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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 01.10.1900
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1900-10-01
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19001001025
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1900100102
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1900100102
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- LDP: Zeitungen
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
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77ÜS Grenzrtt de» Bezirk» weitekbefördert wurden, dort aber verließ uns die Bedeckung und wir mußten uns durchschlagen wie zuvor. Fräulein Rice wurde unterwegs, 60 Li nördlich von Tsetschonfu in Schansi, getödtet. Sie und Fräulein Houston saßen am Rande des Weges und sagten, sie möchten sterben, aber weitergehen könnten sie nicht. In der Stadt, durch die wir zuletzt gezogen waren, hatte der Beamte uns cin kleines Silberstück übergeben, das wir in der Hand trugen, da wir es nirgends stecken konnten. Wir gedachten, damit einen Karren zu miethen, und sandten daher zwei von uns nach dem nächsten Dorfe, um zu unterhandeln. Die Bauern verweigerten uns den Karren und schlugen uns gleichzeitig mit einem Knüppel auf die Knöchel, bis wir das Geldstück fallen ließen, dann trieben sie uns vom Wege ab, fern von den Unsrigen. Eben begann es zu regnen. Die Unsrigen, mit Ausnahme der beiden genannten Damen, suchten in einem nahen, leerstehenden Wachthause Ob dach. Dort fiel der Mob über sie her und trieb sic fort. So waren die beiden hilflosen Damen denn sich selbst überlassen; sie wurden todtgeschlagen. Bis wir in Tsetschoufu waren, tonnten wir nichts weiter thun; der dortige Beamte sandte Leute aus, um sich nach dem Thatbestand zu erkundigen. Frl. Rice wurde bereits todtgefunden, Fräulein Houston, obwohl schrecklich zugerichtet, lebte noch. Sie starb später in Aümneng in Hupe, wir brachten ihre Leiche mit nach Hankau, um sie zu be graben. Der Uebergang über den Hwangho war eins unserer peinlichsten Erlebnisse. Das Namen hatte uns Karren gegeben und versprochen, uns übersetzen zu lassen. Allein kaum waren wir in dem Boot, als die Karren davonfuhren und die Bootsleute uns befahlen, wieder an Land zu gehen. Sie wei gerten sich kurzweg, noch irgend etwas mit uns zu schaffen zu haben. Zwei Tage lang saßen wir am Ufer des Flusses und wußten nicht, was thun. Wir waren wie die Israeliten am Rothen Meere. Pharao war hinter uns, weder rechts noch links gab es für uns eine Zuflucht, und hinüber konnten wir nicht. Am dritten Tage besannen die Bootsleute sich plötzlich eines Anderen und setzten uns über. Die erste Stadt, die wir südlich vom Fluß erreichten, war Tschangtschou. Der dortige Beamte, ein bitterer Fremdenhasser, erklärte uns, wenn wir vier undzwanzig Stunden früher eingetroffen wären, hätte er das Vergnügen gehabt, uns Alle zu tödten. Er hatte Befehle, keinen fremden Teufel entfliehen zu lassen, allein die Kaiserin-Wittwe hätte sich ihrer erbarmt und so habe er eben Weisung erhalten, sie sämmtlich als Gefangene nach Hupe zu senden. Wir wurden daher als Gefangene durch Honan von Stadt zu Stadt auf Befehl des Namen weiterbefördert, Einige in Karren, die Anderen hier und da auf den harten Packsätteln von Eseln. Man reichte uns Brod und Wasser, und nirgends erwies man uns irgendwelche Güte, bis wir Sinyangtschou, die letzte Stadt i» Honan, erreichten, wo wir nicht mehr als Gefangene behandelt wurden. Dort trafen wir mit der Familie Glover zusammen, die nach einer ähnlichen Reise wie die unsrige dork angekommen war. Die Beamten von Hupe waren sehr gutmüthig. In der ersten Stadt, in Wngschan, wurden wir mit Nahrungsmitteln uno Kleidern versehen und fünf Tage lang im Namen zurück behalten, weil die Straße nach Süden voll Soldaten war, die aus Peking abgezogen waren, und mit