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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 03.09.1900
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1900-09-03
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19000903023
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1900090302
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1900090302
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- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
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6974 den« auch Deutschland, da- sich allein nicht weiter rngagiren kann, nichts anderes übrig, als Kehrt zu machen. Der „Deutschen Warte" wird, wie sie sagt, von besi- nuterrichlrter Seite Folgendes mitgetheilt: Daß die Meinungs verschiedenheiten unter den Mächten zu ernsteren Conflicten führen könnten, wird hier vorläufig nicht befürchtet. Sollte» Rußland und Amerika selbst so weit gehen, ihre Truppe» auS Peking und der Provinz Tschili zurückzuziehen, so hätten sie doch durchaus kein Recht, zu fordern, daß diese Politik von den übrigen Mächten nachgeabmt wird. Dem chinesische» Volke gegenüber, da« in einer solchen Maßregel ein schwächlickeSZurück- weichen erblicken würde,wäre sie außerordentlich gefähr lich, denn leicht würde dann auch der Süden China«, der sich bisher nur vereinzelt der fremdenseindlichen Bewegung angeschlossen hatte, in dieselbe hineiugezogen werden. Man nimmt in Berlin an, daß das plötzliche Abflauen in der russischen Actionslust aus Erwägungen praktischer Natur zurückzuführen ist, die eS Rußland gerathen erscheinen- lassen, ohne allzu große Opfer an Geld und Blut da nördliche China zu pacificiren und sich als eine Art wohlwollender Schutzmacht in diesem Theile des weilen Reiches aufzuspielen. Amerika aber, dessen Admiral sich be» reitö bei Taku der gemeinsamen Beschießung fernhielt, war einer Festsetzung an der chinesischen Küste von Anbeginn wenig geneigt und verfolgte daher eine sehr feinbercchnete Handelspolitik, die darauf hinauSlief, nack Beendigung der Wirren als Chinas Freund dort die besten Geschäfte zu machen. Wenn von amerikanischer Seite Stimmung gegen die angebliche Ländergier Deutschlands gemacht wird, so ist das eine ganz frivole Unterstellung, denn der Kaiser bat wiederholt ausdrücklich betont, daß er am Status quo festhalte und sich einer Auftbeilung Chinas widersetzen werde. Wenn Deutschland suchen wird, seine Entschädigungsansprüche, die angesichts der Er mordung seines Gesandten besonders groß sein müssen, in geeigneter Weise sicherzustellen, so wird eS darin nur dem Beispiel folgen, das von Rußland, England und Japan schon heute gegeben wird. Wenn von russischer Seite behauptet wirb, daß Niutschwanz nur aus strategischen Gründen besetzt sei und gleich den anderen militärisch wichtigen Punclen später geräumt werden würde, so weiß man dock, daß Rußland sich die Wirth - schastliche Ausbeutung Nordchinas vollständig gesichert hat und seine Unternehmungen auch zu schützen wissen wird. Selbst auS Frankreich zogen die deutschen Truppen erst ab, als die regelmäßige Abtragung der Kriegsentschädigung völlig gesichert war. An den Seezöllen und dem Theil der Likin-Abgaben (Binnenzölle), die der Central-Regierung zufließen, ist wenig zu holen, da diese zum größten Theile den Gläubigern Chinas verpfändet sind und in jüngster Zeit selbst in vollem Um fange kaum bingereicht haben, Zinsen und Amortisationen zu decken. Chinas Gesammt-Einnahmen belaufen sich jährlich auf kaum 400 Millionen Mark und diesen Betrag können leicht Kriegslasten und Entschädigungsansprüche einer einzigen Macht erreichen, die nun noch möglicher Weise mit 8, der Zahl der geschädigten Großmächte, von Len kleineren wie Holland, Belgien u. s. w. ganz abgesehen, zu multipliciren sind. Wenn Deutschland nach wie vor sür das engste Einver nehmen der Mächte eintritt, so folgt eS