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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 10.09.1900
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1900-09-10
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19000910029
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1900091002
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1900091002
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1900
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Gröbere Schriften laut unserem Preis- verzrichnib. Tabellarischer und Zisfrrnsatz nach höherem Tarif. Extra-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen - Ausgabe, ohne Postbeförderung SO.—, mit Postbrförderung >T 70.—. .Annahmeschluß für Anzeigen: Nbeud-Au-gabe: vormittags 10 Uhr. Morge »-Ausgabe: Nachmittag» 4 Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen j» ei» halbe Stunde frriher. Anreise» find stets an di, Expedition p» richten. , Druck nnd Verlag von E. Polz in Leipzig Ml. Montag den 10. September 1900. 94. Jahrgang. Die Wirren in China. -(>. Die Tokioer Meldung, die noch nicht bestätigt, aber Wohl glaubwürdig ist und nach welcher Prinz Tsching in Peking eingetroffen ist, um auf Befehl des Kaisers „die Schwierig keiten zu lösen", leitet unerwartet eine neue Phase des chine sischen Jmbroglio ein und macht anscheinend den russischen Räumungsvorschlag gegenstandslos. Folgende Nachrichten werden jetzt erst bekannt, gehen dem Tokioer Telegramm aber voraus: * Shanghai, 7. September. („Reuter's Bureau.") Pekinger Berichte besagen u. A., der Sekretär des Prinzen Tsching habe mit dem spanischen Gesandten als dem Doyen des diplomatischen Corps eine Unterredung gehabt. Am 1. Sep tember hätten der Großcenjor und der Grojzjekretär und ein Mit glied des Tsung li Hamens mit dem englischen Gesandten Macdonald eine Unterredung mit dem Ergebnisse gehabt. Laß die Ankunft des Prinzen Tsching für den 3. September erwartet worden sei, man betrachte diese Besuche als Vor läufer der Friedensunterhandlungen. * Tokio, 8. September. Wie heute aus Peking telegraphirt wird, ist eine Abtheilung japanischer Cavallerie bis Tsching-ho vor gedrungen und hat den Prinzen Tsching nach seiner Residenz geleitet. Da die japanischen Truppen Len Stadtbezirk eiunahmen. in der sein Palast liegt, so wird dieser von ihnen bewacht. Die Residenz anderer Prinzen wird ähnlich durch die Truppen der Verbündeten bewacht, die die ihnen zugetheilten Bezirke besetzt halten. In Anbetracht der ernsten Lage soll der Kaiser von China dem Prinzen Tsching besohlen haben, sich sofort nach der Hauptstadt zu begeben, um die Schwierigkeiten zu lösen. Es hat also gar nicht deS Rückzugs der verbündeten Truppen bedurft, um eine chinesische Friedenscommission nach Peking zu führen. Diese zarte russische Rücksichtnahme bat man am Kaiserhofe nicht erwartet und beginnt aus freien Stücken die FriedenSverhandlungen, jedenfalls mit ver anlaßt durch die verfehlte Speculativn aus die Spaltung der Mächte, die zur Räumung der Hauptstadt noch nicht geführt hat und nicht in letzter Linie gedrängt durch die Hungersnoth, die in Peking auüzubrechen droht und zum Theil schon aus gebrochen ist, eine Calamität, die furchtbare Dimensionen annehmen kann, wenn man sich nicht mit den Mächten ver ständigt und so die Wege für die Zufuhr wieder frei bekommt. Die Anwesenheit der fremden Truppen in Peking sollte auch den gesummten chinesischen Hof nicht hindern, sich wieder nach Peking zu begeben. Wie