denen zusammenzustoßen nicht geheuer gewesen wäre. Auch die eingeborenen Christen am Orte suchten uns auf und erwiesen uns viel Gutes, ebenso thaten die von Tehugan, Mmneng und Hiaokan. Frau Cooper erlag in Jingschan den erlittenen Unbilden; ihr Leichnam wurde nach Hankau zur Bestattung gebracht. Dort endigte am 14. August unsere zweiwöchige Reise. Es ist ein Wunder, daß noch einige von uns am Leben geblieben sind und ihre Schicksale erzählen können. Politische Tagesschau. * Leipzig, 1. October. Bei der großen Bedeutung, welche die Reise mehrerer preußischer Minister Nach Posen für das Äermant- sirnngSwrrk haben dürfte, ist eS von besonderem Interesse, den Eindruck zu beobachten unv festzustclleu, den die Reise auf diejenigen beiden Parteien gemacht bat, deren Anhänger zwar Deutsche sind, thatsächlich aber eifrige Parteigänger deS Polenthums darstellen. Da ist denn die Uebereinstimmung zwischen Socialdemokratie und KlerikalismuS dahin festzustellen, daß beide die Reise mit jener erkünstelten Ironie behandeln, die das sicherste Zeichen der Beklemmung ist. Bekanntlich war als Zweck der Reise angekündigt worden, vaß eS gelte, die Ausführung von Maßregeln, die zur Hebung des Cult'uruiveaus der Stadt Posen — wie Entfestigung, Errichtung von Theater, Bibliothek, Casino, Stärkung und Hebung des Kleingewerbes und deö Hand werks — geplant waren, endgiltig sestzustellen. Diesen Plan sucht der „Vorwärts" damit abzuthun, daß er erklärt: „Wenn man auf diese Weise durch Theater, Casinos und Mittel- standsretterei Posen gründlich germanisirt haben wird, dürfte es bald überhaupt keine Deutschen mehr in der Provinz Posen geben. Denn diese unglaublich komische Art preußischer Germanisirerei muß jeden vernünftigen Deutschen auf die Seite der Polen treiben." > Die Socialdemokratie maßt sich an, die Partei der Cultur- förderung par excellenes zu sein; hat doch eben erst die socialistische Presse den Mainzer Parteitag ak- ein Werk im Dienste der Cultur hingestellt. Daß diese Partei die Be deutung speciell deS Theaters zu würdigen weiß, ergiebt sich auS der Art, wie sie in Berlin die freien Volks bühnen dem Parteizwecke dienstbar zu machen sucht. Die Socialdemvkratie wird ferner nicht leugnen wollen und können, daß Biblothrken ein Mittel zur Erweiterung der Bildung und damit zur Förderung der Cultur sind. Warum also sollten, wenn ein preußische» Ministerium von derartigen Mitteln Gebrauch macht, aus einmal solche Maßregeln „unglaublich komisch sein"'? Zu solchen Be hauptungen versteigt sich nur die Beklemmung, die auck auS der Versicherung herausklingt, die neu«! Maßregeln würden „jeden vernünftigen Menschen" auf die Seite der Polen treiben. Nach feinem Sprackgebrauche versteht der „Vor wärts" unter vernünftigen Menschen lediglich die Social demokraten, und daß diese auf der Seite der Polen stehen, ist ja bekannt. Elwas Anderes als ein BeklemmungS- shmptom wird die Versicherung deS „Vorwärts" auch dadurch nicht, daß die klerikale „Köln. VolkSztg." erklärt, der einzige Erfolg der Germanisirungspolitik bestehe in der Stärkung der Socialdemvkratie. Daß die Social demokratie wobl gelegentlich deS Erlasses des CultuSministers über den Religionsunterricht, wie auch gelegentlich deS jetzigen Ministerdesuchs in Posen viel von sich reden macht, wissen wir sehr Wohl; ein Blick auf die Wahlstatistik aber zeigt, daß die Socialdemvkratie in der Provinz Posen weniger zu bedeuten hat, als irgendwo sonst. Bei den letzten allgemeinen NeichStagswahlen haben die Socialdemokraten nur in 5 von den 15 Wahlkreisen der Provinz mehr als 100 Stimmen erhalten, nämlich in Posen 620, in Rawitsch 233, in Czarnikau 107, in Bromberg 2930, in Inowrazlaw 553, zusammen 4443 Stimmen. Während die Socialdemokraten bei den Wahlen von 1898 im gestimmten Reiche einen nicht unerheblichen Stimmenzuwachs zu verzeichnen hatten, haben sie in der Provinz Posen sogar