Suche löschen...
02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 01.09.1900
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1900-09-01
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19000901020
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1900090102
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1900090102
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1900
- Monat1900-09
- Tag1900-09-01
- Monat1900-09
- Jahr1900
- Links
-
Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
Vez«s-.Prer» der Hauptexpedition oder den i« Stadt- tezirk und den Bororten errichteten Aus- Vbestellen abgeholt: vierteljährlich ^l4.50, oei zweimaliger täglicher Zustellung in« Hau« ÜLO. Durch die Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: vierteljährlich 6.—. Direkte tägliche Kreuzbandiendung tu« Ausland: monatlich 7.öO. Di« Morgen-AuSgabe erscheint um '/,? Uhr, dir Abend-Ausgabe Wochentags um ü Uhr. Ne-action und Expedition: Johanntsgasfe 8. Die Expedition ist Wochentags ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis Abends 7 Uhr. Filialen: Alfred Hahn vorm. v. Klemm'» Lortt». Uu'persitütsstrajze 3 (Paulinum^ Louis Lösche, RMtznotnentzr. 1», Part, und Söntgsplatz 2. Abend-Ausgabe. ttDtzcr TligMM Anzeiger. Amtsblatt -es Lömgkichen Land- und Amtsgerichtes Leipzig, -es Mathes und Polizei-Amtes -er Lta-l Leipzig. Anzeigerr-Prel- die 6 gespaltene Petitzeile 20 Pfg. Reclamen unter dem Redactionsstrich («ge spalten) SO^j, vor den Familieunachrichten (6gespalten) 40^. Größere Schriften laut unserem Preis- verzeichniß. Tabellarischer und Zisfernsatz nach höherem Tarif. Sxtra-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderun» 60.—, mri Postbeförderung 70.—. Ännahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Vormittag- 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittags 4 Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je ei« halbe Stunde früher. Anzeigen find stets an die Expeditto» »« richten. Druck und Verlag von E. Pol» tu Leipzig 94. Jahrgang 445 Sonnabend den 1. September 1900. Die Wirren in Ehinn. —t>. Das Ereigniß des Tages und der Gegenstand allge meiner Diskussion ist der Vorschlag RutzlandS, die internationalen Truppen aus Peking zurückzuziehen, um die Rückkehr des kaiserlichen Hofes und den Beginn der Friedens verhandlungen zu ermöglichen. Wir haben uns schon zur Sache geäußert. Heute schreibt die „Köln. Ztg." ganz unserer Auf fassung entsprechend: Mittheilungen aus Washington gehen dahin, daß von Ruß land und Amerika Vorschläge zur Einleitung oder Erleichterung von Friedensverhandlungen unterbreitet worden sind, die keine allgemeine Zustimmung gefunden haben. Das war zu erwarten, denn man sollte glauben, daß solche Verhandlungen nicht eher Aussicht auf irgend welchen Erfolg versprechen können, als bis die Thatsachen, die zu dem chinesischen Feld zug Anlaß gegeben haben, genügend geklärt sind. Die Berichte der Gesandten, die allein eine solche amtlich maßgebende Klärung zu bringen vermögen, stehen aber immer noch aus, und wer bestrebt ist, sich ein Bild der Vorgänge in Peking zu machen, ist nach wie vor auf die Darstellungen privater Berichterstatter angewiesen. An solchen ist heute zunächst ein Reuter-Telegramm vom 14. August nach zutragen. Darin heißt es: „Wir fanden die Vertheidiger der Gesandtschaften in weit besserer Gesundheit und Verfassung, als wir erwartet hatten. Sie hatten keinen Mangel an Nahrungs mitteln gelitten, wenn sie auch gezwungen waren, Pferdefleisch zu essen. Das Tsung li. Damen hatte allerdings versprochen, Lebensmittel zu senden; Alles aber, was ankam, waren einige Wassermelonen. Als frisches Fleisch verlangt wurde, antwortete der