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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 13.09.1900
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1900-09-13
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19000913024
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1900091302
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1900091302
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1900
- Monat1900-09
- Tag1900-09-13
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Größere Schriften laut unserem Preis- vrrzeichuiß. Tabellarischer und Zisferusatz nach höherem Tarif. Extra-Beilagen (gefalzt), nur mit de. Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderuuß 60.—, mit Postbeförderung 70.—. Annahmeschluß für Anzeigen: Abend-AuSgabe: Vormittags 10 Uhr. Marge «-Ausgabe: Nachmittags 4 Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je ei» halbe Stunde früher. Anzeige« sind stets au die Sxpedttt»» zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. 487 Donnerstag den 13. September 1900. 94. Jahrgang. Die Wirren in China. Tic Lage in Peking. Die von uns im Morgenblatt mitgetheilten telegraphischen Berichte der „Times" über die Schuld der amtlichen chine sischen Persönlichkeiten an der Belagerung der Gesandtschaften und der Ermordung res Frciherrn von Ketteler kommen von 1)r. Morrison (einem Mediciner), dem bekannten Berichterstatter der „Timeö", welcher die Schrecken der Belagerung mit durchgc- macht bat. Er ist allerdings nur ein Zeilungscorrespondcut,aber er hat sich bis jetzt als ein Mann von gesundem Urtheil und großer Zuverlässigkeit bewäbrt. So lange daher die amtlichen Be richte der Consuln nicht vorliegen, muß man sich an seine Enthüllungen halten, welche es als völlig unmöglich erscheinen lassen sollten, baß die an dem Pekinger Berbrechen Schul digen frei ausgehen und in den Stellungen belassen werden, welche sie jetzt noch cinnehmen. Aus Morrison's vom 3l. August batikten Berichten sei noch das Folgende nach getragen: Londoner Zeitungen, .die hier eingegangen sind, lehren mich, daß meine Depeschen, die ich während der Belagerung fortdauernd absandte, trotz der hohen Belohnung nicht durch die Postenkette der chinesischen Truppen hindurchgelangt sind; die Boten wurden getödtet. Ferner geht auS den Blättern hervor, daß überall im Auslande die chinesischen Ge sandten die fremden Regierungen irre zu führen suchten durch die erlogenen Berichte, daß die Angriffe auf die Gesandtschaften und die Beschießung der Gebäude, die mit Frauen und Kindern vollgestopft waren, verbrecherischen Rebellen zur Last zu legen seien, daß dagegen die Regierung den Wunsch gehabt habe, diese Rebellen zu unterdrücken, aber machtlos gewesen sei. Demgegenüber ist als die Wahrheit festzustcllen, daß die Angriffe auf die Ge sandtschaften auf Befehl der Kaiserin-Regentin vrganisirl wurden durch Junglu, Tungfuhfiang und Lipin gheng, hohe Regicrungsbeamte, die durch kaiser lichen Erlaß angewiesen waren, die Gesandten durch Feuer, Schwert und Aushungerung zu vernichten. Während der Belagerung beschossen Krupp'sche Geschütze, die auf der Mauer der kaiserlichen Stadl und auf dem dem Palast gegenüber gelegenen Thore der Stadtmauer aufgestellt waren, die Gesandtschaften. Am 25. Juni wurde vcrfucht, die Fremden durch niedrigsten Berrath in Sicherheit zu wiegen, um dann einen unerwarteten, gleichzeitigen Angriff zu unternehme», der vom kaiser lichen Palaste aus geleitet