an Stimmenzahl angenom men, denn bei den Wahlen von 1893 hatten sie eS auf 4808 Stimmen gebracht. In den Wahlkreisen Posen und Rawitsch hat sich die Stimmenziffer um nahezu die Hälfte verringert und nur im Wahlkreise Bromberg stiegen die Stimmen um etwa 500. Dieser letzterwähnte Wahl kreis ist der einzige unter allen 15, in dem die Social demokraten überhaupt eine wirklich beachtenswerthe Stimmen zahl erlangt haben. Durch die Furcht vor dem rolhen Ge spenst braucht sich also die Negierung nicht abschrecken zu lassen. Die „Köln. VolkSztg." malt aber noch ein anderes Gespenst an die Wand. Sie warnt gelegentlich des Minister besuchs die preußische Regierung davor, „die Wege ein« Gewaltpolitik einzuschlagen, die weder dem Staate, noch dem Deutschthuin, noch dem Protestantismus Erfolge bringen, sondern aus Posen und Westpreußen nur ein zweites Irland schaffen kann . . ." Wenn damit gesagt werden soll, daß in den Polen revolutionäre Neigungen erweckt werden könnten, so braucht das „zweite Irland" nicht erst geschaffen zu werden, denn wir haben cs schon. Der blutige Aufstand von 1848 und manche polnische Kund gebungen seit dieser Zeit haben gezeigt, daß die Polen an revolutionirender Gesinnung und mangelnder Staats treue es dreist mit den Iren aufnchmen können. Im klebrigen hinkt der Vergleich mit Irland ganz gewaltig. Der Haß der Iren gegen die Engländer beruhte in erster Linie auf der brutalen wirthschaftlichen Ausbeutung deS Landes durch die englischen Gewalthaber. Preußen aber bat da» Gebiet der Ostmark wirthschastlich nicht auSgesaugt, sondern im Gegcntheil vom Augenblicke der Besitzergreifung ab ganz außerordentlich gefördert. Auch die Ministerreise hatte die Hebung der wirthschaftlichen Entwicklung im Auge, und deshalb haben die Polen und ihre Freunde allerdings Anlaß zu Beklemmungen, die sich vergebens hinter Drohungen zu verbergen suchen. Recht lehrreiche Vorgänge spielen sich zur Zeit in Württemberg ab, wo die Centrumspartei sich anschickt, bei den bevorstehenden Landtagöwahlen der Volköpartei den üblichen Dank für geleistete Dienste abzustatten und die übliche Strafe für nicht vollständige Unterwerfung zu ver abfolgen. Bei den allgemeinen Neuwahlen um die Jahres wende 1894/95 hatten dort die Volksparteiler, nach der Mehr heit lüstern, dem Centrum ihre Dienste für den Fall ener gischer Gegenleistung angeboten. Der Antrag war angenommen und den CentrumSwählern die Unterstützung volksparteilicher Candidaten als des „kleineren Uebels" anempsohlen worden. Die Folge war, daß die Volkspartei 32 Mandate errang, daö Centrum 20, ebenso viel die Landespartei, während die deutsche Partei (Nationalliberale) cs nur auf 12 Sitze brachte. Seitdem haben die Nachwahlen den demokratischen Besitzstand etwas zu Gunsten der übrigen Parteien ver mindert, immerhin ist er noch stark genug, um der Volks partei einen ausschlaggebenden Einfluß auf die Gesetzgebung zu sichern. Größer aber ist der Verlust dieser Partei an Vertrauen bei den Wählern geworden, die bald nach den damaligen Wahlen inne wurden, daß der Preis, um den man die klerikale Unterstützung erworben hatte, ein sehr theurer war. Um dieses Vertrauen nicht völlig einzubüßen, versagten die volksparteilichen Abgeordneten dem Centrum die HeereSfolge bei der Frage der katholischen Mannerorden, hinsichtlich deren der evangelische Wähler in Württemberg keinen Spaß versteht. Dieses Ver sagen giebt nun den CentrumSführern willkommene Gelegen beit, die Volksparteiler deS schnöden Undanks zu zeihen und sick selbst jeder DankeSpflicht zu entledigen. Sie kündigen an, daß eS jetzt Aufgabe aller katholischen Wähler fei, die Volks partei, deren absolute Mehrbeit zwar ein kleinere- Uebel als eine Mehrheit der deutschen Partei, aber immerhin ein Uebel sei, um diese Mehrheit zu bringen und alle Kräfte eio- zusetzen, um das Ceutrum zum ausschlaggebenden Kammersactor zu machen. Die