chinesische Beamte, daß Kriegszustand bestehe und daher das Gesuch nicht bewilligt werden könne. Die Chinesen führten thre Angriffe mit einer Rachsucht aus, die nicht ihresgleichen hat. Vor wenigen Tagen wurden noch überall Maucranschläge an geheftet, durch die bekannt gemacht wurde, daß alle Fremden binnen fünf Tagen ermordet sein müßten. Nur die Feigheit des Feindes, der thatsächlich nicht wagte, sich in ein Handgemenge mit den Europäern einzulassen, verhinderte die Ausführung dieses Gebots." Eine zweite Reutermeldnng vom 18. August sagt, man nehme an, daß der Kaiser und Prinz Tsching sich noch im Palast befänden, die Kaiserin-Wittwe sei geflohen, ver- muthlich nach Siangfu (nach einer Meldung des Vertreters des „Standard" jedoch nach Nordwestcn, nach Kalgan). „Baron von Ketteler's Leichnam", so fährt Reuter fort, „wurde in einem chinesischen Sarge unter einem Haufen Sand in der Nähe des Platzes gefunden, wo er er mordet worden war, so daß die von dem Tsung-li Damen er zählte Geschichte, daß die Leiche in einem Hause untergebracht und dort bewacht worden sei, wie viele andere derartige Behaup tungen, eine Lüge ist. Hätten nicht zufällig Eingeborene über die Sache gesprochen, so wäre die Leiche wahrscheinlich nie mals gefunden worden. Sie ist jetzt im Garten der deutschen Gesandtschaft beerdigt worden. Eines der schlimmsten Dinge, die in Peking vorgekommen sind, ist,die entsetzliche Schän dung des ausländischen Kirchhofes, der sich außerhalb der westlichen Mauer befindet. Die Einzelheiten sind zu empörend und schrecklich, als daß man sie wiedergeben könnte. Täglich werden neue Grausamkeiten der Chinesen bekannt, und Jeder ist überzeugt, daß nur die strengste Strafe, die womöglich das ganze Volk treffen muß, genügen kann. Man ist allgemein der Ansicht, daß die Chinesen, wenn die kaiserliche Stadt nicht dem Erdboden gleichgemacht und der Palast zer stört wird, dies wahrscheinlich als ein Zeichen der Fonillrtsn. Jlonka. Sj Roman von C. Deutsch. Nachdruck verboten. Der Blinde könnt« heute das Alleinsein nicht ertragen, er kam wieder in die Stube und setzte sich an den Tisch. Der matte Schein der Oellampe fiel auf sein Gesicht und zeigte dessen auffallende Blässe und Aufgeregtheit. „Warum geht Ihr nit schlafen, Vater?" fragte der Sohn mit erheuchelter Zärtlichkeit. Wie früher Janos, so zitterte er jetzt bei jedem Geräusche, bei jedem Schritte, der draußen er tönte. Wenn Juran käme, bevor er ihn sprach!! . . . „Warum sollte er eigentlich zu mir kommen?" fragte plötzlich Janos und erhob sich. Er stand aufrecht, und seine gebeugte, zusammengesunkene Gestalt schien höher und gerader geworden zu sein durch den Entschluß, der ihn überkommen. „Er soll nicht zu mir kommen, ich geh zu ihm." „Seid Ihr verrückt?" schrie Lajos außer sich. „Ihr wollt zu ihm, der Vater zum Sohne?" „Ich, der Vater, zu meinem Sohne", sagte der blinde Mann, und noch nie hatte seine Stimme einen solch' weichen, innigen Klang gehabt. „Und ich sag', Ihr werdet das bleiben lassen", rief Lajos und versuchte, ihn auf seinen Platz zurückzudrücken. Es war ein momentaner Erwachen seiner alten Kraft, daß ihn der Blinde von sich abschüttelte und der Thür zuschritt. Lajos eilte ihm nach und riß ihn mit roher Hand von der Thür weg; da trat Marie für den Schwiegervater ein: „Du kannst ihm nit wehren, wenn er sich den Sohn holen will." „Dir ist's gewiß recht. — Möchtest wohl selber zu ihm hin gehen." „Warum nit, es ist ja der Schwager." Wer weiß, wie dieser Auftritt geendet, wenn in diesem Augenblicke nicht die Thür aufgerissen worden und Martha hereingestürzt gekommen wäre. „Juran kommt!" rief sie. Wirklich ließen sich in diesem Augenblicke Schritte draußen hören. Es war ein