darin nur seinen festen Grundsätzen und seinen ehrlichen Absichten, nicht etwa einem vertrauensseligen Optimismus. Daß wir nur im Vertrauen auf die eigene Kraft in die ostasiatischen Händel gezogen sind, das beweist wobl am besten unsere außer ordentlich starke Rüstung, besonders auch unser Machtauf gebot zur See, dessen hohe Bedeutung die Zukunft erkennen lassen wird. Zur Zeit ist unsere ostasiatische Flotte an Linienschiffen und neuen erstklassigen Kreuzern die stärkste unter allen dort stationirten Geschwadern der Fremden mächte — also mit alleiniger Ausnahme von Japan! * Shanghai, 2. September. Die hier ansässigen Au-länder werden belästigt; der britische Consul ist Beleidigungen ausgesetzt. Die Erregung nimmt in Folge des Landens weiterer fremder Truppen in Shanghai zu. Li-Hung-Tschang stattete gestern früh dem französischen Consul einen Besuch ab und hatte eine lange Unterredung mit ihm. * London, 3. September. (Telegramm.) Die „Times" berichten auS Shanghai unter dem 3l. vor. MtS.: Ein amtliches Telegramm aus Tschengtuglu meldet, daß der Vicrkönig von Sz'tschwan, Kneichurn, und der Tatarengeneral von Sz'tschwan durch ein kaiserliches Edict ihres Amtes entsetzt worden sind. Es ist offenbar, daß sich die Kaisrrin-Wittwr nach wie vor von den Rathschlägen der rachsüchtigen Reaktionäre leiten läßt, welchen auch die Flucht de« kaiserlichen HoseS aus der Hauptstadt zuzuschrciben ist. — Di« hiesigen Zeitungen veröffentlichen eine Meldung, nach der sich Tschungyi, der Vor mund deS designirteu Thronerben in Taotingfu daS Leben ge nommen haben soll. — Die „Times" berichten auS Shanghai unter dem 2. d. M.: Zwei amerikanische Correspondentrn, die Peking am 21. August mit40 amerikanischen Missionaren verlassen hatten, sind gestern in Shanghai angekommeu. Sie haben unterwegs kaum einen Chinesen gesehen.! Der Krieg in Südafrika. —? Man kann sich bei der Spärlichkeit der eintreffeude» Nachrichten kein klare« Bild von der Stellung der Voereu im östlichen Theile Transvaal« machen. Ei» Theil scheint sich in der Richtung auf Lydenburg zurückgezogen zu haben, während ein anderer und mit ibm Krüger und Steijn bei Barberton an der Eisenbahn steht. Unser Londoner Corre- spondent schreibt, ohne natürlich behaupten z» können, daß er da« Richtige trifft, zur Sache: Die englische Presse fährt, » cc an der Hand der ofsiciellen Depeschen und der von Siegeszuversicht strotzenden Berichte ihrer KriegScorrespondenten rin nahes Ende deS südafrikanischen Feldzuges zu prophezeihen und über den vollständigen Zusammenbruch des Widerstandes der Boercn zu polemisiren. Die bisherigen Erfolge der Engländer in der Umgegend von Belfast und Machadodorp sind allerdings von größerer Wichtigkeit, als sich zuerst glauben ließ, und die Bewegungen der beiden Präsidenten Krüger und Steijn, deren Vereinigung das Resultat der meisterhaften Operationen des General De Wet gewesen ist, lassen darauf schließen, daß die Boeren q-.deu Plan endgiltig aufgegeben haben, die Stadt Lydenburg zum Centruin ihre« letzten Widerstandes zu machen. Krüger und Steijn haben sich nämlich nach der ofsiciellen Meldung der freigelassenen britischen Kriegs gefangenen au den Feldmarschall Roberts mit der Eisenbahn von Noeit gedacht nach Nelspruit etwas ferner östlich an der Dclagoabai-Linie mit den übrigen Mitgliedern der Transvaal-Negierung begeben und auch GeneralcomMandant Botha soll sich bei den Präsidenten besindcv. Das Städtchen Nelspruit liegt am Krokodil-Flusse und ist ein schön gelegener, gesunder Ort mit reichen Goldminen in der Nachbarschaft, deren Au-beutung keine Unterbrechung erlitten bat und somit der TranSvaal-Rezierung fortwährend neue Geldmittel zur Fortsetzung des Krieges liefert. Nack einem anderen Rapport sollen allerdings die meisten Boeren-ConlmandoS mit Botba und auch Krüger sich nord wärts nach PilgrimS-Rest im Lydenburg-Districl zurückgezogen