Bolkspartei ist auch bereits auf einige weitere Verluste gefaßt, wie die fractionSführenden Gebrüder Haußmann jüngst öffentlich erklärt haben. Etwa- spät dämmert ihnen die Einsicht auf, daß ihre Partei vor bald 6 Jahren vom Centrum lediglich dazu benutzt worden ist, die herrschende Stellung der „Deutschen" zu beseitigen, und daß nunmehr der Mohr, nachdem er seine Arbeü gethao, gehen kann. Beklagen dürfen sich die Herren freilich nickt. Ihre Unterstützung deS Centrums entsprang lediglich egoisti schen Gründen und bedeutete «ine Verleugnung alter Grund sätze. Und überdies ist eS eine Kurzsichtigkeit ohne Gleichen, vom Centrum zu glauben, es begnüge sich mit halber Unter werfung und strebe nach irgend etwas Anderem, al- nach der eigenen Herrschaft. - Die Lösung der japanischen LabinetSkrisiS, nach welcher an Stelle des demissionirenden Generals Namagata Marschall Ito treten soll, war vorauSzusehen, nachdem e» Letzterem vor Kurzem gelungen war, eine neue politische Parteigruppe zu be gründen, die eine Vereinigung der liberalen und der Fortschritts partei darstellt und mit über 150 Mitgliedern de« Parlament- inS Leben trat. Marquis Ito hat sich zwar bei der Bildung der neuen Partei ausdrücklich dagegen verwahrt, daß er die Haltung deS Ministeriums mißbillige oder selbst ein Porte feuille erstrebe. Sein einziger Zweck bei Begründung der neuen Partei sei, zu einer erfolgreichen Thätigkeit des kon stitutionellen Systems beizutragen. Gleichwohl ist «S bekannt, daß Ito den Zusammenschluß der liberalen und der Fort schrittspartei zur Voraussetzung der Bildung eines CabinetS machte und eine Reform deS Wahlrechts anstrebt, die ihm auch bei Neuwahlen eine Mehrheit sickern könnte. Die neue Partei nennt sich kiklcen tei-zu Lai, die konstitutionelle politische Gesellschaft, und ihr Streben wird, wie Marquis Ito in einem von ihm Ende August veröffentlichten Mani fest erklärt, dahin gerichtet sein, streng auf Beobachtung der Constitution deS Reiches zu achten, die Ernennung von Be amten als Belohnung für geleistete politische Dienste zu be kämpfen, die Rechte und die Person der in Japan lebenden Ausländer zu schützen, für Stärkung der Ver- theidigungömittel des Landes zu sorgen, soweit wie möglich locale Selbstregierung einzuführen, den Wohlstand deS Landes durck Förderung von Landwirthschaft, Industrie und Handel zu heben, den LolkSnnterrickt zu erweitern und die alten Mißstände, unter denen das Land jetzt leidet, zu beseitigen. Es ist ein ideales politisches Programm, das Marquis Ito in diesem Manifest aufgestellt hat. An die Spitze der Regierung berufen, wird er reichliche Gelegenheit erhalten, es zürn Besten seines Vaterlandes zu verwirklichen. Der Wechsel im Regiment wird vor Allem in der Behandlung der auswärtigen Politik zum Ausdruck kommen. Denn Jamagata war in der Hauptsache dadurch zum Rücktritt genötbigt worden, daß die liberale Partei mit der Leitung der auswärtigen Politik durch Aoki nicht ein verstanden war, weil dieser nack ihrer Meinung in der koreanischen Frage nicht genug Entschiedenheit zeigte und nicht hinreichend den Einfluß Japans in internationalen Fragen zur Geltung brachte. Wie sich der Rücktritt Aoki'S im Augenblick geltend machen wird, bleibt abzu warten. Ito wird jedenfalls nicht mehr Rücksicht auf China nehmen, als bisher geübt wurde, denn in dem Programm seiner A§ .grr spielt die chinesische Frage und die Befestigung deS japanischen Einflusses in China nicht die geringste Rolle. — Marschall Uamagata ist, wie sein Nachfolger im Amte, einer der Schöpfer des modernen Japan. Als Vertreter deS Mikado anläßlich der jüngsten Zarenkrönung nach Moskau entsandt, hatte der Marschall auf der Reise nach Rußland auch in Berlin mehrere Tage geweilt. Den Marschallstab errang sich Aamagata im Kampfe gegen China. Er hat jedoch nur den ersten Theil deS Feldzuges geleitet, da ihn Gesundheitsrücksichten