kräftig widerhallender Tritt, der erst vor den Fenstern ertönte, dann im Hofe, auf dem Flur und endlich vor der Thür. Den Blinden durchfuhr es wie ein elektrischer Strom. Er zog sich in das Zimmer zurück und lehnte sich dann an die Wand, um nicht umzusinken. Die Thür ösfnete sich, und ein Mann Schwäche und Furcht der Mächte auffafsen würden, woraus dann leicht in der Zukunft weitere Unruhen entstehen könnten." Deutlich, wie alle bisherigen Berichte ohne irgend eine Aus nahme, weisen auch diese neuesten Schilderungen darauf hin, daß der schändliche Bruch des Völkerrechts, der in Peking verübt wurde, nicht nur der chinesischen Re gierung zur Last zu legen ist, bei der die Gesandten der Mächte beglaubigt sind, sondern daß diese Regierung auch mit abgefeimter, schurkenhafter Grausam keit bei ihrem Verbrechen Werke gegangen ist. Es ist immerhin möglich, daß die Berichte der Gesandten diese An schauung noch in dem einen oder andern Puncte berichtigen, aber wahrscheinlich ist das nicht, da ihre bis jetzt bekannt ge wordenen Telegramme sich alle in derselben Richtung bewegten. Als unumstößliche Thatsache steht fest, daß der deutsche Ge sandte und der Kanzler der japanischen Legation von chinesischen Soldaten ermordet und daß die übrigen Vertreter der Mächte durch chinesische Truppen belagert und angegriffen worden sind. Angesichts dieser Thatsachen einigten sich die betheiligten Staaten auf das berühmte Programm der drei Puncte: Befreiung der Gesandten, Bestrafung der Schuldigen und Aufrichtung von Bürgschaften für die Zu kunft. Bis jetzt ist nur der erste Punct erledigt. Nun ist ja freilich nicht ausgeschlossen, daß durch Friedensverhandlungen auch jetzt schon die beiden anderen Puncte eine befriedigende Erledigung finden können, aber alle Kenner der Verhältnisse, welcher Nationalität sie auch angehören, stimmen darin überein, daß das nur dann möglich ist, wenn die Verhandlungen mit den verantwortlichen Personen selbst stattfinden und wenn sie durch militärische Zwangs- und Machtmittel den in China stets nöthigen Nachdruck erfahren. Wo aber sind diese ver antwortlichen Personen, der Kaiser, die Regentin und ihre Rathgeber? Wo sind die Schuldigen, die versucht haben, die landesübliche Prahlerei, „vom Fleische der Fremden essen und auf ihrer Haut schlafen" zu wollen, in die That zu übersetzen? Wo sind die Leute, mit denen man für die Zukunft wirkungsvolle Bürgschaften aufsctzen und die man für die Beobachtung solcher vertrag lichen Abmachungen zur Rechenschaft ziehen kann? Niemand weiß es. Li-Hung-Tschang, der Allerweltsunter händler, der sich aber- und abermals angeboten und aufgedrängt hat, solche Verhandlungen zu führen, ist, wie verlautet, noch vor ein Paar Tagen ziemlich einstimmig von den Mächten zurück gewiesen worden. Wollte man unmittelbar nach dieser Ab weisung, in der Amerika mit Deutschland einig war, auf den Mann zurückkommen, so würde das in seinen Augen und nach der Auffassung aller Chinesen einen Triumph bedeuten, den sie höher schätzen würden, als einen Schlachtensieg, und der es ihnen unzweifelhaft erscheinen lassen würde, daß ihre Speculation auf die Uneinigkeit der Mächte richtig und bei den Ver handlungen ein günstiger Ausgang ihnen sicher sei. Weiter geht der „Köln. Ztg." über die Ltcllnngnahme Deutschlands folgende, vom officiösen Draht verbreitete, zweifellos die Auf fassung unseres Auswärtigen Amtes wiedergebende Berliner Correspondenz zu: In einem Artikel der „Kölnischen Zeitung" aus Berlin von heute über die russische Note, betreffend die Räumung Pekings wird ausgeführt, der Vorschlag Les russischen Mi nisters des Auswärtigen gehe auf ein Allen sicherlich will kommenes Ziel hin, nämlich die Beschleunigung der