit zwei Kindern (zwei andere sind unterwegs gestorben), Herr A. Jennings und Fräulein Gunthrie aus Pingyao; Herr E. I. Cooper und zwei Kinder aus Lutscheng (Frau Cooper, Fräulein Rice und Fräu lein Houston erlagen auf der Reise); Herr und Frau A. E. Glover und zwei Kinder und Fräulein Gates aus Luan. Alle gehören der China-Jnland-Mission an. Von 19 Flücht lingen sind fünf umgekommen. In Pingyao war bis zum 25. Juni Alles friedlich. Die Beamten waren freundlich und hatten eine Verkündigung er lassen, worin sie die Boxer bloßstellten und den Fremden und Christen Schutz versprachen. Wir wußten, so erzählen dir Flüchtlinge, daß auf der Straße nach Tientsin Unruhen aus „Heut' wird uns doch Papa zu Tisch nicht warten lassen!" platzt Ernst heraus. Anny geht ab und zu in die Küche, ob das Essen noch zu „halten" sei. Der Therese grimmiges Gesicht sagt ihr genug, und schweren Herzens entschließt sie sich, nach einer vollen Stunde auftragen zu lassen. „Wir wollen zu Tische gehen, Kinder", sagt Anny gedrückt. Ein scharfer Ruck an der Entröeglocke. Wer nur? denken alle Drei. Papa hat doch den Schlüssel! Bald darauf kommt das Stubenmädchen herein und meldet: „Es ist ein Herr da, der sich nicht abweisen läßt, er sagt, er müsse das gnädige Fräu lein sprechen, wenn der Herr Rechtsanwalt wirklich nicht da sei." „Mich? Gut, ich komme." Im Salon tritt Anny ein Herr entgegen, der eine große Ledertaschc unter dem Arme trägt und seltsam forschende und strenge Blicke auf sie wirft. „Sie wünschen?" fragt Anny. Der Fremde öffnet seine Mappe, nimmt ein längliches, kreuz und quer beschriebenes Papier heraus, legt es vor Anny hin und sagt: „Ich habe einen Wechsel über 5000 Mark zu präsentiren." „Mein Vater ist nicht zu Haus", sagt Anny völlig verständnißlos. „Wollen Sie den Wechsel bezahlen?" fragt der Beamte. „Das kann ich nicht", erwidert Anny. „Dann muß ich zur Pfändung schreiten", sagt der Fremde ruhig, geht an den Tisch, breitet seine Papiere aus und fragt, ob er Tinte bekommen könne. So fern auch Anny den Geschäften ihres Vaters steht, wa» eine Pfändung bedeutet, ist ihr wohlbekannt. Eine namenlose Angst schnürt ihr die Kehle zusammen, endlich preßt sie mühsam hervor: „Ich werde es bezahlen, gewiß, wenn nur erst mein Vater zurückkommt!" „Darauf kann ich nicht warten. Der Wechsel ist abgelaufen. Ich habe ihn schon vor zwei Tagen präsentirt, der Herr Rechts anwalt vertröstete mich auf heute. Ich muß meine Pflicht thun." „Aber ich versichere Ihnen, ich besitze ein großes Privatver mögen und trete selbstverständlich für meinen Vater ein." Der Beamte sah die junge, elegant gekleidete Dame arg wöhnisch an. „DaS hätte doch Ihr Herr Vater vorher mit Ihnen ordnen müssen! Er weiß doch am besten, was ein protestirter Wechsel bedeutet, und daß eS gar nicht in meiner Macht liegt, von dieser Schwelle zu gehen, ohne baares Geld erhalten oder gepfändet zu haben." Anny war todtenblaß geworden. Eine furchtbare Ahnung de» Geschehenen befiel sie. Sie stand regungslos. gebrochen waren, konnten uns aber keine Vorstellung machen von dem, was vorging, und die Gefahr voraussehen. Am genannten Tage indeß erhielten wir einen Brief aus Taiyuan, der ein Exemplar einer frisch von Mhsien erlassenen Verkündigung ent hielt, worin er das Volk in Kenntniß setzte, daß China mit den Fremden im Kriege liege und allesremden Teufel aus- zurotten seien. Hinterher erfuhren wir, daß der freundliche Aufruf unserer Beamten yon den Mauern herabgerissen wurde und daß ein Volkshaufe begonnen hatte, unsere Capelle nicder- zureißen. Am Abend kam eine Volksmenge vor unser Haus in die Vorstadt, und wir sahen uns genöthigt, im Namen Zuflucht zu suchen. Der Beamte erklärte, er könne uns nicht helfen. Er hatte Befehl erhalten, die Fremden nicht länger zu beschützen, und bat uns, in Frieden wegzuziehen. Auf unsere Vorstellungen hin entschloß er sich endlich, uns unter Bedeckung nach dem 150 Li entfernten Taiyuan bringen zu lassen. Wir brachen daher nach dieser Stadt auf. Wir kamen ohne Zwischenfall bis etwa 20 Li von Taiyuan, wo uns ein eingeborener Christ ent- gcgenkam, der nach Süden floh. Er flehte unS an, zurückzu kehren, da die Jnland-Mission bereits niedergebrannt, die katho lische Niederlassung geschleift sei und sämmtliche Fremde sich in der Baptistenmission befänden, deren Gebäude von einer großen Volksmenge umgeben seien, die drohte, alle dort Weilenden zu verbrennen. Wir wandten uns daher nach Pingyao zurück. Unsere Bedeckungsmannschaft verließ uns sofort. Wir hatten nicht viel Baarschaft, und die Einwohner verlangten unerschwing liche Preise für Alles, selbst für die bloße Erlaubniß, die Straße benutzen zu dürfen. Wir verkauften unsere Kleider und ver pfändeten, was nur zu verpfänden anging, sogar