die Schonung Les kaiserlichen Palastes anzeigt, würden auch die chinesischen Würdenträger sich bei etwaigen Friedensverhandlungen daselbst voller Sicherheit erfreuen, und wenn Li-Hung-Tsckang wirk lich den großen Einfluß besitzt, über Len er zu verfügen vor- giebt, so sollte er ihn dazu anwenden, dem Kaiser zu ratheu, so rasch wie möglich nach Peking zurückzukebren und sich dort unter den Schutz der verbündeten Truppen zu stellen, unter dem er sicherer sein würde, als unter den undisciplinirten Horden, die ihn jetzt umgeben. Wenn Li-Hung-Tsckang das fertig bringt, werden die Mächte vermuthlich mit ihrer An erkennung nicht geizen. ES fragt sich nun, ob der relativ fremdenfreundliche Prinz Tscking Generalvollmacht hat, oder ob ihm außer Li-Hung-Tschang Jung-Lu und Hsu-Tung, bekanntlich zwei Fremdenfresser ersten Ranges, zur Seite sieben sollen. Gegen die Zuziehung der beiden Letzteren erheben die „Times" entschiedenen Protest. Sie schreiben: „Die Zu sammensetzung der chinesischen Friedenscommission, wie sie uns auS Shanghai mitgetbeilt wird, ist ein weiterer Beweis für die »„geschwächte Anmaßung der Kaiserin-Witlwe. Li-Hung-Tschang scheint, wenn das Edict authentisch ist, einen der Collegen erhalten zu haben, die er wünschte. Prinz Tsching, aus den Graf Eassini „so große Hoffnung" setzt, ist ihm beigegeben worden. Seinem Wunsche betreffs Unterstützung der Iangtsc- Vicekönige ist indessen nicht entsprochen worden. Statt dieser beioen gemäßigten Staatsmänner, welche ihren Pflichten gegen eie Europäer loyal nachgekommen sind und Mord und Schandtbaten in ihren Provinzen verhindert haben, sind die Reaktionäre Jung-Lu und Hfu-Tunz ernannt worden. Ein kürzlich veröffentlichter Brief, der Jung-Lu zugeschrieben wird, rühmte, wie Jung-Lu und Prinz Tuan die Hilfs der patriotischen fremden- und christenfeindlichen Boxer erhalten hätten und wie sie geschworen hätten, mit deren Hilfe alle Fremden zu vernichten. Der Brief war an Tung-su- Siang gerichtet und Leutnant Graf Soden, der Com- mandeur des deutschen Detachements in der Gesandtschaft, sagte in einem amtlichen Bericht, daß mit den Truppen dieser nämlichen Leute die Garnison der Gesandtschaft zu kämpfen hatte, bis sie entsetzt wurde. Die Wahl dieser Per sonen, an deren Händen noch das Blut, der Europäer klebt, damit sie Friedensunterbandlungen führen sollen, zeigt, welche Achtung die Kaiserin-Wittwe den Mächte» entgegenbringt, und in welchem Sinne sie sich ihnen nähern will. Der letzte Negierungsact, den sie vor ihrer Flucht aus Peking vor nahm, war die Hinrichtung von fünf Mitgliedern des Tsung li Damen, welche für die am „wenigsten sremdenfeindlichen" galten. Die Ernennung von Beamten, die gerade von den mörderischen Angriffen auf die Gesandtschaften kommen, zu Fricdensunterhänvlern ist eine unverschämte Herausforderung Europas, und kann nur Lazu dienen, die Opposition der europäischen Bewohner Chinas gegen die vorgeschlagcne Räu mung Pekings zu vergrößern. Die Amerikaner in Schanghai bewerfen ihren guten Verstand und Vie richtige Auffassung der Situation, wenn sie ihren Präsidenten auffordern, auf der Ernennung einer geeigneteren Commission zum Friedens schluß zu bestehen. Jedermann muß klar erkennen, Laß Li und diese Baude von Reaktionären nicht ernannt sind, um eine wirkliche Regelung der Dinge vorzunehmen. Wenn eine derartige Regelung erwünscht wäre, würde die chinesische Regierung sie durch andere Vermittler bewerk stelligen lassen. Die Aufgabe dieser