wurde. Während der ganzen Zeit der zweimonatigen Belagerung durfte keine Nahrungs zufuhr durch die chinesischen Truppen durchgelassen werden. Am 18. Juli jedoch hatten die chinesischen Minister die Frech heit, einige Melonen, Eis und einen Sack Mehl in die britische Gesandtschaft zu schicken, wo die Frauen und Kinder sich aufhielten, aber es wurde Berrath befürchtet und Niemand wollte das Mehl essen, weil man fürchtete, daß eö vergiftet sei. Während der Verhandlungen gegen Ende der Belagerung, als Waffenstillstand war, arbeiteten die chinesischen Truppen Tag und Nacht und führten von dem kaiserlichen Wagenpark aus eine Mine unter die britische Gesandtschaft und das zweistöckige Gebäude, das die britischen Dolmetschereleven bewohnen. Daß wir gerettet wurden, war ein wunderbarer Zufall; vielleicht wäre am nächsten Tage eine Explosion erfolgt, die einen Weg in die Gesandtschaft gebahnt und großen Verlust an Menschenleben zur Folge gehabt hätte. Eine ähnliche, von den kaiserlichen Truppen angelegte Mine explodirte in der Peitang-Kathedrale und verschlang 200 chinesische Christen. Ferner unterminiricn die Chinesen während des Waffenstillstandes die Stadtmauer unter der amerikanischen Barrikade; auch hier kam der Entsatz gerade zur rechten Zeit. Hier herrscht tiefe Entrüstung darüber, daß die Gesandten Losengluh und Wutongfang, die durch schamlose Lügen und die Uebermittlung falscher kaiserlicher Erlasse den Ausbruch der Rettungsexpebition so lange verzögerten, bis es fast zu spät war, noch mit allen Ehren in London und Washington empfangen werden. Seit der Ankunft der Entsatztruppen ist kein Boxerführer weder verhaftet noch bestraft worden. Die Tempel, in die sie sich flüchteten, und die ihr Hauptquartier bilden, sind nicht zerstört worden und der kaiserliche Palast, das Zeichen der chinesischen Macht, wird geehrt und geachtet, während freundschaftliche Botschaften an die Kaiserin ge sandt werden, deren b lut iger Verrat h ohne Beispiel in der Geschichte dasteht. Die Censur über die Preßdepeschen wird unter der Controle desGeneralstabs des indischen Contingents ausgeübt, dessen Kenntniß von China natürlich beschränkt ist. Die Einschränkungen, denen die ausführliche Bericht erstattung unterworfen ist, Verbindern, ein genaueres Bild von der gegenwärtigen Lage in Peking zu geben. Wir erzitterten vor Schrecken bei dem Empfang der verspäteten Nachricht von einem Gemetzel der Missionare in Paotingfu, wo die kaiserlichen Truppen in Gar nison liegen, wo Kinder unter den Augen ihrer Eltern ermordet, Frauen und Männer gefoltert wurden. Dieses Gemetzel erfordert allgemeine Rache, aber obwohl Paotingfu nur 130 km von Peking entfernt ist, bleiben die Truppen unthälig, anstatt die armen Märtyrer zu rächen. Tcr kaiserliche Hof. Nach Mittheilungen, welche Reuter's Bureau aus Shanghai, wie es sagt, aus zuverlässiger Quelle bat, halten sich der Kaiser, die Kaiserin-Wittwe und Prinz Tu an in Tatungfu in der Provinz Schansi auf, wo sie kurze Zeil verweilen werden. Von hier auS wollen sie sich nach Taiyuenfu begeben, wo sie zu verbleiben gedenken, wenn sie unbehelligt gelassen werden. Also wäre die Nachricht, daß der Hof sich nach Norden, nach Kalgan, begeben habe, falsch gewesen, oder aber die letzte Neutermeldunz ist irrig — der Leser kann nach Belieben wählen. Besonders viel kommt übrigens nicht darauf an, wohin sich die Schuldigen zurückgezogen haben, zu erreichen sind sie doch kaum und freiwillig stellen