unsere Trau ringe. So erreichten wir unsere Missionsstation in Lutscheng — gerettet, aber ausgeplündert. Lutscheng war noch nicht ausgeraubt worden. Es waren uns indeß nur zwei Tage Friede beschieden, da mußten wir mit den dortigen Freunden um Mitternacht fliehen, um unser Leben zu retten, mit nichts als einer Eselladung an Bettzeug und Kleidern und einer Menge Silber, das wir unter uns vertheilten. Nach welcher Richtung, wußten wir nicht. Sich abermals nach Norden zu wenden, war außer Frage; nach Osten, nach Schantung, ging auch nicht an, so gingen wir nach Süden, in der Hoffnung, über Honan und Hupe nach Hankau zu gelangen. Wir waren kaum 40 Li von Lutscheng entfernt, als wir in einem großen Dorfe von 200 Leuten angehalten wurden, die Geld von uns verlangten. Wir konnten sie nicht befriedigen. Sie nahmen daher unfern Esel weg und zerrissen aus reiner Zerstörungswuth unser Bett zeug und unsere Kleider. Dann zogen sieunSaus, nahmen einem Jeden die Kleider, das Schuh werk, den Hut und die Strümpfe ab, auch das Bißchen Silber, und ließen uns Allen, auch den Frauen und Kindern, weiter nichts als je ein Paar chinesische Hosen. Hier bei verloren wir die Eingeborenen, die uns begleiteten; wir be fürchten, daß sie umgebracht worden sind. Mit Stöcken trieb man uns weiter. Es war eine furchtbare Lage. Die heiße Sonne brannte uns bis auf die Knochen, und Einige von uns waren glücklich, einen Tuchfetzen zu besitzen, den sie naß machen und auf den Kopf legen konnten. In jedem Dorfe wurden wir angegriffen und unter Schlägen und Flüchen nach dem folgenden getrieben. Die Dörfer liegen in dieser Gegend sehr dicht bei einander, so daß wir kaum den Pöbel aus dem einen los waren, wenn der aus dem anderen schon an uns herankam. Wir konnten weder Wasser noch Nahrung erhalten. Wie wir uns am Leben erhielten, ist uns selbst nicht klar; tagelang konnten wir uns nicht anders erquicken als in den stinkigen Morästen an der Land straße. Wenn wir in eine Stadt kamen, erging es uns kaum besser. Offenbar war jeder Beamte der Ansicht, daß wohl in dem nächsten Bezirk unsere Nothlage ein Ende finden würde, so kam es, daß, wenn wir im Mmen vorsprachen, wir einige Nahrungsmittel erhielten und dann unter Bedeckung über die „Darf ich also bitten?" sagt« der Beamt«, der an Scenen gewöhnt war und dem die stumme Verzweiflung keinen Eindruck machte. Und widerstandslos läßt Anny Alles über sich ergehen, sie hat das Protokoll angehört und unterzeichnet. Sie sieht den Beamten von einem Möbel zum anderen schreiten und mit ge schäftsmäßiger Gleichgiltigkeit seine blauen Marken darauf drücken, er hat das Nebenzimmer abgesucht, die Schränke ge öffnet und bei Allem und Jedem seine indiscreten Fragen ge stellt, die Anny mechanisch beantwortet. Jetzt legt er die Hand auf den Thüvdrücker zum Eßzimmer — „Um Gottes willen, nicht dort hinein, die Kinder!" stöhnt Anny auf. Ein mitleidiger Blick des Beamten trifft sie. Es scheint ihm nun doch hier «in besonderer Fall vorzuliegen. Eine abgekartete Geschichte war es also wohl nicht zwischen Vater und Tochter. Er möchte etwas Tröstliches sagen und meint: „Na, lassen Sie's gut sein, Fräulein, das kann ja bei den vornehmsten Leuten vor kommen. Schicken Sic nur di« Kinder fort, ich hab' keine Zeit und muß überall Zusehen." Ja, fortschicken, ihre Buben fortschicken, wenn sie die Schwester so voll Angst und Sorge sehen! Keiner folgt ihrer Bitte. „Was Du leiden mußt, leiden wir auch", sagt Hans, und der Beamte seht seine traurige Beschäftigung fort, gefolgt von weitaufg«riss«nen, namenlos entsetzten Kinderaugen. Die Mädchen hat Anny mit einem Auftrage entfernt. Sie wissen zwar bereits, aber sie sollen wenigstens nicht zusehen, wie ihr Elternhaus in Schutt und Schande fällt. Der alten Therese standen Thränen in den ehrlichen Augen, aber sie folgte sofort der Weisung ihres „gnädigen Fräuleins". Und endlich sind die Geschwister allein. Keine Scheu und Scham zwingt ihnen mehr Selostbeherrschung auf, dicht an einandergeschmiegt sitzen sie alle Drei und schluchzen bitterlich. — Das sind keine Thränen, die einem vorübergehenden Leide quellen, ihrem Stolz und Selbstbewusstsein war eine unheilbare Wunde geschlagen. In Anny gewann plötzlich «ine neu« Sorge die Oberhand. Der Vater! — Wo war er jetzt? — Wie war es möglich, daß er fern blieb, wenn er doch wusste, was zu be fürchten war? — War ihm ein Unglück zugestohen? — Oder hatte er selbst sich der irdischen Verantwortung entzogen? — „Nur das nicht, — nur das nicht!" klang es jammervoll in Anny's Seele. Da wird die Thür aufgcstossen. Der Rechts anwalt tritt herein. Nein, er taumelt! Stier blicken seine Augen, sein« Zunge lallt Unverständliche».
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