haben, aber dies hat wenig Wahrscheinlichkeit für sich, da General Botha schwerlich den taktischen Fehler begehen wird, durch Aufgabe der Eisenbahn sick alle weiteren Zufuhren vom Süd-Osten abzuschneiden, zumal die Munition seiner Streit kräfte bereits knapp werden soll. Ein allgemeiner Rückzug nach den LyLenburg-Bergen würde die Boercn unter allen Umständen gänzlich isoliren und ihre ferneren Operationen auf ein sehr beschränktes Feld und einen verhältnißmäßig kurzen Zeitraum reduciren, während die Behauptung einer Position an der vielunistrittcnen Eisenbahn aus jeden Fall bedeutend bessere Chancen für eine Fortsetzung der kriegerischen Thätizkeir der TranSvaaler bietet, ganz abgeschcn davon, daß als ultima ratio die NückzugSliuie nach der Delagoa-Dai resp. der Uebertritt auf neutrale- Gebiet immer noch für die Boeren offen bleibt. General Botha hat allerdings die sämmtlichen englischen LriegSgesangenrn, soweit sie nicht OssicierSranz bekleideten, freizegeben und sich damit eine ungeheure Last von Halse geschafft. Sehr verständiger Weise hat er jedoch alle Osficiere zurückbehalten und sie unter starker Bedeckung nach Barberton schaffen lassen. Hierdurch behält er, resp. Präsident Krüger immerhin noch eine stattliche Anzahl werthvoller Geiseln zu seiner Ver fügung, die speciell nach englischem Gefühl dcßhalb ganz besonders wichtig sind, weil die Mehrzahl derselben den besseren und besten Familien Großbritanniens angehören, in dem De Wet seiner Zeit bekanntlich daS vornehme Jomanry - Bataillon, welches den Namen deS Herzogs von Cambridge trägt, gefangen nahm und damit eine Auslese von adeligen Herren, wie unter Anderem den Earl von Leitrim, den Vicomte Enniemore, den Honorable Montjomery und viele Andere in die Gewalt der Boeren brachte. Diese Geiseln können unter Umständen in Anbetracht der letzten Proklamation des Feldmarschalls Roberts und des jüngsten schwerenmäßigen Vorgehens der Engländer gegen die Boerenbevölkerung sehr zu Gunsten einer eventuellen Ver geltungs-Politik deS Präsidenten Krüger und seiner Generäle m die Waagschale fallen und dem allzu brutalen Verhalte» deS englischen Militär» ein scharfes „Bis hierher und nicht weiter' enlgegenstellen. Mit seiner famosen Proklamation bat übrigen- Lord Roberts noch in einer bestimmte» Hin sicht eine ganz besonder» schwere Verantwortung auf sich ge laden. Das Betragen de» gemeinen englischen Soldaten ist bekanntlich sowieso schon ein seiner durchschnittlichen Abstammung von den niedrigsten und verkommensten Volksschichten Englands entsprechendes, wenn er in Feindesland mit der seiner Gnade anheim gegebenen Bevölkerung in Berührung kommt, und die Fälle wüstester Ausschreitungen gegen ge fangene Combatlanten oder gegen harmlose Civilisten und ganz besonders gegen schutzlose Frauen und Mädchen ge hörten bereit- vor der jetzt inaugurirten SchreckenS- Aera durchaus nicht zu den Seltenheiten, so daß sich der GeneralstabS-Cbrf Lord Kitchener bei Antritt seines Amte» bereits veranlaßt sah, im Einverständniß mit Lord Robert« einen Armeebefehl zu veröffentlichen, in welchem er di« Osficiere sür da» Verhalten ihrer Mannschaften gegen die Bevölkerung der Republiken strengsten« verantwort lich machte. Wie zahlreiche Privatmeldungen der letzten vierzehn Tage beweften, habe» sich die Ausschreitungen de« „heldenhaften Tommy AtkinS" besonders gegen da« weibliche Geschleckt in geradezu scheußlicher Weise vermehrt, seitdem Lord Robert«, der bekanntlich seine eigene Gemahlin und seine beiden Töchter in seinem Hauptquartiere mit sick führt, seiner Armee auf höherem Befebl von» Londoner Krieg«- amte auS durch seine Proclamation zu verstehen gegeben, daß der Boer sozusagen außerhalb deS Völkerrechts stehe. Wenn nun der englische Soldat an seine» männlichen Gegnern sein Müthchen nicht kühlen kann, so sucht er hierfür «inen sür seinen Geschmack angenehmeren Ersatz in