Friedensverhandlungeu, aber es werde bei aller Beach- erschien auf der Schwelle. Die breite Brust, die mächtigen Glieder, das nicht schöne, aber kräftige Gesicht mit den ernsten, klaren Blick der Augen! . . . wer hätte nicht Juran erkannt? Suchte sein Blick zuerst den Vater? Lajos und Marie standen ihm näher. . . sein Auge fiel zuerst auf die ergraute, gebeugte, in diesem Augenblicke fast zusammengesunkene Gestalt in der ent ferntesten Ecke dort. Einen Augenblick blieb er bei diesem An blick wie festgewurzelt stehen, dann eilte er auf ihn zu und er griff seine Hand. „Vater, verzeiht, daß ich nicht gleich kam", sagte er mit tiefer Bewegung, „aber ich wußte nicht, daß Ihr so elend seid, wußte es nicht, bis Martha kam, und es mir sagte." Weiter kam er nicht, denn jetzt riß es sich los aus der Brust des alten Mannes: zuerst ein Schrei, laut und herzzerreißend, dann ein heißes, erstickendes Weinen. Die Glieder des Blinden bebten, seine Brust arbeitete heftig, jede Muskel seines Antlitzes zuckte. Er entriß seinem Sohne die Hände und rief: „Rühr' mich nit an, rühr' mich nit an! Befleck' nit Deine Hand an mir, dem Verbrecher! Ich hab' Dich tödten wollen, meine Hand hat Dich mit Willen und Ueberlegung in die Tiefe gestürzt." Was all' die Jahre in ihrer Qual und Selbstanklage, in ihrer bitteren Reue nicht vermocht, that dieser Augenblick, er sprengte die Gruft, die das Mheimniß so lange geborgen. Lajos und Marie standen sprachlos da. Das war also der Grund der furchtbaren Veränderung, die sie der Krankheit zugeschrieben hatten! Nochmals faßte Juran die Hand des blinden Mannes und zog ihn mit sanfter Gewalt bis zum Tische, wo er ihn sich setzen ließ; die Hand in der seinen behaltend, setzte er sich neben ihn und sprach ihm tröstend und beruhigend zu. Jedes seiner Worte, jeder seiner Blicke fiel wie ein Thautropfen auf das aufgeregte Gemllth des blinden Mannes. Dieses Ge fühl des tiefen, innigen Beseligtseins hatte Janos noch nie em pfunden; es war ihm, als wäre er erst jetzt geboren, zur Welt gekommen mit einem reinen, kindlichen Gemllth, und der Janos Molnar von früher wäre er gar nicht, wäre ein Anderer ge wesen. Juran erhob sich und begrüßte dann Bruder und Schwäge rin. Marie erröthete tief, als sie ihre Hand in die ihres Schwa gers legte, und bei Lajos stieg die Eifersucht heiß im Herzen auf- Juran war noch stattlicher geworden. Die deutsche Tracht und der dunkle Voll- und Backenbart gaben ihm fast das Aussehen eines Herrn. XVIII. ' Jlonka hatte sich sehr bald in die neuen Verhältnisse hinein gefunden. Am Abend war sie gekommen, und am anderen Tage tung, die man den russischen Vorschlägen naturgemäß entgegen bringe, sehr ernst zu prüfen sein, ob die Ausführung Les russischen Planes auch geeignet sei, feinen Zweck, einen schnellen Friedens schluß herbeizusühren, zu fordern, zu dem Ende werde man sich vor Allein fragen müssen, welchen Eindruck die Räumung Pekings auf die chinesische Bevökcrung hervorbringen würde. Die Europäer könnten sich jagen, daß sie im Gefühle ihrer Kraft zurückweichen, nur, nachdem der erste Zweck ihrer Expedition, die Befreiung der Gesandten und Untcrlhanen, erreicht sei, dem Gegner eine goldene Brücke zu bauen. Es sei aber sehr fraglich, ob sich auch die Chinesen zu dieser Objektivität der Anschauung würden aufschwingen können, oder ob nicht vielmehr die Wahr scheinlichkeit dafür spräche, daß sie die Räumung Pekings als Schwäche oder gar als Niederlage der verbündeten Truppen ansehen würden. Die Chinesen seien bekanntlich Meister in der Entstellung der klarsten Dinge. Es sei nur daran er innert, Laß man nach dein japanischen Kriege in Len ent- legenen Provinzen des Reiches Len Glauben zu erwecken verstand, daß