Friedenscommission ist vielmehr, die Unterhandlungen Lurch Feilschen und falsche Vorspiegelungen in die Länge zu ziehen, die Mächte gegen einander auszuspielen, die Straflosigkeit der Schuldigen in hohen Stellen zu erwirken, das Ansehen der Palastclique zu retten und das der siegreichen Barbaren zu vernichten. Wenn die Mächte sich überhaupt dazu bewegen lasten, mit dieser Commission zu verhandeln, so wird der letzte Einwand sich sogleich geltend machen. Wir hören bereits, daß die chinesischen Massen in vielen Gegenden deS Südens glauben, daß die Mächte geschlagen worden sind, und daß ihre Generale von den triumvhirenden Mandarinen gefoltert werden. WaS könnte besser geeignet sein, diesen Glauben zu stärken, als wenn sich die Mächte dazu herbeiließen, mit diesen Man darinen Friedensunterhandlungen einzugehen?" In den Provinzen ist inzwischen ein kaiserlicher Erlaß vom 20. August veröffentlicht worden, in welchen der Kaiser sich selbst anklagt, die Leiden und LaS Unglück, die über sein Volk hereingebrochen seien, verschuldet zu haben. Diese Selbst anklage des autokratischen Herrschers entspricht vollkommen dem eigenartigen Gemisch von despotischen und demokratischen Formen, auS denen fick das chinesische Staatengebilte zusammen setzt, und ist der Ausdruck deö unbedingten Verantwortlich- keitsgesühls, das durch alle Stufen der Beamtcnbierarchie bis zur obersten Spitze hindurckgeht. Aus diesem Gefühl leitet denn auch das Volk, obwohl c« dem Kaiser göttliche Ver ehrung zollt, die Berecktigung ab, sick mit bewaffneter Hand gegen eine sckleckte Negierung zu erheben. Beispiele, daß chinesische Kaiser sick vor ihrem Volke offen angeklagt baden, weist die chinesische Geschichte zu Hunderten auf; meist jedoch knüpfen die Anklagen an verheerende Naturereignisse, wie Dürre, Wassersnoth, Seuckcn u. dergl., an. Solcher Art war, woran die „Köln. Ztg." erinnert, der Erlaß des Kaisers Taukmang vom 2 t. Juli 1832, als eine lang- aubaltende Dürre die Provinz Tschili und die Hauptstadt beimsuchte. Einige Stellen daraus seien als Stilproben solcher Schriftstücke mitgetbeilt: „Die einzige Ursacke", beißt es da, „ist mein täglich tiefer werdender Sündenfall, mein Mangel an Aufrichtigkeit und Ergebenheit. Deshalb haben meine Gebete den Himmel nicht zu rühren vermocht. Ich frage niick, in welchem Puncte ich bei den Opfern gefehlt bade; ob Stolz und Verschwendungssucht in meinem Herzen Platz gegriffen haben; ob ick in den Regierungsgeschäften etwas versäumt und ihnen nicht ernsten Fleiß und emsige Be mühung cntgegenzebracht habe; ob ick mich durch un würdige Worte vergangen habe; ob bei Belohnungen und Strafen mit vollkommener Billigkeit verfahren wurde; ob ich beim Bau von Mausoleen und der Anlage von Gärten das Volk bedrückt nnd Gemeingut ver geudet habe; ob ich ungeeignete Leute zu Beamten eingesetzt babe, die Las Volk gepeinigt und bedrängt haben; ob bei der Verfolgung ketzerischer Sccten nicht Unschuldige betroffen worden sind; ob nicht bei den Kämpfen an der Westgrenze Greuel und Gemetzel verübt wurLen, um kaiserliche Be lohnungen zu erzielen. . . Darum werfe ich mich nieder und flehe zum kaiserlichen Himmel, mir Unkenntniß und Thorheit zu verzeihen und mir Selbslerneuerunz zu gewähren; denn Tausende und Abertausende unschuldiger Unterthanen werden durch meine, des einen Mannes Schuld betroffen. So zahlreich sind meine Sünden, daß ick ihnen kaum entgehen kann rc." Dieser Kaiser Taukwang scheint ein erfahrener Wetterdeuter gewesen