werden sie sich sicher nicht. Lt. Aus Washington, 12. September, wird berichtet: Li tz ung - Tschang soll ein Kriegsschiff zur Verfügung ge stellt werden, wenn Sir Robert Hart dies wünschen sollte. Shanghai. Der „Times" wird aus Shanghai vom 9. September gemeldet: Ter japanische Generalkonsul hat seinen Col lege« die Absicht der japanischen Negierung kundgegeben, Truppen zu senden, die im Einverständniß mit den französischen, englischen und deutschen Truppen handeln sollen, um die Concessionen von Sbanghai zu be schützen. Inzwischen werden die japanischen Kriegsschiffe, die augenblicklich im Hafen liegen, unverzüglich 900 Mann landen, was die Gesammtzahl der fremden Truppen in Shanghai auf 5000 Mann erhöhen wird: 3100 Eng länder, 800 Franzosen, 600 Deutsche. Darin ist das aus Ausländern zusammengesetzte Shanghaier Freiwilligencorps nicht einbegriffen. Die französischen, deutschen und japanischen Behörden haben ihre Truppen in den Zollgebänden und in einigen andern Räumlichkeiten unlergebracht, die vorläufig in Casernen umgewandclt werden. Sie haben mitgetheilt, daß die Kosten, die aus dieser Besetzung entstehen, in die Gesammt- abrechnung über die zu fordernde Entschädigung eingerechnet werden würden. Die englischen Truppen campiren nahe am Ufer. Nach einer Depesche des „Standard" aus Shanghai vom 10. ds. sind bekanntlich inzwischen dort 600 japanische Seesoldaten gelandet worden, sie hätten sich formell unter den Beseht des englischen Generals gestellt. Der Krieg in Südafrika. Präsident Krüger. Die letzte Meldung über die Ankunft Krüger's in Lourentzv Marques war von den verschiedenen während der letzten Tage verbreiteten Nachrichten über seinen Aufent halt — auch in Pilgrims Rast sollte er, wie noch nach getragen sei, angelangt sein — die allein richtige. Drei eng lische Blätter bestätigen das mit solcher Bestimmtheit und unter Angabe so markanter Einzelheiten, daß an der That- sache nicht zu zweifeln ist. So wird berichtet: * Loudon, 13. September. „Daily Mail" berichtet aus Louren^o Marques unter dem 12. d. M.: Im Gefolge des Präsidenten Krüger befindet sich auch der Unterstaatssckretär für auswärtige Angelegenheiten Piet Grobler und der Generalauditeur Marais. Letzterer hat alle seine Bücher und Beamten mitgebracht. Staatssekretär Neitz ist nicht mitgekommen. Nach einer amtlichen Bekanntmachung der Regierung von Transval hat Krüger tt Monate Urlaub erhalten nnd reist am 20. d. M. nach Europa ab, nm für die Herbei führung einer Intervention zu wirken. Schalk Burger soll zum Stellvertreter Krüger's gewählt worden sein. Man sieht dem Präsidenten die geistige Ucberanstrengung während der letzten Zeit an. — „Daily NcwS" erfahren: Präsident Krüger hat sich von zwei Aerzten untersuchen lassen. — Die „Times" be- richten: Tcr Sonderzug mit dem Präsidenten Krüger fuhr nicht in die Station ein, sondern wurde auf einem Nebengleise in die Nähe des Hauses des niederländischen Consuls Pott geleitet, in welchem er sich jetzt mit seinem Gefolge aushält. — Der Gencralschatzmeister Malherbe wird heute Abend in Louren^o Marques erwartet. — Nach einem Telegramm des „Daily Telegraph" wird das Haus des niederländischen Consuls Pott Lurch eine besondere Schutzwache portugiesischer Polizei bewacht. — Der Gouverneur von Lourenyo Marques stattete gestern früh dem Präsidenten Krüger einen Besuch ab. Diese Nachrichten sind auffallend genug. Was will Präsi dent Krüger in Europa? Die Boerencommission, die vor