zur Niederlegung des CommandoS zwangen. Ito besitzt europäische Bildung, die Aamagata fehlt» wenn dieser auch die westlichen Lander bereist hat. Marquis Ito Hal schon wiederholt an der Spitze der Ge schäfte gestanden. Die Verantwortung dafür, daß Japan im Frieden von Shimonoseki einen Theil der SiegeSbeute heraus- zugeben gezwungen war, lud man aus ihn, weshalb er da mals zurücktreten mußte. Deutsches Reich. U Berlin, 30. September. (Die Einwirkung der neuen UnsallversicherungSgesetze auf den NeichS- hauühaltsetat.) Der ReichShaushaltSetat weist in ver schiedenen Theilen Positionen auf, welche die zur Bestreitung der Kosten der Unfallversicherung nöthigen Summen enthalten. DaS ist beispielsweise der Fall bei den Etat- der HeereS- und der Marineverwaltung, la denen die Ausgaben für Arbeiterversicherung überhaupt recht beträchtliche Höhen er reicht haben; aber auch bei den Etat- der eigentlichen Be triebsverwaltungen, wie Reichsdruckerei u. s. w. Da durch die neuen UnsallversicherungSgesetze den Versicherten und deren Hinterbliebenen weit umfassendere und reichlichere Unterstützungen zugesichert sind, so werden sick dem gemäß auch die Lasten, welche die verschiedenen, an dieser Versicherung iateressirten ReichSverwaltungen zu tragen haben, erbohen. Man wird also daraus rechnen können, daß die betreffende» Positionen der verschiedenen Verwaltungen in dem ReichShaushaltSetat für 1901 Steigerungen werden aufzuweisen haben. Zwar ist bisher fast m jedem Jahre namentlich infolge der voraussichtlichen Zunahme der ver sicherten Personen ein Anwachsen der für die Unfallversicherung auSgeworfeoen Betrage zu beobachten gewesen, jedoch dürfte diesmal die Vergrößerung der Lasten eine besondere Erhöhung nöthig macken. Auf jeden Fall wird auch daS Reich als einer der größten Arbeitgeber durch die Erhöhung der Kosten, welche die neue Unfallversicherungsgesetzgebung herbeigeführt hat, mit betroffen werden. — * Berlin, 30. September. (Von der eigenmächtige» Aenderung der Familiennamen.) , Der preußische Minister des Innern weist in einer gerade im Augen blick, wo die Polenfrage in Folge der ministeriellen Confe- renzen in Posen wieder auf der Tagesordnung steht, beachtenS- werthen Verfügung, die im „Min.-Bl. f. d. i. Verw." ver- öffenilicht wird, darauf hi», daß daS Kammergericht seine frühere NechtSauffassung, wonach die Anwendung einer veränderten Schreibweise des Familiennamens, wofern nur der gesprochene Name derselbe bleibe, straflos sei, in einem Erkenntoiß vom 12. April d. I. aufgegeben und grundsätzlich anerkannt hat, daß jede schriftliche Abweichung von dem richtigen Namen als eine Aenderung im Sinne der CabiuetSordre vom 15. April 1822 auzusehen sei. Dem Urtheil lag der Thatbestand zu Grunde, daß ein im Kirchenbuche mit dem Namen Schulz bezeichneter Sohn schreibensunkundiger polnischer Eltern, der sich ebenfalls für einen Polen hielt, in einem amtlichen Protokoll mit Szulc unterschrieb und erklärte, daß er sich auch ferner so schreiben werde, obwohl ihm eröffnet war, daß die richtige Schreib weise seines Namens Schulz sei. Der Zweck der Bestimmung der CabinetSordre, wonack die Aenderung des Familiennamens ohne unmittelbare landesherrliche Erlaubniß verboten ist, sei der, eine Verdunkelung der Persoaen-Identität zu verhindern; dieser Zweck könne nur erreicht werden, wenn «in Zwang bestehe, den richtigen Namen auch richtig zu schreiben; des halb sei jede schriftliche Abweichung von dem richtigen Namen als eine Aenderung deö NamenS im Sinne der CabinetSordre anzusehen. Nur bei dieser Auslegung der fraglichen Vorschrift sei ein fester Boden gewonnen. Dieses Urtheil wird dazu dienen, der Polonisirung deutscher Namen, die in den Ost marken einen großen Umfang angenommen hatte, Einhalt zu thun. — Dem Buudesrath wird binnen Kurzem der Ent wurf einer Verordnung, betreffend die Beschaffung von Sitzgelegenheit