brutalem Auftreten und in Schlimmerem, wenn er aus den unzähligen einsame» Farmen schutzlose Boeren-Frauen und Mädchen sich und seiner ganzen Erbärmlichkeit ausgesetzt sieht. Verschiedene derartige Vorfälle werden i» englischen liberalen und radikalen Zeitungen mit genauen Detailangaben besprochen, erscheinen natürlich aber nicht in irgend welchen ofsiciellen Meldungen vom Kriegsschauplätze. Politische Tagesschau. * Leipzig, 3. September. Tie Meldung, daß im Laufe dieser Woche Sitzungen de» preußischen StaatSministeriumS stattfinden sollen, in denen wichtige, gegenwärtig im Vordergründe stehende Fragen der allgemeinen Politik, sowie solche der nächsten parla mentarische» Tagung zur Beratbuug gelangen werden, giebt der „Nat.-Lib. Corr." Veranlassung, auf die Wichtigkeit dieser Berathungen, wie auf die Schwierigkeiten hinzudeuten, die sowohl im Reiche, wie in Preußen nach dem Wieder zusammentritte der parlamentarischen Körperschaften zu über winden sein werden. DaS nationalliberale Parteiorgan sieht dabei von der Erörterung der Frage ab, „inwieweit von einer Negierung im Sinne der ReichSverfassung und der preußischen Verfassung überhaupt noch gesprochen werden könne", und beschränkt sich darauf, zu der Frage, wie eine leitende Negierung im Reiche und in Preußen die Lösung der Aufgaben des kommenden Winters sichdenkt, das Folgende zu bemerken: i „Läßt mail so große Arbeiten wie die Reform der Kranken versicherung bei Seite, dann sind im Reiche neben dem neuen Zolltarif die verfassungsmäßigen Consequcnzen der deutschen Action in China ouszutragen. Und wenn man im letzten Punkte auch daraus rechnen kann, daß der nationale Sinn im Volke nicht versagen und es nöthigensalls vereiteln würde, wen» mit der schwierigen Lage der Reichsregieruug eine eigennützige Aus beutung zu anderen Zwecken verbunden werden sollte, so wird schon die Einbringung de« neuen Zolltarif« die Parteien sicher durcheinander schütteln und Handhaben genug biettn, im Reiche eine unsachliche Verkoppelung der verschiedensten Fragen zu betreiben und aus die Regelung der preußischen Angelegenheiten überzugreifen. In Preußen aber steht als Hauptaufgabe, von der Negierung wiederholt und feierlich augeküudigt und mit der Auto- ritat der Staatsleitung untrennbar verbunden, die zu dem bekannten Wasserbauprogramm erweiterte Canalvorlage in Aussicht. Zu dieser Gruppe von Vorlagen wird eine zweite in Aussicht gestellt, die eine an sich dringend nothwendige Frage neu zu ordnen bezweckt, die VolkSschuluntrrhaltungspslicht, wobei aber schon jetzt das Centrum der Regierung, unter durchsichtigem Hinweis auf bischöf lichen Hinterhalt, den Kampf um die Macht in der Schule ankündet und sich dabei offenbar der Zustimmung der Conservativen und sogar einer zweideutigen Unterstützung in freiconservativen Kreisen erfreut. Bei dieser Constellation wird in uns vorliegenden Zu schriften die Frage aufgeworfen, ob eS unter diesen Umständen eine weise Politik genannt werden kann, auf die bisher schon ausreichend schwere parlamentarische Fracht nun auch noch in diesem Winter die Regelung der BolksschulunterhaltuugSpslicht hinaufzupacken, oder ob eS nach Lage der Verhältnisse sich nicht vielmehr empfiehlt, den Mißständen auf diesem Gebiete dort, wo sie wirklich drückend sind, noch für da« nächste Etat-jahr mit außerordentlichen Zuwendungen abzuhelfen und die Regelung der VolkSschuluntrrhaltung im über nächsten Winter vorzunehmen, damit diese in ruhigeren Zeitläuften auch wirklich sachgemäß uud nur unter Berücksichtigung der wirk lichen Bedürfnisse der Schule behandelt wird." ES könnte in der That kaum etwas VerhänguißvollereS geschehe», als wenn man in Preußen an die gesetzliche Rege lung von Fragen heranträte, bei deren LösungSversuchen die jenigen Parteien, auf deren gemeinsame Unterstützung im Reichstage die verbündeten Regierungen angewiesen sind, in schroffen