nicht ein Einfall siegreicher Feinde stattgesundeu habe, sondern daß ein Hause elender, jämmerlicher, dem Verhungern naher Bettler nach China gekommen sei, denen die Großmuth des chinesischen Kaisers durch Gewährung von Almosen, das heißt zu deutsch: Kriegsentschädigung, die Mittel gegeben habe, um unter ehrfurchtsvollem Danke wieder in ihr Land zurückzukehren. Es liege nahe, daß die Chinesen jetzt die Räumung Pekings auch als einen chinesischen Sieg deuten würden, doch könnte man über einen solchen Versuch, selbst wenn er bei der chinesischen Bevölkerung gelingen sollte, ruhig hinweg sehen, wenn er nichts anderes zur Folge hätte, als die Be- sriedigung der chinesischen Eitelkeit. Nun bleibe aber wohl zu erwägen, ob die Ausführung des russischen Vorschlages nicht auch sehr ernste bösartige Folgen nach sich ziehen könne. Nach dem Urtheil aller chinesischen Sach- verständigen habe vor zwei Monaten Niemand an einen ernsten Widerstand der chinesischen Truppen gedacht; alS aber durch die Zurückweisung der Expedition Lord Seyinour's der reste Erfolg zu verzeichnen gewesen sei, sei der chinesische Fanatismus hoch o isge'odcrt un^ das militä-ffche Gefühl d«r Chinesen in dem Grade gestärkt worden, daß sie in Tientsin einen Widerstand leisteten, der den verbündeten Truppen wahrlich genug zu schaffen machte. Es sei daher zu besorgen, daß bei der Räumung Pekings diese Erscheinung sich wiederhole und daß die auseinander gesprengten chinesischen Schaaren sich wieder vereinigten, um unter wenn auch ganz falschem unberechtigten SiegeSbewußtsein sich zu neuem Widerstande aufzurasscn. Diese neue Explosion chinesischen Fanatismus dürfte sich aber nicht auf die Provinz Petschili allein erstrecken, sondern es fei zu erwägen, daß auch die entfernten Provinzen im Süden von ihr ergriffen werden könnten. Die Lage sei durchaus nicht so, Laß man den Zustand in den Südprovinzcn als einigermaßen befriedigend ansehen könnte. Es sei kaum nöthig, daran zu erinnern, daß die Verhältnisse in Shanghai und im Dangtsethale zu so ernsten Befürchtungen Anlaß geben. Laß die Flotten aller Mächte dort in erheblicher Stärke hätten zujammengezogen werden müssen, und daß man von einem Tage zum anderen sich die Entsendung europäischer Laudtruppen nach Shanghai als nöthig Herausstellen könne. Falle Abends blitzte und blinkte das Haus an allen Ecken und Enden, so daß der Richter ganz erstaunt über die Verwandlung war, und sich äußerte, sie habe des Nachts wohl ein ganzes Heer guter Geister zu Hilfe genommen, denn ein Mensch könne dies allein so rasch nicht zu Stande bringen. Es kam der Sonntag. Ferencz stand, festlich gekleidet, das Gebetbuch in der Hand, beim offenen Fenster, durch welches der Helle, silberne Klang der Thurmglocke tönte und der goldene Strahl der Morgensonne fiel. „Du willst also heut nit zur Kirche, Jlonka?" „Wenn's Euch recht ist, Vater Ferencz, nein." „Mir ist Alles recht, was Du thust, nur die Ursach' möcht' ich wissen. Scheust' die Leut', oder willst' nit mit Juran zu sammen treffen?" „Beides, versetzte das Mädchen, und ein tiefes Roth trat in sein Gesicht. „Wie kannst Du diesem ausweichen?" rief Ferencz. „Du wirst Dich doch nit immer hinter Schloß und Riegel halten?" „Ich will nur, daß sich die Leut' ein bissel mit dem Ge danken gewöhnen, daß ich wieder im Dorfe bin." „Aber, liebes Kind, Du hast keine Ursach' mehr dazu. Kannst jetzt ganz frei und stolz den Kopf tragen, bist nit mehr die, die Du warst, seit gestern. Mit der Rückkehr Juran's ist jedes Fehl und jede Schuld von Dir abgefallen. — Was hast' Dir noch vor zuwerfen?" „Ihr habt Recht, Vater Ferencz", seit gestern bin ich wirk lich eine Andere", versetzte das Mädchen mit leiser Stimme und