für die Angestellten in offenen Ver kaufsstellen, zugehen. — Die Angabe, daß der Colonialrath vor seiner Einberufung stände, ist, der „Dtsch. TgSztg." zufolge, irr- thümlich. Sicherem Vernehmen nach sei der Termin für die Eröffnung seiner Session noch gar nicht abzusehen, da die Berathungen über die Feststellung des Etats für die Schutz gebiete noch gar nicht mit dem Reichsschatzamte begonnen haben. Die Einberufung werde bestimmt nicht vor dem Monat November möglich sein. Als Hauptberatlmngs- gegenstand gehen dem Colonialrathe die Etats der Schutz gebiete, wie alle Jahre, zu. — Der Minister des Innern hat zur Beseitigung von Zweifeln bestimmt, daß bei Uebertretungen der Straf bestimmungen in tz 33 des ReichSmilitärgesetzeS (Unter lassung der Anmeldung zur Stammrolle oder der Gestellung vor den Ersatzbehörden) die Festsetzung der Strafe fortan regelmäßig im Wege deS amtsrichterlichen Strafbefehls gemäß § 447 der Strafproceßordnung durch Vermittelung der Staatsanwaltschaft beantragt werden soll. Die Be strafung dieser Uebertretungen darf also nicht mehr durch polizeiliche Strafverfügung erfolgen. .. .. — Die Berliner Webermeister und Weber gesellen haben eine Eingabe an das Gewerbe gericht gerichtet, damit dieses zur Aufbesserung der bisher gezahlten Löhne mit den Unternehmern Fühlung nehme. Es handelt sich lediglich um Handweber, Gewerbetreibende, deren Zahl auch in Berlin immer mehr abnimmt. Selbst die Meister rathen davon ab, dieses Handwerk zu erlernen. Im Allgemeinen wird von den Arbeitgebern die trostlose Lage und der geringe Verdienst ihrer Arbeiter zugestanden. Die Einführung der Maschinen und die große auswärtige Concurrenz sollen Schuld daran sein. In zwei kürzlich abgehal tenen Besprechungen wurde von einem Theil der Arbeit geber auf dem Gewerbegericht bemerkt, daß eS sich sehr wobl durchführen lassen müsse, den Webern für die Zukunft wenigstens eia Entgelt für die Vor- und Nebenarbeiten, was jetzt nur ausnahmsweise geschieht, regelmäßig zu gewähren. „Dater, mein armer Vater!" schreit Anny auf. „Ein schlechter Kerl bin ich, — ein — ein Um Alles hab' ich Euch gebracht. Alles verloren. Mein Hab und Gut, — Alles, was Dein war, Anny, Alles! — Verfluche mich nicht, vergieb mir, wenn Du kannst! — Ich wollte ja Alles ersetzen, — darum, darum damals — ich konnte Fred keine Rechenschaft ablegen über Dein Vermögen, ich fürchtete Deine — Verachtung, darum! Nun ist's doch so weit. — Erbarm' sich Gott!" „Armer Vater", sagte Anny leise, „was mußt Du gelitten haben!" „O, Kind, das verdien' ich nicht um Dich!" — Und schluch zend brach der starke Mann zusammen. Auf Anny's Wink hatten die Knaben sich rasch entfernt. Anny blieb bei dem Vater und ließ ihm den Trost, sich in Worten und Selbstanklagen endlich einmal zu lösen von der lange verschwiegenen Qual seines Lebens. Er hatte gespielt, erst zum Vergnügen, wie Andere auch, 'dann war er in Schulden gerathen, und immer enger hatte die Leidenschaft ihn umgarnt, immer trügerischer ihm die Er lösung aus allen Schwierigkeiten vorgegaukelt, bis auch der letzte Besitz dahin, und alle, alle Hilfsquellen erschöpft waren. Noch heute Morgen hatte «r am Spieltisch gesessen mit der wahnsinnigen Hoffnung, endlich müsse doch das Glück ihm hold sein, und er würde mit dem Gewonnenen die drohende Gefahr im letzten Augenblick noch abwenden können. Es war ihm nicht gelungen. Was er hennbrachte in sein leeres Haus, das war «ine Last von „Ehrenschulden", die zu tilgen er niemals hoffen konnte. „WaS nun, was nun? Soll ich mich tödten?" „Nein, Vater, arbeiten und Alles wieder gut machen, daS ist der einzig« Weg der Ehr«, den der Mensch gehen soll, ver gefehlt hat", sagte Anny ernst. „Du ahnst ja gar nicht, wie viel es ist — und wie viel kleine Schulden." Anny lief es «iskalt über den Rücken. So also stand es! Geächtet würden sie nun leben müssen, angesehen als Betrüger, die selbst