Gegensatz zu einander gerathen würden uud müßten. Solche Differenzen im preußischen Landtage wirken natur gemäß auf die Stellung der Parteien im Reichstage zu einander ein und erzeugen auch hier Gegnerschaften, dl« der Lösung wichtiger nationaler Fragen höchst nachtheilig sein müssen. E» ist schon «in üble» Zusammentreffen, daß die au den neuen Zolltarif sich knüpfenden Streitigkeiten die Reich-Parteien zur selben Zeit durcheinander zu rütteln drohe», in der die verfassungsmäßigen Consequenzen der deutschen Actio» in China au-getragen werden müssen. Kämen nun vollend« zu diesen Zolltarisstreitigkeiten zwischen den Parteien und innerhalb der selben noch tiefgehende Differenzen in Preußen wegen der Schulunterhaltungspflicht, so wäre nicht abzusehen, wie im Reichstage eine Verständigung über die wichtigsten Fragen unserer auswärtigen Politik sich erzielen lassen sollte. E» wird also «ine der Hauptaufgaben de« Reichskanzler sein, als preußischer Ministerpräsident darauf hinzuwirken, daß vom preußischen Landtage im bevorstehenden Winter alle» fern gehalten wird, was auf die Parteiverbältniffe im Reichstage nachtheilig wirken könnte. Da- wird freilich, da daS Centrum gewillt scheint, seine Haltung im Reichstage von der Erfüllung seiner Wünsche in Preußen abhängig zu machen, sehr schwer sein. Aber sieht sich das Ceatrum einem festen Willen gegenüber, so wird r» sich fügen, wie eS sich schon öfter gefügt hak. Ueber da- Verhältniß der tatzerischen Toeialtemokratie zum dortigen Lentrum bringt die Herrn von Bollmar nahe stehende „Münchener Post" einen Artikel, der Beachtung ver dient. AuS den Bemerkungen einiger Redner auf dem jüngsten pfälzischen socialdemokratischen Parteitage war geschlossen worden, die dortige Socialdemokratie habe dem Centrum das Bündniß gekündigt und eine „Politik der Fußtritte" einaeleitet. Darüber schreibt da« Münchener socialdemokratische Organ: „Haben einige pfälzische Genossen «ine „schärfere Bekämpfung" deS Centrum« gewünscht — und da« ist wohl „der Fußtritt", den die „liberale" Heldenschaar dem Centrum wünscht —, so handelt e« sich dabei lediglich um eine Angelegenheit der Form. Und «S ist uns ganz willkommen, auch hierüber kurz sprechen zu können. Die Wahlvrreiniguog, so vorübergehend sie war, hat doch di« nicht ganz unerwartete Folge, daß die rohe Bekämpfung der Socialdemokratie seitens einer gewissen CentrumSprefse und gewisser CentrumSagitatoren einer mehr sachlichen Kampfart weichen mußte. Denn daß die Social demokraten Mörder, Kirchenräuber oder Cheschänder seien, konnte man nun auch den gläubigsten Schäflein uicht mehr erzählen. Mit solchen schlimmen Elementen giebt e« für eine so tadellos fromme und reine Partei wie da« Centrum doch nicht die vorüber gehendste Gemeinschaft. Die maßvollen Erklärungen der Abgeordneten Daller und Reeb in der Kammer straften denn auch die bisherige Kampfesweise ihrer Parteileute gründlich Lügen. Der so gewonnene Zustand gab auch der socialdrmokratischen Presse Gelegenheit, dem politischen Völkerrechte mehr entsprechende Waffen anzuwenden. Uebte di« fromme Presse den Brauch nicht mehr, wegen jedes armen Teufel«, der wider die Heiligkeit Les Eigenthums gesündigt hatte, rin Zetergeschrei ob der Seelen verdorbenheit der Socialdemokratie loSzulasfen, so brauchte diese hinwiederum nicht mehr jeden auf dem glatten Boden der „bürgerlichen Moral" gefallenen Diener de« Herrn al« Product der centrum«christlichen Weltordnung vorzn- zeigeu. Damit war eine journalistische ArbeitSersporniß gewonnen, die beiden Theilen nur nützen konnte Und wenn wir auch nie zn denen gehören werben, die io einer verhüllenden Heuchel spräche die „Verfeinerung der politischen Sitten" erblicken, so haben wir doch keine Sehnsucht danach, deu auch auf diesem Gebiete gewonnenen unleugbare» Fortschritt wieder preiSzugeben. Die „Politik deS Fußtritts" wird also von der Socialdemokratie