ihm Europa und die Vereinigten Staaten bereist hat und noch letzthin vom Zaren empfangen wurde, hat, wie voraus zusehen und ihr auch von allen Seiten vorausgcsagt wurde, vollständig Fiasco gemacht. Es ist ganz undenkbar, daß Krüger selbst mehr Glück hat, und das muß er wissen und weiß eS auch. Die Mächte sind jetzt viel zu sehr im fernen Osten engagirt, als daß sie daran denken könnten, in Süd afrika dazwischen zu springen und England seinen Raub auS den Zähnen zu ziehen. Vielmehr hat es den Anschein, daß der greise Patriarch der Transvaalbauern, geistig und körperlich niedergebeugt durch die Erfahrungen eines furchtbaren Jahres, jetzt auch die letzte Hoffnung auf einen Sieg der gerechten Sache seines tapferen Volkes aufgiebt. Allerdings baben in der letzten Zeitz die Oranjeboeren wieder von sich hören gemacht und die Engländer aus wichtigen Positionen vertrieben, allein bei Lydenburg vermag Botha trotz deS für ihn kämpfenden Ge ländes dem Ansturm der Buller'schen Uebermacht nicht Stand zu halten. Es steht ja freilich den von Lydenburg abgezogenen Beeren der ganze Nordosten Transvaals, und namentlich der Abzug in die schwierigen nördlichen ZoutpanSberge, unbestritten offen und gegenüber den errungenen Vortheilen haben die Eng länder den schwerwiegenden Nachtheil in den Kauf zu nehmen, daß ihre zu sichernde Operationslinie sich abermals um ein erhebliches Stück verlängert hat und daß, wenn sie die Verfolgung in nördlicher und östlicher Richtung fort setzen, thalsächlich von einem OperationSheer nicht mehr die Neve sein kann, allein auch dieser Guerillakrieg muß einmal ein Ende nebmen. In jenen ungesunden Gegenden können es auch die Boeren auf die Dauer nicht auShalten und Eng land kann warten, wie es bisher gewartet hat. So wird Wohl nicktS übrig bleiben, als sich auf vaS Zusammensinken und Erlöschen deS Feuers kriegerischen Muthes und froher Siegeszuversicht eines vom Knaben bis zum Greise für seine Freiheit kämpfenden Volkes gefaßt zu machen. Ein gutes Zeichen ist Krüger's Reise nach Europa jedenfalls nicht. Politische Tagesschau. * Leipzig, 13. September. In letzter Zeit wird zwischen der Socialdcmokratie und dem Ecntrnm mit scharfen Patronen geschossen. Ter Verlauf des Bonner „Katholikentags" hatte die Socialdemokraten so verdrossen, daß sie für die Zukunft die Parole aus gaben: „Hie Socialdemokratie — hie Centrum!" So fort erklärte die „Kölnische Volkszeitung", stolz wie ein Spanier, diese Parole acceptiren zu wollen. Mit un verkennbarem Geschick richtet nun die socialdemokratische Presse ihr schweres Geschütz auf eine sehr schwache Position ibres neuen FeindeS: auf die Haltung des Centrums zur Chi na frage. Schon unmittelbar nach Beendigung der Bonner Versammlung hatte der „Vorwärts" sein Erstaunen darüber ausgedrückt, daß die sonst den Mund so voll nehmenden Centrumsleute sich über die Chinafrage gründlich ausgeschwiegcn hatten. Jetzt nagelt er eine recht unvor sichtige Aeußerung der „Köln. Volksztg." fest. Dieses Blatt erklärt nämlich: „Wir waren der Meinung, daß man der Regierung freie Hand lassen sollte, da sie offenbar die Absicht hatte. Alles selbstständig zu arrangiren, aber ihre alleinige Verantwortung haben wir auch sofort betont." Voller Ingrimm bemerkt darauf der „Vorwärts": „Tie Ausschaltung der Neichstagsrechte, dieser erste Erfolg der Weltpolitik, wird vornehmlich dem Centrum verdankt. Nicht nur hat das Centruin seit Jahren seine ausschlag gebende Stellung im Reichstage aus die Preisgabe elementarer Rechte der Volksvertretung verwendet, es hat auch durch sein feiges Verhalten in den letzten Monaten des Chinazugs der Regierung erst deu Muth eingeblasen, die Volks- l Vertretung als Lnft anzusehen. Das Centruin versucht seiner Feuilleton. 