zu sein, denn noch am Abend desselben Tages, an dem sein Erlaß erschienen war, ging der erflehte Regen in heftigen Schauern nieder und alle Welt pries den erhabenen Kaiser, dessen Gebet der Himmel so schnell erhört babe. Bleibt freilich die Wirkung aus, so wird die kaiserliche Autorität durch ein solches öffentliches SüNdenbekenntniß be denklich erschüttert, und so könnte es geschehen, daß Kaiser Kuangsü, der wieder einmal aus der Versenkung hervorgeholt wird, sich mit seinem jüngsten Erlaß um den Nest seines Ansehens geredet hat, falls er nicht dafür sorgt, daß ihm durch die schleunige Wiederherstellung friedlicher Zustände alsbald Folge gegeben wird. Einen Versuch dazu hat er ja nun durch die Entsendung des Prinzen Tsching nach Peking gemacht. Weitere Meldungen: * Rom, 9. September. Wie der „Messaggero" mittheilt, hat der italienische Gesandte in Peking telegraphirt, es werde in Peking aus den Commandanten der vereinigten Truppen eine besondere Commission zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung gebildet werden. Ferner berichte das Telegramm, daß die Boxer und die Anstifter der Metzeleien durch Kriegsgerichte abgeurtheilt werden. * London, 9. September. Weitere in Shanghai aus dem Norden verspätet eingegangene Telegramme besagen: Am 25. August hätten die Gesandten und Generäle in Peking über die Zer störung der verbotenen Stadt sich bcrathen, die die Russen entschieden befürwortet, während die übrigen erklärt hätten, zuvor ihre Regierungen zu befragen. — Die Engländer be- setzten Fenghai ohne Widerstand. Die Russen und Japaner durchstreiften daS Gelände bis 20 Meilen südlich Pekings und fanden nirgends Boxer. 300 amerikanische Reiter schlugen im Jagdparke 600 Boxer, tödteten 30, nahmen viele gefangen nnd erbeuteten Waffen und Flaggen. Neue russische, japanische und französische Truppen rückten am 1. Sep tember von Tientsin nach Peking vor. Die Telegraphen drähte von der Küste nach Peking wurden von den Boxern täglich zerschnitten; die Verbindung war unterbrochen. Alle Depeschen mit Ausnahme der russischen und japanischen gingen über einen von den Engländern und Amerikanern gelegten Draht. * Marseille, 9. September. Oberst Marchand ist heute an Bord Les Packetbootes „Armand Behic" nach China abgereist. Der Krieg in Südafrika. Lydenburg ist von den Boeren, wie gemeldet, geräumt. ES ist also auch in diesem günstigen Gelände Botha nicht möglich gewesen, die Umgebungsbewegung der Engländer zu verhindern. Er ist nordöstlich abgeschwrnkt, wie folgende Meldung ergiebt: * Kapstadt, 9. September. (Reuters Bureau.) General Buller hat heute früh Mauchberg, etwa 10 Meilen nord östlich von Lydenburg, überschritten und ist wieder auf den Feind gestoßen. Seine Geschütze wurden bis Lydenburg gehört. Das Gebirge wird hier immer wilder. Oestlich von Lydenburg erhebt sich der Moodiesberg bis zu 2100, der nördlicher gelegene Mauchberg gar bis zu 2618 m Höhe. Das häufig genannte Pilgrims Rest liegt nördlich dieser Berge. Das ist das Gelände, in dem Botha nunmehr den Kampf zu wagen gedenkt. KrügerS Post, das als nördlicher ConcentrationSpunct bezeichnet wird, liegt etwa 30 km nörd lich von Lydenburg. Die amtliche Meldung über die Einnahme Lyden burg s wird ergänzt durch ein Telegramm der „Central News" aus Rietfontein vom 8. d.: Die englischen Truppen sind jetzt im Besitz von Lydenburg; der Feinv wurde überflügelt und floh in der Richtung aus Pilgrims Rest. Der Rückzug war so überstürzt, daß die Boeren einige