nicht einmal gegen die „Liberalen" angewendet werden, selbst wenn bei diesen etwas da wäre, worauf ein gesunder Fuß einen Augenblick verweilen könnte." Daß der Gewinn auS diesem „unleugbaren Fortschritte" in erster Linie der Socialdemokratie zusällt, die nun von den bayerischen Katholiken mit günstigere» Augen betrachtet werden wird, ist nicht zu verkennen. Herr v. Vollmar wird eS daher auch durchzusetzen wissen, daß seine Anhänger dem Centrum gegenüber bei der verfeinerten Tonart bleiben und sich dadurch bündnißfähig erhalten. Ueber tschechische Arroganz und Felonie lesen wir in der .Kreuzzeitung": Sollte man eS für möglich halten, daß in nächster Nähe deS deutschen Reichs, unmittelbar an seiner Grenze, fremde Politiker auftreten und Forderungen auf reichsdeutsches Gebiet erbeben? Schon oft war in tschechischen Organen zu lesen, daß Schlesien und die Lausitz tschechische Gebiete sind uud dem tschechischen Zukunftsstaat al» Provinzen einverleibt werden müssen. Diese Tschechen träumen von der Wiederkehr einer längst entschwundenen Ver gangenheit, als slawische Völkerschaften in den Ländern zwischen Ostsee und Adria als gastlich aufgenommene Ansiedler oder im Kampfe gegen die zurückgebliebene dünne germanische Be völkerung der westwärts gezogenen Stämme sich seßhaft ge macht hatten. Als der tschechische Abg. Herold vor einer Volksversammlung unter freiem Himmel in Nachod seine neueste Hetzrede hielt, wies er über die deutsche Grenze und röthete und wie er auch immer fester das schöne Weib umschloß, da tanzte es ihm vor den Augen, da summte es ihm in den Ohren, alle Qualen der Eifersucht erwachten in ihm und zer rissen sein Herz. Es war kein Zweifel mehr, die alte Leiden schaft war bei der Unglücklichen erwacht, und Juran!? ... er hatte sie einst zurllckgcwiesen, aber was bewies das? Welche Beruhi gung konnte ihm das jetzt geben? Damals liebte er eine Andere, jetzt war sein Herz frei, nichts leichter, als ihn zu fangen; sie war ein zu schönes Weib, wer konnte ihr widerstehen? . . . Lajos sah nicht lange dem Tanze zu. Wie ein Wahnsinniger stürzte er auf die Zigeuner los, entriß einem der Zunächstsitzenden die Violine und schmetterte sie mit einem wilden Fluche zu Boden; das war der schrille Ton, den Juran gehört hatte. Ein wüster Lärm erhob sich nach der so rasch ausgeführten That. Der Zigeuner schrie und lärmte wegen seines zerbrochenen Instrumentes, die Gefährten nahmen Partei für ihn, die Burschen, die in ihrem Vergnügen gestört, traten drohend näher, Flüche schallten, Fäuste ballten sich; es war rin Glück, daß der Richter anwesend war und durch sein energisches Auftreten jede Ausschreitung der erhitzten Köpfe verhindert wurde. Lajos mußte den Schaden reichlich er setzen und die tanzlustige Jugend begnügte sich mit zwei Musi kanten, und bald herrschte die alte freudige Stimmung wieder, nur Juran verließ bald darauf die Schenke, er hatte die Lust an weiterem Tanzen verloren. XX. Mit der Rückkehr Juran's war nicht der Friede in daS Molnar'sche Haus eingekehrt, es vermehrten sich im Gegentheil die Streitigkeiten und Zwistigkeiten von Tag zu Tag. Am selben Abend nach dem Auftritte in der Schenke erfolgte eine heftige Scene zwischen den beiden Gatten, wobei sich Lajos zum ersten Male zu Thätlichkeiten hinreißen ließ, einige Tage später zwischen den Brüdern. „Es wäre mir lieber gewesen, Du hättest nie die Heimath wiedergesehen. Du wärst geblieben, wo Du warst, wärs auch auf dem Grund des Plattensees", sagte Lajos. „Das ist ein gottgefälliger Wunsch von einem Bruder . . ." „Bruder!!" unterbrach ihn Lajos außer sich. „Ich kenn' keinen Bruder, ich kenn' keinen Vater, ich kenn' nur sie, und wer mich da bedroht, ist mein Feind, mein Todfeind. So lang Du nit da warst, war sie nit so, wie sie jetzt ist, so lang Du nit da warst, hat sie meine Hand nit böswillig berührt. Sie wird mich reizen und außer mich