4j Ein Opfer. Novelle von A. Bartels. Nachdruck verbclen. rSchluß.) langsam stieg Lilli von ihrem Zufluchtsorte herab und näherte sich zögernd und unschlüssig der Gruppe am Boden. Niemand be achtete sie. Mutter und Sohn hörten nichts als das herzzerreißende Jammern des kleinen Hans, dessen Kopf im Schooße der Groß mutter ruhte. Noch einen Schritt trat Lilli vor. Da streifte ihr Kleid ihres Gatten Hand, und wie ein Rasender schnellte er empor. „Werb, wag' es nicht, das Kind zu berühren!" stieß er heiser hervor. Keuchend kam der Athem aus seiner Brust, und die Stimme versagte ihm. Ruhiger fuhr er dann fort: „Ich will Dich nicht fragen, wie das Unglück geschehen konnte; die Ant wort finde ich selbst. Du warst des Spielzeugs müde, das Du Dir gesucht hattest und warfst es achtlos bei Seite. So kam das Kind, das Niemand behütete, an den Kamin, ein Funke fiel auf das leichte Schürzchen, und als die Flammen emporschlugen und Hans bei Dir Schutz suchte, da warst Du nur auf die eigene Rettung bedacht, und überließest ihn erbarmungslos seinem Schicksal. — Eine Mutter, die so handelt, scheidet sich auf immer von ihrem Kinde. Du hast kein Anrecht mehr an HanS. Geh, geh!" Schritt für Schritt wich sie vor seinem lodernden Blick zurück bis in das Nebenzimmer; dort sank sie mit einem Aufschrei in Krämpfen nieder. In diesem Augenblick kehrte das Hausmädchen mit einem Arzte zurück. Doch seine Sorge galt zunächst dem Kinde, und erst als dieses verbunden in seinem Bettchen lag, konnte er nach Lilli sehen. Zusammengekauert saß sic auf der Chaiselongue in ihrem Schlafzimmer und schaute mit großen, furchtsamen Augen auf. „Schlafen will ich, nur schlafen", flüsterte sie. „O, helfen Sie mir!" Er verschrieb ihr Morphium, das rasch aus der Apotheke herbeigeholt ward. Aber der ersehnte Schlaf blieb aus. — Endlich kam der Hausarzt, wiegte bedenklich das Haupt und rieth, ihr noch einmal von den Tropfen zu geben. Doch sie waren nicht zu finden, und Niemand vermochte sich zu erinnern, wo sie bei der im Hause herrschenden Verwirrung geblieben waren. Lilli's Jungfer, welche von den vielen Nachtwachen ganz erschöpft war, gerieth über dem Suchen in eine solche Aufregung, daß der Arzt ihr verbot, das Krankenzimmer wieder zu betreten, und Frau Oberst leutnant Ziegler bat, bei ihrer Schwiegertochter zu bleiben, und schließlich war er genöthigt, ein neues Recept zu schreiben. Während der Diener dasselbe nach der Apotheke brachte, warf sich Lilli jammernd und händeringend auf dem Lager hin und her, nur zuweilen scheu zu der Mutter hinüberblinzelnd, um sich zu überzeugen, daß sie noch da wäre. Stumm und bewegungs los, die Stirn in die Hand gestützt, saß diese in dem ungewissen Dämmerlicht, welches die halbverhängte Ampel verbreitete, und hing ihren qualvollen Gedanken nach. Jeder Klagclaut der Kranken steigerte ihre fieberhafte Erregung. Wie durfte sie klagen, die so unsägliches Elend über die Ihren gebracht hatte? Sie hatte kein Recht mehr auf Mitgefühl, auf Hilfe. Mochte ihr doch der Schlaf versagt bleiben, bis sie gebrochen war an Lekb und Geist und der Tod ihr die Ruhe brachte, die sie so ungeduldig begehrte — es traf sie nur, was sie selber verschuldet