von ihren Geschützen I im Stich ließen. Der Feind beschoß auf dem Rückzüge, nm I diesen zu decken. Buller's Linien aus Geschützen, aber die I Geschosse trafen zu kurz. Keine Verluste auf englischer Seite. Feuilleton. ij Ein Opfer. Novelle von A. Bartelss. Nachdruck verboten. Eine dichte Schneedecke lag in den Straßen der Stadt, und noch immer senkte sich Flocke auf Flocke hernieder. Röthlich flimmerte das Licht der Laternen durch die Dunkelheit, und ge dämpft, wie ihr Schein, war jeder Laut. Selbst das Läuten der Glöckchen an Droschken und Lastwagen klang dumpfer als sonst durch die ungewohnte Stille- Frau -Oberstleutnant Ziegler ging in ihrem hell erleuchteten Wohnzimmer unruhig hin und her, und so bald das Schellen geklingel ihrem Hause näher kam, trat sie an eins der Fenster, um sich enttäuscht wieder abzuwenden, wenn es sich entfernte. Sie erwartete die Heimkehr ihres einzigen Sohnes, der als junger, unbekannter Assessor nach Berlin gereist war, um der Erstaufführung seines Dramas beizuwohnen, und nun durch den überraschend glänzenden Erfolg desselben mit einem Schlage zum gefeierten Dichter geworden war, dessen Name in Aller Munde lebte. Wie gern wäre sie dem Drängen ihres Herzens gefolgt und hätte ihn an der Bahn in Empfang genommen; aber er liebte die Begrüßungen vor fremden Augen nicht, und so hatte sie auch heute ihre eigenen Wünsche dem seinen untergeordnet und harrte des Ankommenden mit wachsender Ungeduld. Horch, klang da nicht die Hausglocke? Stampfte da nicht Jemand den Schnee von den Füßen? Nein, das konnte keine Täuschung sein; denn nun tönte auch ihrer Dore rauher Alt im Flur. Sie eilte vorwärts, aber schon ward die Thür weit aufgerissen, und im nächsten Augenblick hielten die starken Arme des Mannes, für den und in dem allein sie lebte, sie umschlungen, und ein bärtiger Mund preßte sich fest auf den ihren. „Mein Ludwig", stammelte sie; „Gott segne Dich, Du Liebling!" Und dann sich aus seiner Umarmung lösend, hielt sie ihn mit beiden Händen von sich und sagte zwischen Lachen und Weinen: „Also so sieht ein ruhmgekrönter Dichter aus!" „Diel anders, als der obscure Ludwig Ziegler, der Dich vor Kurzem verlassen hat, doch wohl nicht. Innerlich wenigstens ist er noch der alte Mensch, mit der alten Liebe für die beste aller Mütter." Noch einmal küßte er sie zärtlich, dann zog er sie an den Theetisch, der zu seinem Empfang» festlich gedeckt war. Mit raschem Blick umfaßte er alle die Zurüstungen, von seinen Lieblingsgerichten bis zu dem duftenden Veilchenstrauße vor seinem Gedeck, und ein freudiges Aufleuchten seiner Augen ver- rieth der Mutter, daß er dankbar in dem Allen ihre Liebe erkannte. Während sie ihm die Schüsseln reichte und den dampfenden Thee in seine Tasse goß, fing er an zu erzählen. Sie las ihm die Worte von den Lippen, welche ihr den seine Erwartungen weit übertreffenden Erfolg seiner „Walburg", den ihr seine Briefe und die Zeitungen schon gemeldet hatten, bestätigten, und immer strahlender wurden ihre Blicke, immer stolzer ihr Lächeln, je länger er sprach. Wie hatte sie mit ihm gehofft und gebangt! Jedes Wort seiner Tragödie war ihr ja bekannt; Scene für Scene hatte er mit der Mutter, deren feiner Kunstsinn ihm immer maßgebend gewesen war, besprochen, und wie ein Theil von ihrem eigenen Sein war ihr sein Werk geworden. Stumm, mit Thränen in den Augen, reichte sie ihm die Hand, als er geendet, und ein heißes Dankgefühl gegen Gott, der ihres Sohnes Streben mit so überreichem Erfolge