bringen; denn sie hat ihren Sinn auf Dich gelegt, darum sag' ich Dir mit Recht und wiederhol' es noch einmal: Du hättest bleiben sollen, wo Du warst, wär'S auch auf dem Grund des Plattensees." „Ich kenn' Dich nicht seit heut' und würde mich ärgern, wenn Du nicht gar so ein kläglicher Bursch' wärst", versetzte Juran mit ruhiger Verachtung. „Früher warst Du tückisch und hinter listig gegen mich und demllthig und heuchlerisch gegen den Vater, weil Du bei ihm der Hahn im Korbe sein wolltest; dann, als Du ihn nicht mehr zu fürchten und nichts mehr von ihm zu erwarten hattest, warst Du gegen den blinden, kranken Mann ein roher, undankbarer Sohn. Und ich, ich muß Dir im Weg sein, Du hast Dich zu lang als alleinigen Erben betrachtet, als daß ich Dir willkommen sein sollte." „Das ist nit wahr, ich hab' was Anderes befürchtet, und mit Recht befürchtet, wie ich sehe. Hast Dich nit bei der Musik am Sonntag geberdet, als wär' Marie ein lediges Mädel und Du ihr Liebhaber?" „Das haben nur Deine Augen gesehen. Mich hat der Tanz aufgeregt, nicht Dein Weib", versetzte Juran nicht ohne Ver legenheit. Er war eine zu gerade Natur, um etwas mit ruhigem Gewissen bemänteln zu können. Brannte ihm doch die Erinnerung an diesem Sonntag mehr als es Jemand ahnte. Wie hatte er, der Nüchterne, Besonnene, sich von dem leicht fertigen Weibe hinreißen lassen können! Mich hat der Tanz aufgeregt", fuhr er fort. „Was fürchtest Du eigentlich?" fragte er plötzlich und trat dicht vor ihn hin. „Daß ich Dir Deine Frau verführen werde? Schämst Du Dich nicht, so einen Gedanken aufkommen zu lassen? Weißt Du nicht, daß ich sie von mir gewiesen hab', als sie noch frei, nicht das Weib meines Bruders war?" „Damals war es was Anderes, damals hattest Du eine Andere lieb", versetzte Lajos, dem Gedanken Ausdruck gebend, der ihn seit einigen Tagen beschäftigte. „Und was beweist das?" „Was das beweist? Das ist leicht, das kann sich ja jedes Kind zurechtlcgen. Dein Herz ist frei und Marie . . . Marie ist schön, sie sucht Dich zu locken." „Und wär' sie nicht Dein Weib, und noch tausendmal schöner, mir wär' sie nicht gefährlich. Was ich veracht', kann mich nicht reizen", sagte Juran mit tiefer Entrüstung. Was einen andern Mann mit Zorn und Scham erfüllt hätte, war sür LajoS beruhigender, al« der heiligste Schwur. „Würdest Du ihr das in» Gesicht wiederholen?" fragte er und sah den Bruder lauernd an. „Warum nicht, wenn es dazu kommen sollt', ich bin nicht gewohnt, mit meiner Meinung hinter dem Berge zu halten." Die Aeußerung Juran's bewirkte, daß auf einige Tage eine gewisse Ruhe eintrat. Lajos hatte Marien brühwarm die Worte des Bruders überbracht und Marie schmollte mit Juran. ES trat eine gewisse Ruhe ein, aber lange konnte diese nicht dauern. Lajos war ein zu mißtrauischer, eifersüchtiger Ehemann, um lange Frieden zu halten; die kleinste Ursache war hinreichend, sein ganzes inneres Gleichgewicht zu zerstören. Marie fiel eines Tages die Bodentreppe hinunter. Jurau kam gerade dazu und hob die Schwerstöhnende auf; er hielt sie noch in den Armen, als Lajos in den Flur trat. Kein Entschuldigen half, nicht der wahre Thatbestand; es erfolgte eine heftige Scene. „Du wirst sehen, das kann kein gutes Ende nehmen", sagte der Blinde, als er mit Juran allein war. „Er ist wie rin Hund in seinem Mißtrauen, und seitdem Du zu Hause bist, ist erst recht der Teufel in ihn gefahren. Es giebt nur zwei Mittei, all diesem ein Ende zu machen: entweder, die Beiden müssen aus dem Haus oder " — er ergriff die Rechte des SohneS — „Du nimmst ein Weib, Juran." „Ich heirathen?" rief der junge Mann fast mit einem Aus druck des Schreckens. „Wär' das so schlimm, wenn Du mir eine gute Schwieger tochter ins Haus brächtest?" „Ich verspür aber gar keine Lust dazu, Vater." „Ist wirklich keine im Dorf, die Dich bewegen könnt?" „Keine", versetzte Juran mit großer Entschiedenheit. „Auch die