in Glück und Glanz gelebt von sauer «rworvenem Geld« Anderer. O, der Pein, der Schmach! — Und nichts besaß sie mehr, sich von der Mitschuld loszukaufen. Nichts, was sie hin geben konnte, den Namen des Vaters reinzuwaschen. — Ihr Ver stummen erweckte wieder die Selbstanklage des Vaters. Anny begriff die Menschennatur nicht mehr. Sie hatte den Vater ge- iannt, weich, gutherzig und liebenswürdig; sie hatte ihn in wilder Gereiztheit gefthen, hart und brutal. — Dies schwäch lich« Weinen und Klagen hätte sie nimmermehr von ihm er wartet, ihr feine» Empfinden 'ward davon -urückgestoßen. Und doch jammerte sie der Unglückliche. — Sie versucht« sich Klarheit zu verschaffen, zu übersehen, was in der schlimmen Lage, in der sie sich befanden, zu thun sei. Der Rechtsanwalt beschönigte nichts mehr, er war völlig muthlos. Ruhelos lief er im Zimmer auf und ab und beantwortete die leisen Fragen Anny's. Plötz lich blieb er stehen. „Etwas Geld hast Du doch noch?" fragte er, „es ist ja erst Monatsanfang." „Ich gab Alles hin", sagte Anny. „Wie konntest Du das!" fährt der Rechtsanwalt auf. „Nun ist Alles aus. — Die Depots — es wäre möglich, daß etwas daran fehlt. — Mein Gott, wie konntest Du nur hingeben, was Du doch zur Wirthschaft nöthig hast?" Anny beachtete den ungerechten Vorwurf gar nicht. Sie be greift nur zu gut. „Die Kinder", flüstert sie fast scheu, „ich dachte nicht daran, als der Beamt« nach dem Gelde fragt« — Du hast sie oft reich beschenkt und es machte ihnen so viel Freude, selbst zu sparen." „Wieviel kann es sein?" „Ich werde nachsehen." Kurze Zeit darauf kommt Anny zurück, die Hände voll blanker Goldstücke. Nach und nach hatten die Knaben ihre Silbermllnzen in diese funkelnden Schätze verwandelt, nun konnten sie vielleicht dazu dienen, des Vaters Ehre zu retten. Der Rechtsanwalt überzählt das Geld und athmet auf. „Es wird genügen", sagt er, „ich hatte ja nur «ine Kleinigkeit ge braucht." Für heute ist Anny nicht länger fähig, dem Vater Stand zu halten. „Ich muß nun mit den Dienstboten reden, sie sind eben zu- rückgekommen, und sie entlassen." „Wozu? Schicke das Stubenmädchen fort, Therese wird ohnehin jetzt nicht von Dir und den Kindern fort wollen." „Das muß sein", sagte Anny hart. „Unsinn! Ehe hier Alles geordnet ist, können Wochen ver gehen! Wie willst Du Dir allein helfen? Das geht nicht." Anny zuckte di« Achseln. Sonderbar, danach fragt« der Dater; wie aber das Leben werden sollte, das hat ihn nicht ge kümmert, als «r Stein um Stein loSbröckelt« von der Existenz der Seinen. „Willst Du «twas genießen?" fragte sie statt aller Antwort. „Schicke mir nur Thee in mein Zimmer, ich werde Nachsehen, was sich an Außenständen noch einziehen läßt, ich werde es Dir geben, bei mir ist's nicht sicher — natürlich darfst Du es nicht wieder herausgeben!" „Wenn man «S mir nicht abfordert, nein —" „Das darf man nicht! Fragen werden sie freilich danach, aber Du sagst dann, daß Dir nur das Nöthigste für den Haus halt blieb und — ja so — Du kannst ja dann den Kindern vor läufig das Ihrige wiedergebcn." „Kann denn das — wie heute — sich noch einmal wieder holen?" fragte Anny ganz entsetzt. „Wahrscheinlich noch öfter! Das ist nun einmal so, ich kann daran nichts ändern. Wie siehst Du mich denn an? So furchtbar ist doch am Ende die Sache nicht. Das ist schon ganz anderen Leuten passirt." Ein bitteres Gefühl stieg in Anny auf, das jede Regung des Mitleids und der Kindesliebe zu vernichten drohte. Sie wandte sich schweigend und ging hinaus. — In ihrem Kopfe fühlte sie eine dumpfe Schwere. Es ward ihr so schwer, irgend «twas zu denken. Und doch galt es nun zu handeln. Und nun begann«» für Anny Tage der rastlosesten, auf reibendsten Thätigkeit. — Ihr Leben lang war ihr schwere Arbeit fern geblieben, nun erst sah sie, welche Anforderungen ein solcher Haushalt an die Arbeitskraft eines Menschen stellt. Es war, als ob ein neuer