gekrönt hatte, erfüllte ihr Herz. Eine Weile verharrten Beide in Schweigen. Dann stand Ludwig auf und durchmaß ein paar Mal in sichtlicher Erregung das Gemach. Plötzlich blieb er vor der Mutter stehen, und ihre Hand ergreifend, sagte er bewegt: „Ich habe mehr noch und Besseres, als Lorbeeren, in Berlin gefunden: eine Braut, deren Liebe mir das höchste Erdenglück bereiten soll." Die Hand, welche er in der seinen hielt, zuckte, und tödtliches Erblassen legte sich über das Antlitz seiner Mutter. „Mutter", flüsterte er erschrocken und ließ sich auf ein Knie nieder, flehend und sorgenvoll zu ihr aufschauend. Sie hatte die Augen geschloffen. Leidenschaftliches Schmerz gefühl drohte sie zu ersticken. — Ihr Sohn, der ihr bisher Alles gewesen war, der jeden Wunsch, jede Hoffnung mit ihr getheilt hatte — er sollte fortan einer Anderen gehören? — Doch nur für wenige Sekunden ließ sie diesen Gedanken Herr über sich werden. Al» sie die Lider aufschlug und seinem schmerzlichen Blick begegnete, hatte schon die Mutterliebe die selbstische Regung überwunden, und voll warmen Mitgefühls fragte sie: „Du bist glücklich? — Nein, sieh mich nicht so traurig an, sonst muß Deine thörichte Mutter sich schämen." Fest zog sie ihn an sich und küßte ihn auf die Stirn, zwar noch mit zuckenden Lippen, aber doch schon in dem Bewußtsein, daß sein Glück ihr stets das Höchste sein würde, wo immer er e» fände. — „Sprich mir von ihr, die mir eine liebe Tochter sein soll, und laß mich wissen, wie sich Eure Herzen gefunden. Hat die Begeisterung für Dein Werk die Lieb« in ihr geweckt?" „Kaum", lachte er, „hat sie mir doch selbst gestanden, daß sie sich schrecklich bei der Aufführung gelangweilt hat. Ach, Mutter, sie ist wie eine Waldblume, so hold und thaufrisch, und für die düstere Tragik meiner „Walburg" wird ihr immer das Ver- ständniß fehlen. Und soll es auch! Sie ist ein Sonnenkind, und mein Sonnenschein soll sie sein, nichts weiter. Ihr sorgloser Kindersinn wird mir Erholung und Erquickung bringen." Frau Ziegler schwieg. In ihrer Brust regte sich jubelndes Frohlocken. — Sie würde allein an seinem Geistesleben Theil haben, das Beste blieb ihr erhalten für alle Zeiten, so klang es in ihr. Doch nur wenige Herzschläge lang vermochte sie sich dieses Gedankens zu freuen, dann kam schon die bange Frage: Wird er glücklich werden an der Seite einer solchen Frau? — Zwar hatte sie selbst ein reines, unvergeßliches Glück in ihrer Ehe gefunden, obgleich auch sie eine poetisch veranlagte Natur war, deren Begabung, 'vertieft und zur Genialität gesteigert, in dem Sohne fortlebte, ihr Gatte dagegen ein ernster, nüchterner Mann, dem sein Dienst als das Höchste galt, und der oftmals über seine phantastische Frau gelächelt hatte. Aber was ihr nur lieblicher Schmuck des Lebens gewesen war, füllte Ludwig's ganzes Sein aus. Und er hoffte, sein Glück zu gründen auf die Liebe einer Frau, der für die Schöpfungen seines Geistes jedes Berständniß mangelte? Was half ihm vergängliche Schön heit des Leibes, wenn nicht seelische Gemeinschaft ein unver gängliches Band knüpfte? Sie schüttelte in trüber Ahnung daS Haupt, und ihre Zweifel schwanden auch nicht, als er weiter erzählte von der geliebten Braut. War es die Eifersucht des Mutterherzens, das den Liebling keiner Andern gönnte, was ihr den Blick trübte, daß ihr aus seinen begeisterten Worten ein so ganz anderes Bild erstand, als er selber sah? Das Bild eines verwöhnten, eigenwilligen, oberflächlichen Kindes, das ihres