Jlonka nit? Ich würd' jetzt nit nein sagen, Juran, ich möchte gern das Unrecht gegen den seligen Bator gut machen. Wie ich hör', soll das Mädel sehr brav geworden sein und der Richter hat sie als eigen angenommen." „Redet nicht von der, Vater!" rief Juran aufspringend und seine Stimme klang vor Erregung rauh und hart. „Der Himmel ist nicht so weit von der Erde entfernt, wie wir zwei von ein ander. Laßt ruhn, was todt ist, Vater." „Setz' Dich ruhig hin, mein Sohn! Ich will Dir nit zu reden und nit in Dich dringen. Ich hab' gedacht, ich thät' Dir einen Gefallen damit; denn Dein Glück ist jetzt der einzige Wunsch, den ich auf Erden hab. Setz' Dich nieder und erzählt mir, auf welche Weise Dich damals der liebe Gott gerettet hat, und wo Du die langen Jahre damals gewesen bist. Ich stieß mit verruchter Hand nach Dir und sah Dich in die Tiefe stürzen . . ." „Ich stürzte auch", sagte Juran, und fuhr sich mit der Hand über die Stirn, „ich stürzte über Stein und Gestrüpp, schlug mich da an, schlug mich dort an und wär unrettbar in den See gefallen, wenn nicht die Zwergeiche, die unten am Fuße des Berges steht, mich mit ihren starken Aesten festgehalten; so kam ich nur mit dem Unterkörper in« Wasser. Die kalte Be rührung brachte mich zur Besinnung, denn ich war von dem Sturze halb betäubt. Ich umfaßte einen starken Ast und schwang mich ganz hinauf, sank aber am Rande des Wassers nieder, denn meine Glieder waren wie zerschlagen und mein Kopf wüst und öd, so lag ich lange Zeit auf dem feuchten Grund, und das Blut, das aus meinen Wunden rann, färbte die weißen Blumen des Schilfs, die das Ufer bedeckten. Die Nacht kam und sank auf mich herab, aber glaubt mir, Vater, nicht finsterer wars draußen, wo kein Stern, kein lichtes Pünctchen am Himmel blitzte, als es in mir aussah. Nie in meinem Leben hab' ich solche Stunden dumpfer Verzweiflung durchgemacht, wie in jener Nacht. Ich zürnte meinem Körper, daß er den Sturz überstanden, der minder starke Glieder gewiß zerschmettert hätte, ich zürnte dem Baum, daß er mich aufgehalten, dem Wasser, daß es mich nicht in die Tiefe gezogen, ich war mit Gott und der Welt zerfallen. Was sollte ich thun, was beginnen? Ins Dorf wollt' ich nicht mehr zurück. Ich wußte, man würde mich für todt halten, wenn ich nicht zurückkchrte, und für todt wollt' ich gelten, verschollen und vergessen. Ich erhob mich, wusch Gesicht und Kopf und fühlte mich frischer und mein Herz kräftiger schlagen. „Mag der alte Juran hier begraben sein", sagte ich, „einen neuen Menschen mach ich auS mir und geh' in die weite Welt. Ich will nicht innerlich zu Grunde gehen und an Gott und den Menschen verzweifeln; mein gläubig Gemüth will ich bewahren und meinen festen Sinn. Möge ihnen Gott vergeben, was sie an mir gethan. So dachte ich und klomm daS Gebirge hinauf mit zerrissenen Kleidern und barhaupt, denn der Hut war mir beim Sturze vom Kopfe gefallen und schwamm auf den Wellen. Ich ging zu dem Platze, wo Bator's Kähne lagen, stieg in einen und ruderte über den See, und al- der Morgen kam, war ich schon meilenweit von Tyhany entfernt. WaS soll ich Euch viel erzählen, Vater. Ich ging nach Pest und ließ mich anwerben. Wie die Revolution ausgebrochen und wie sie geendet, wißt Ihr auch. Ich hielt mich muthig und tapfer und stieg bis zum Wacht meister. Da geschah eS in einer der letzten Schlachten, als unsere Schaaren überall geworfen und fast aufgerieben waren, daß ich einem unserer Generäle das Leben rettete. Tagelang hielten wir unS in Wäldern und Feldern verborgen, bis unS dic Kaiserlichen doch ergriffen und un« gefangen nahmen. Der Baron wurde »»erst zum Tode verurtheilt, dann zur Verbannung begnadigt, weil er ein alter, ergrauter Mann war. Er ließ Weib und Kind in der Heimath und ging nach England, ich folgtc ihm in treuer Anhänglichkeit. (Fortsetzung folgt.)
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