faltete die Hände, „seit gestern ist Alles, was gewesen, hinter mir versunken. Wie mir seit gestern zu Muth ist, muß es den Verdammten in der Hölle sein, wenn der liebe Herrgott endlich das Erlösungswort über sie spricht. Ich hab' diese fünf Jahre viel gelitten, gestern auf dem Heimwege am meisten; eS war, als wollt' das Weh der ganzen Zeit auf einmal auf mich eindringen. Und wie wir dann ins Dorf gekommen sind, und die Leute den Wagen umringt und geschrien haben, Juran lebe und sei wieder heimgekehrt, da war's mir im ersten Augenblick, als habe mich der Blitz getroffen; ganz starr war ich, in den Ohren hat's mir gesaust, vor den Augen geflimmert, die Straße, die Häuser, die Menschen, Alles hat sich mit mir im Kreis herumgedreht, daß ich hab' die Augen schließen müssen, und da ist's auch ganz still in mir geworden, so still, als seien alle die bösen, qualvollen Stimmen in mir eingeschlafen. Als ich nach einer Weile wieder die Augen aufgemacht hab', da ist mir Alles anders erschienen: der Himmel, die Straße, die Häuser, die Menschen, Alles Heller, freundlicher, lichter, und dieses Licht ist mir auch in der Seel' geblieben. O, Vater Ferencz, unglücklich kann ich nicht mehr wer- nun in die Erregung, die dort herrsche, auch noch die Nachricht, daß Peking von den verbündeten Truppen geräumt sei, so könnte diese Nachricht wie rin Sturmwind sein, der das noch unter der Oberfläche brennende Feuer zu heftiger Flamme anfache. Nicht nur in Shanghai und anderen Hafenstädten säßen aber Europäer, sondern auch in den Städten LeS inneren Chinas und eS sei nur zu wahrscheinlich, daß die Chinesen, die nur unter dem Eindruck der Eroberung Pekings niedergehalten werden, jetzt Angesichts der Räumung dieser kaum eingenommenen Stadt über die Europäer herfallen und unter ihnen ein furchtbares Blutbad anrichten würden. Der Friedensschluß, den man herbeiführen will, würde dadurch erst recht erschwert werden. Statt LeS in seinen Hauptzügen in Petschili beendeten KriegSzuges würden wir es mit einem neuen großen Kriege zu thun haben, der sich über ganz China erstreckte. Es ist aber auch noch ein anderer Umstand zu bedenken: Bei dem Mißtrauen der Chinesen, daS in dem Bewußtsein ihrer eigenen Verlogenheit eine gewisse innere Berechtigung hat, ist es auch möglich, daß die Regie rung selbst nach Räumung Pekings sich nicht entschließen wird, dahin zurückzukehren, weil eS die Räumung als eine ihr gestellte Falle betrachten würde. Unter solchen Umständen aber würden die Mächte auf alle uns durch die Eroberung Pekings gebrachten Vortheile verzichten, ohne die Vortheile zu erlangen, die durch den russischen Vorschlag angestrebt worden. Alle betheiligten Mächte werden gewiß diese ernsten Erwägungen anstellen. Es wird darauf ankommen, einen Ausweg zu finden, der zu gleicher Zeit den wohlverstandenen allgemeinen Interessen entspricht und die Gefahr abwendet, daß ein so bedeutender Factor wie Rußland sich von dem gemeinsamen Werke abwendet. Die neue Lage, die durch den russischen Vorschlag geschaffen ist, würde dadurch wesentlich gebessert und erleichtert werden, wenn Rußland seinem Vorschläge die Auslegung geben würde, daß eS nur seine eigenen Truppen aus Peking zurückziehen will, darin aber kein Bedenken erblickt, wenn die Truppen der andern Mächte in Peking bleiben; und in der That scheint eS, daß die russische Regierung, wenn sie auch ihre eigenen Truppen nicht in Peking lassen will, dort nichts dagegen einzuwenden haben würde, wenn andere Mächte ihre Truppen dort belassen. Die großen Aufgaben, die Rußland in der Mandschurei zu lösen habe, machen erklär lich, daß es sehr große Truppenmassen dort gebraucht. Ta eine Nachschickung vom Mutterland! viel Zeit