Feind sich eingestellt habe, der sie allein zum Kampfe herausforderte — der Schmutz. In Decken und PortiSren, auf den Tischen, den Dielen und Schränken versuchte er sich einzunisten, und wie ihre Hände ihm auch zu wehren suchten, er war überall und griff immer von Neuem an, wenn sie eben geglaubt hatte, seiner Herr zu sein. Es war eine wilde Hatz, in die er daS arme Mädchen trieb, die mit blutenden Händen, in völlig ungeeigneter Kleidung gegen ihn ankämpft«. Mitleidig sprangen die Knaben ihr bei und halfen in rührendster Weise, wie und wo sie konnten. Hans putzte die Stiefel und scheuert« heimlich manchmal in der Küche, der armen Schwester zu helfen. Ernst half beim Aufwaschen, wenn ihm seine Schul pflicht Zeit dazu ließ. Der Rechtsanwalt sah schon nach kurzer Zeit Anny's verhärmtes Aeußere und grollte ihr laut und leise darum. „Wriberlaunen, Eigensinn", schalt er ihre Handlung, „wa rum hat sie dir Ther«se nicht behalten." Und dann kam es, daß die vielfach gepfändet«» Möbel ab geholt und in die Pfandkammer geschafft wurden, nur di« ärm lichste und nothweNdigste Habe verblieb den Armen und starrt« sie schreckhaft auS den leeren Gemächern an. Der HauSwirth hatte den Rechtsanwalt bedeutet, daß er in drei Tagen di« Woh nung räumen müsse, da die QuartalSmiethe noch nicht be zahlt war. In der Schlotftgergasse fand Anny eine kleine M«bel- wohnung, auS zwei Zimmern und Küche bestehend, die sie auf ein halbes Fahr im Voraus bezahlen konnte, und in der sie mit den Ihren vor dem Winter ein Unterkommen fand. Der Rechts anwalt war mürrisch und aufs Tiefste gereizt. Alle seine Pläne hatte ihm dieses Mädchen, seine eigene Tochter, ver eitelt. Es war ihm geglückt, noch eine kleine Summe aus seinen Außenständen einzuziehrn, ehe auf seine Bücher Beschlag gelegt war. Davon hatte er Anny ein«n Theil «ingehändigt und wollte mit dem Reste Nürnberg verlassen und sich in Norddeutschland, Berlin oder Hamburg, als Rechtsanwalt niederlassen. Anny hatte ihm mit kühler Ruhe auseinandergesetzt, daß er das nicht dürfe um des Namens willen, den seine Knaben trugen. Sein Fortgehen, ehe seine Angelegenheiten geordnet waren, hätte man als Flucht auffassen können, und der Concurs, den er selbst nicht hatte anmelden mögen, hätte ihm von Gerichts wegen als ein „betrügerischer" angerechnet werden können. Zudem war der Vater nahe an 60 Jahre, tief verschuldet, krankhaft nervös, wer hätte ihm wohl den nothwendigen Credit geben sollen, sich in einer fremden Stadt anständig niederzulassen und die Clienten abzuwarten? — Hier in Nürnberg kannte und schätzte man doch seine juristische Befähigung, und mochte man seine privaten Ver hältnisse noch so scharf beurtheilen, «s würde doch Manchen nicht abhalten, dem gewiegten Rechtsanwalt« wieder einen Pro- ceß zu übertragen, wenn der staubaufwirbelnde Scandal sich erst beruhigt haben würde, und wenn der Rechtsanwalt in eigener Angelegenheit so verfuhr, daß kein Makel an seiner Ehre hängen blieb. — All' -diesen Argumenten hatte der Rechtsanwalt sich fügen müssen und ihre Richtigkeit widerwillig genug anerkannt. — Wie es möglich war, daß sie, die Unerfahrene, dem in seinem Berufe wohl Bewanderten solche Vorstellungen machen mußt«, begriff Anny nicht. Er, der für Ander« sah, war in eigener Sache blind. Oder vielmehr, er wollte es sein! Er wollte das, was ihm für den Augenblick das Bequemere schien, er wollte sich all' dem unangenehmen Aufsehen, das seine Vermögenszerrüttung machte, entziehen; er wollte sich nicht schäm«n müssen vor einem ihm begegnenden Bekannten und wollte doch schamlos handeln an seinen eigenen Kindern. Und daß ihm Anny nicht half in diesem thörichten Selbstversteck, daß sie ihn zwang, seine Handlungen klar zu sehen, das weckte «inen Groll und Haß in ihm, gegen sich selber, gegen Anny, gegen die ganze Welt. (Fortsetzung folgt.)
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