hatte, und Ludwig ward frei! Frei aber mußte er werden, ehe noch diese Frau ihr Aeußerstes gethan und die Seele seines Kindes vergiftet hatte. O, er würde sich jetzt nicht mehr sträuben, diese Fesseln, die ihn wund gedrückt hatten, von sich zu werfen — er nicht! Aber sie — sie! Hatte sie es nicht heute noch ausgesprochen, daß sie ihren Platz behaupten wollte? Nein, freiwillig wich sie nicht, und um deS Kindes willen würde Ludwig sie nicht zwingen. Aber er sollte nicht untergehen um ihretwillen, er nicht und nicht der Knabe, und wenn es kein anderes Mittel gab, ihn zu retten, dann — dann Sie dachte nicht weiter. Abwehrend hob sie beide Hände, und ihre Augen weiteten sich wie vor etwas Grauen vollem, daß Lilli, in jähem Entsetzen aufschreiend, emporfuhr. Secundenlang starrten die beiden Frauen sich in die blaffen, erregten Gesichter; dann strich sich die Mutter, wie aus sinn verwirrendem Traume erwachend, über die Stirn, und Lilli sank in die Kissen zurück. Dabei stieß ihre Hand an das Tischchen neben ihrem Bette, und ein Ring fiel herab und rollte über den Teppich. Die Mutter bückte sich, ihn aufzunehmen, aber er war unter dem Toilettentische verschwunden, und sie zündete eine Kerze an, um ihn zu suchen. Da, als sie niederkniete, fuhr es wie ein elektrischer Schlag durch ihre Glieder — neben dem Ringe lag das vermißte Fläschchen! Mit zitternder Hand hob sie es auf und richtete sich langsam empor. — War das ein Zeichen? — Ihre Zähne schlugen wie im Fieber aufeinander. Starren Blickes maß sie die Flüssigkeit: es war genug, Lilli Schlaf zu verschaffen — für immer! — Mit abgewandtem Gesicht setzte sie das GlaS auf den Tisch rrnd preßte die Hände gegen die Schläfen. In diesem Augenblicke vernahm sie den Tritt des zurückkehren den Dieners, und hastig, kaum wissend, weshalb, verbarg sie ihren Fund in der Tasche ihres Kleides. Unmittelbar hinter dem Diener trat eilig eines der Mädchen herein, um sie zu Hans zu rufen, der furchtbare Schmerzen habe und einen neuen Verband brauche. „Ich komme", flüsterte sie und wollte das Himmer verlassen; aber Lilli sprang auf, haschte nach ihrem Kleide und schrie: „Meine Tropfen, erst meine Tropfen! Meinst Du, ich will hier sterben?" Wie eine eisige Klammer legte es sich um das Herz der Mutter. Sie winkte dem Mädchen, voranzugehen und trat an den Tisch, um Lilli Tropfen zu geben. Ihre Hand bebte nicht mehr, als sie die verordnete Zahl in das Glas träufelte und dann aus der Tasche das Fläschchen hervorzog und seinen ganzen Inhalt hinzu goß. In ihrem Blicke glühte ein unheimliches Feuer, als sie zu sah, wie Lilli das Glas leerte und das Gesicht nach der Wand kehrte. Einen Moment-zögerte sie noch, dann löschte sie die Kerze, steckte das leere Fläschchen zu sich und ging leise zu Hans hinüber. Mit linder Hand verband sie seine Wunden und sprach liebe voll mit dem Knaben, bis sein Schluchzen und Jammern in leises Wimmern überging und endlich die gleichmäßigen Athem- züge verriethen, daß er in Schlummer sank. Schweigend saß sie ihrem Sohne gegenüber an dem Gitterbette des Kindes und lauschte hin nach Lilli's Zimmer, als müßte ein Schrei ver künden, waS dort Entsetzliches geschehen war. Aber Alles blieb still. — Endlich sandte sie ein Mädchen hinein, um nachzusehen, ob die Kranke etwas bedürfe; doch es kam wieder mit der Mel dung, die gnädige Frau läge ganz ruhig und schiene zu schlafen. Ein Schauer durchlief die Gestalt der Mutter. War es der ewige Schlaf? — Und wieder