erfordert, würde es diesem Uebelstande durch Verwendung der Truppen abhelfeu können, die jetzt in Peking stehen. Die Truppen der anderen Mächte in Peking sind aber stark genug, um nicht nur Peking zu halten, sondern auch um von Peking aus einen so starken, weitreichenden Einfluß auszuüben, daß die chinesische Regierung, wie weit sie auch geflüchtet sei, sich ihm nicht wird entziehen können. Wenn wir die Lage richtig beurtheilen, so handelt es sich keineswegs um eine Verschiedenheit der angestrebten Ziele unter den Mächten, sondern nur um eine Abweichung über die zur Erreichung der Ziele eiuzuschlagenden Mittel. Bei gutem Willen, den man bei den Mächten, zumal auch bei Rußland voraüs- setzen kann, ist daher zu hoffen, daß eine Einigung möglich sein wird, namentlich, wenn Rußland seine militärische Action auf die Mandschurei beschränkend, kein Bedenken dagegen hegt, daß die anderen Mächte ihre militärische Thätigkeit den, und wenn Gott was immer über mich verhängt, da er mir diese Gnad' erwiesen hat." „Betracht' sie als den Anfang einer glücklichen Zeit, mein Kind", versetzte Ferencz bewegt. „Du bist noch jung, hast einen weiten Weg vor Dir und kannst noch viel Glück brauchen. Doch jetzt läutet man schon zum zweiten Male, ich geh' und laß Dich zu Haus. Es wird zwar auffällig sein, und die Leute werden aller lei denken, doch Du bist ja ein verständiges Mädel und weißt ge wiß, waS Du thust." Jlonka war eS leid, daß sie Ferencz gleich in den ersten Tagen in etwas widerstrebt hatte, und doch war sie im Innersten froh, daß sie zu Haus geblieben. Sie wollte nicht gleich am ersten Sonntag der Zielpunkt aller Augen sein. Aller?! . . . Es waren mehr die eines Einzigen, die sie fürchtete, die sie scheute. In einem Raum mit ihm, unter einem Dache? Sie fühlte bei dem Gedanken schon, wie sich ihr das Blut zum Herzen drängte und ihr Gesicht höher färbte. Jlonka verschloß daS Haus und ging nach dem Friedhöfe. Sie fand das Grab des Vaters bald; eS stand nahe der Ausgangsthllr; üppiges Gras bedeckte den Hügel und bunte Blumen blühten darauf, wie fromme Kinderaugen aus der düsteren Umgebung blickend. Zu Häupten, nahe dem Kreuze, stand ein kleiner Rosenstrauch; er mochte erst vor Kurzem hin gepflanzt worden sein, denn die Erde war frisch umgegraben und er hing noch lose mit den Wurzeln darin. Wer hatte dieses Liebeszeichen hingepflanzt? Sie rieth nicht lange; es konnte dies nur Einer gethan haben — Juran. Thränen stürzten auS den Augen des Mädchens. Er hatte ihren Vater nicht vergessen! Lange saß sie auf dem stillen Leichenhügel, daS Haupt in den Händen bergend, des Vergangenen gedenkend, dann zog Be ruhigung in ihr Herz. Wenn sie und Juran sich auch nie mehr im Leben finden sollten, hier auf dem Grabe dcS theuren Dahin geschiedenen hatten sich ihre Gedanken gleich in den ersten Tagen gefunden — eS gab eine Stelle, wo sie sich nicht fremd und feindlich gegenüber standen. Don dem Friedhöfe ging sie ins Gebirge. ES war ein wonniger Morgen, der Sonnenschein fiel hell auf ihr ernstes, schönes Gesicht, mit dem still sinnenden Ausdruck, er fiel auf den Weg vor ihr, auf den Berg, auf daS Kloster, daß eS wie verjüngt in schimmerndem Glanze au» der dunklen Laub umfassung hervortrat, er tanzte zu ihren Füßen, er fiel auf die kleine Hütte mit den epheuumrankten Mauern und dem linden beschatteten Dache; Schmetterlinge und glänzende Käfer um schwirrten sie, Vögel sangen über ihr, von fern tönte die Bran dung deS SceS, der sich am Fuße des BergeS brach; jetzt stand sie vor dem Garten und sah hinein. Wie verwildert sah er au».
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)
- Doppelseitenansicht
- Vorschaubilder
Erste Seite
10 Seiten zurück
Vorherige Seite