Sohnes nimmer Werth sein konnte? Sie wehrte sich mit aller Macht gegen die häßlichen Gedanken. Ludwig liebte dieses Kind, das mußte ihr genug sein, es auch zu lieben. Sollte denn die Liebe eines Mannes, wie ihr Sohn es war, nicht im Stande sein, die Geliebte empor zu ziehen? Und gerade, wenn sie noch so jung und unberührt war, mußte es ihm dann nicht um so leichter werden, sie zu bilden, wie er es wünschte? So suchte sie sich zu trösten, und allmählich gelang es ihr auch, seine Hoffnungsfreudigkeit zu theilen und gleich ihm die Zukunft in lichten Farben zu sehen. Doch als sie dann endlich allein auf ihrem Lager ruhte, erhob sich aufs Neue, was sie eben besiegt hatte: bange Sorge und bitteres Weh; und wie aus ihrem Herzen ein inbrünstiges Gebet um deS Sohne» Glück zu Gott emporstieg in der Stille der Nacht, gelobte sie sich, daß ihr für ihn kein Opfer zu schwer sein sollte. Keines! V * Monde waren vergangen. Rosen blühten, wo damals die Weiße Schneedecke gelegen hatte, und Rosenduft zog in das offene Fenster, an dem Frau Oberstleutnant Ziegler saß. Das Buch, in welchem sic gelesen, hatte sie in den Schooß sinken lassen, und ihre Augen blickten sinnend ins Weite, während ein glückliches Lächeln um ihre Lippen spielte. Sie dachte des Sohnes und seiner Gattin, die zur Maienzeit sich fürs Leben verbunden hatten, und seit wenigen Wochen im eigenen, mit ver schwenderischer Pracht ausgestatteten Heim hausten, und Bilder von Glück und überschwänglicher Seligkeit tauchten vor ihrer Seele auf. Sie meinte, das Helle, übermüthige Lachen ihrer Schwiegertochter zu hören, ihre feine, elfenhafte Gestalt mit den goldigen Locken und den blauen, strahlenden Augen, die Licht und Glanz zu verbreiten schienen, wohin sie blickten, vor sich zu sehen, und halb unbewußt flüsterte sie: „O, möchtest Du bleiben, was Du ihm jetzt noch bist: der Sonnenschein seines Lebens!" Da ertönte laut und ungestüm die Flurglocke in ihre Träume, und im nächsten Augenblick hörte sie die Stimme Derjenigen, bei welcher ihre Gedanken eben noch geweilt hatten. Freudig überrascht stand sie auf, um dem lieben Gast entgegenzugehen, als die Thür schon aufflog und ihre Schwiegertochter sich laut schluchzend in ihre Arme warf. „Lilli, Herzenskind, um Gottes Willen, sprich, was ist ge schehen?" fragte sie bestürzt und versuchte, das Köpfchen, welches sich fest an ihre Schulter preßte, aufzurichten. „Ach, Mama, Mama", klang es mit thränenerstickter Stimme als Antwort, „ich bin so unglücklich, so grenzenlos unglücklich! Ich wollte, ich wäre todt! Ich wollte, ich hätte Ludwig nie gesehen!" Wieder sank das blonde Haupt herab, und krampf haftes Schluchzen erschütterte die zierliche Gestalt. Einen Augenblick stand die Mutter rathlos; dann zog sie die Willenlose mit sich aufs Sopha, nahm ihr Hut und Umhang ab, streichelte liebkosend über das lockige Haar, bis das Weinen verstummte, und sagte dann in ihrer milden, sanften Weise: „So, mein Liebling, nun erzäble mir, was Dein Herz bedrückt." Eine wirre Fluth von Klagen und Beschuldigungen sprudelte darauf über die Lippen der jungen Frau: daß Ludwig sie ver nachlässige, daß sie sich vereinsamt fühle und nach Zerstreuung und Abwechselung verlangt, und daß er ihr heute Morgen rundweg abgeschlagen habe, mit ihr auszufahrrn. „Aber gewiß nur, weil er nicht anders konnte", suchte die Frau Oberstleutnant zu begütigen. „Nicht ander» konnte! Nein, freilich nicht", fuhr Lilli auf
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