horchte sie gespannt hinaus. Stunde auf Stunde verging so. Von Zeit zu Zeit, wenn der Knabe erwachte, erneuerte sie den Verband; dann trat wieder die alte Stille ein, und sie meinte, das Schlagen ihres Herzens zu hören, das so seltsam laut in ihrer Brust hämmerte. Der Arzt kam noch einmal, nach den Patienten zu sehen, und befahl, den Schlaf der jungen Frau durch nichts zu stören. Auf die Bitten seiner Mutter legte auch Ludwig sich endlich zur Ruhe, während eines der Mädchen vor Lilli's Schlafzimmer wachen sollte. Nun saß sie allein bei dem Kinde die lange Nacht, und ihr war, als sei alles Empfinden in ihr erstorben. Sie hörte jeden Glockenschlag von den Thiirmen der Stadt, und ein dumpfes Grauen beschlich sie, wie die Stunden verrannen und das Nacht licht ausflatkrrnd erlosch. Endlich dränst k>er «st« fahle Schein des heraufdämmernden Morgens durch die Fenster. Da ertrug sie es nicht länger. Geräuschlos stand sie auf und ging durch die öde Zimmerflucht. Das Mädchen schlief fest und hörte nichts von ihrem Kommen. Auf der Schwelle zu Lilli's Schlafzimmer blieb sie stehen; ein Schwindel befiel sie, daß sie nach einem Halt suchen mußte. Mit geschlossenen Augen lehnte sie an der Bekleidung, und das Herzklopfen drohte sie zu ersticken. Dann raffte sie sich auf und trat an das Bett, wo die junge Frau noch ruhte, wie sie sie ver lassen hatte. Kein Athemzug ward hörbar, und als sie eine Hand auf die blasse Stirn legte, fühlte sie sich von Todeskälte durch schauert. — Ihr Werk war vollbracht! — Langsam zog sie die Hand zurück und sank mit brechenden Knien neben dem Lager nieder. — „Mörderin!" schrie es in ihr, und sie meinte, sie müßte es auch hinausschreien in die Welt, daß die Diener der Gerechtig keit kämen, Sühne zu fordern für die furchtbare That. Ein Gefühl von Ruhe stieg in ihrem Herzen auf bei diesem Gedanken. Ja, sühnen! Leben um Leben! Dann hatte die Qual ein Ende, und Alles war vorbei! Da schlug sie die Hände vor das Gesicht. Ludwig! Sollte er seine Mutter als Mörderin verdammt sehen? Sollte ihre That das Maß seines Elends erst ganz erfüllen? Mit irrem Blick sah sie umher. Mußte sie wirklich weiter leben mit dem Bewußtsein ihrer ungesühnten Schuld? Mußte sie auch dieses Opfer, das schwerste noch, dem heißgeliebten Sohne bringen? —Mühsam erhob sie sich. Noch einmal schüttelte sie das Grauen, als sie niedersah auf die leblose Gestalt; aber sie wußte jetzt, es mußte sein, und sie wußte nun auch, was sie zu thun hatte. Sie nahm aus ihrer Tasche daS leere Fläschchen, entkorkte es und legte es auf den Teppich vor dem Bette. Dann kehrte sie in das Nebenzimmer zurück und weckte das Mädchen. Mit einem Schrei fuhr dieses auf, als es, zu sich kommend, in das todtenbleiche, verstörte Antlitz der Herrin blickte. „Still, Minna, es ist ein Unglück geschehen. Wecken Sie rasch Albert, daß er Gcheimrath Rothert holt, und dann kommen Sie wieder zurück." Sie selbst ging zu Ludwig hinunter, um ihn zu rufen. Er hatte sich angekleidet auf sein Bett geworfen und war, so wie er sie hörte, an ihrer Seite. „Hans?" fragte er athemlos und taumelte zurück, da er bei ihrem Anblick Furchtbares ahnte. „Nein, — Lilli —" hauchte sie mit klangloser Stimme, „todt!" Er faßte sich mit der Hand an die Stirn, um sich zu ver gewissern, daß <r nicht träume, und folgte ihr mechanisch in halber Betäubung. Dee» Mädchen stand schon zitternd an der Thür und trat mil ihnen ein.-
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