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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 05.10.1900
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1900-10-05
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19001005012
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1900100501
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1900100501
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1900
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Die Morgen-Au-gabe erscheint um '/,? Uhr, die Abend-Ansgabe Wochentags um 5 Uhr. Redaktion und Expedition: Johannisgasse 8. Die Expedition ist Wochentag- ununterbrochen gevjinet von früh 8 bis Abends 7 Uhr. Filialen: Alfred Hahn vonn. O. Klemm'» T^rttm. UnwerfltüiSslraße 3 (Paulinum), Lout« Lösche, Katbarineastc. 14. »art. und König-Platz 7. BezrrgS-PreiS t» der tzauptrxpedition oder den im Stadl» bezirk und den Vororten errichteten Au-' oabesiellen abgeholt: vierteljährlich./l4.öO, bei zweimaliger täglicher Zustellung ins HauS ö.50. Durch die Post bezogen für Lrutschland und kesterreich: vierteljährlich 6.—. Direkte tii»'.!chr Kreuzbandiendung in- Ausland: monatlich 7.60. Morgen-Ansgave. N MM.Tag Matt Anzeiger. Ämtsvlatt des königlichen Land- und Amtsgerichtes Leipzig, des Mathes und Molizei-Ämtes der Ltadt Leipzig. Auzeigen.Pr^iS die e gespaltene Petitzeile 20 Pfg. Reclameu unter dem RedacttonSstrich (-ge spalten) vor den Familieunachrichte» (6 gespalten) 40 »j. 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Der Berathung waren heftige Angriffe der Ccntrumspresse auf die Cultusverwaltungcn in Preußen, Sachsen und Bayern voraus gegangen und von den führenden preußischen Centrumsorganen war an die Bischofsconfercnz das Ansinnen gerichtet worden, gegen den preußischen Cultusminister und seine für den Reli gionsunterricht in den Posener Schulen erlassene Sprachenver ordnung Stellung zu nehmen. Statt dessen liegt jetzt als Er gebnis; der Bischofsconferenz ein schon kurz erwähntes längeres Hirtenschreiben vor, das sich an den Klerus und die gesammten Diözesanen richtet und sie ermahnt, „alle Kräfte aufzubieten, um die socialen Bewegungen unserer Zeit in Bahnen zu leiten, welche zur dauernden Sicherung der Wohlfahrt der arbeitenden Classen, zum Frieden in der bürgerlichen Gesellschaft und zur gedeihlichen Förderung der irdischen wie ewigen Inter essen Aller führen." Zu diesem Zwecke wird an den Klerus die Aufforderung ge richtet, sich der katholischen Arbeitervereine in er höhtem Maße anzunehmen, diese auf ihrer religiösen Grundlage zu erhalten und darauf h'inzuweiscn, daß das p o s i t i v e l i r ch- liche Betenntniß hochgehalten werde und „selbst bei den Bestrebungen, welche die Beförderung der materiellen Standes- interesscn, die Besserung der Lohn- und Arbeitsverhältnisse und dergleichen bezwecken, die Religion als die Grundlage der Wohl fahrt der einzelnen Menschen eine eifrige Pflege erfahre." Im Einzelnen wird den geistlichen Vercinsleitern anempfohlen, für den geistigen Fortschritt der Vercinsangehörigen durch Vorträge aller Art zu sorgen und aus dem Laienstande als Helfer nament lich die katholischen Lehrer der Elementar- und höheren Schul anstalten, katholische Juristen und Aerzte heranzuziehen, die über Gegenstände Borträge halten sollen, die den geistigen und den materiellen Interessen der Arbeiter dienlich sind. Damit geht dann der Hirtenbrief der Bischöfe zu dem Puncte über, der den Anstoß zu diesen Ermahnungen gegeben hat, nämlich: „In der Entwickelung der katholischen Arbeitervereine hat sich, wie überall in der arbeitenden Clasfe, das Bedürfnis, zur Bildung von Fachabtheilungen geltend gemacht. In ihnen schließen sich die Arbeiter desselben Berufs zusammen, um ihre besonderen Interessen zu schützen und zn verfolgen. Sie wollen durch geeignete Veranstaltungen die Fachbildung fördern unv die ihnen gemein samen sachberuflichen Angelegenheiten berathen. Sic stellen daher innerhalb Les Vereins eine gewerkschaftliche Genossen schaft dar, unter deren besonderen Bestrebungen indetz die ge meinsamen Vereinsintercssen nicht leiden müssen, und die deshalb ihre Zugehörigkeit zu dem Vereine durchaus nicht aufzugebcn brauchen. Wir billigen diesen Zug der heutigen Arbeiter bewegung vollständig und halten diese Bestrebungen für ganz ge rechtfertigt und den Interessen des Arbeiterstanbes entsprechend. Mögen diese Genossenschaften überall sich bilden, wo die Verhältnisse cs als zweckmätzig erscheinen lassen, und mögen sic von Euch, ehr würdige Mitbrüdcr, eifrig unterstützt werden. . . . Tiefe Fach- abtheilungcn in den Arbeitervereinen werden in ihrer allgemeinen Verbreitung zugleich den Beweis liefern, daß cs keiner religiös-neutralen Neuschöpfung bedarf, um die materiellen Interessen der Arbeiterschaft zu fördern und zu vcr- thcidigcn, sondern dass die katholischen Arbeitervereine befähigt nnd stark genug sind, neben der geistigen Wohlfahrt die Interessen ihrer Standesmilglieder zu vertreten.» Damit ist der Hauptzweck des Hirtenbriefes mit hinreichender Deutlichkeit umschrieben. Die Bischöfe halten es für angezeigt, unmittelbar ihre Autorität für die Förderung der katholischen Arbeitervereine und Gewcrkschaftsvertretungen ein- zusctzen und zwar, wie an anderer Stelle ausgefiihrt wird, weil cs ihnen geschienen hat, als ob hier und da der erste Eifer und das Interesse für diese Arbeit im eigenen Lager nachgelassen hätte, dann aber, weil sich „Erscheinungen bemerklich gemacht haben, die ihnen Besorgnis; cinflößen." Man irrt wohl schwer lich in der Annahme, wenn mit diesen Erscheinungen die im verflossenen Sommer wenige Wochen vor der Bischofsconferenz im svcialdcmolratischen Lager geführten Auseinandersetzungen gemeint, deren Ergebnis; schließlich war, daß, um möglichst viele Arbeiter zu den socialdemolratischen Gewerkschaften herüberzu führen, selbst socialdemokratische Führer, wie der Abg. Bebel, sich für vollkommene NeutralitätderGewerkschaften in religiöser und politischer Beziehung aus sprachen. Daß diese Wendung gegen die christlichen Gewerk schaften und insbesondere die katholischen Organisationen ge richtet war, ist von der socialdemokratischen Hamburger „General commission der Gewerkschaften Deutschlands" ziemlich unver blümt ausgesprochen worden. In dem Berichte über die Gewerk- schaftsorganisationcn im Jahre 1899, der genau um dieselbe Zeit, als in Fulda die Bischöfe saßen, veröffentlicht wurde, ist unzweideutig gesagt daß, sobald die christlichen Gewerkschaften ernstlich an die Losung der gewerkschaftlichen Arbeiten heran treten würden, ein Anschluß an die „neutralen", in Wirklichkeit als Vorschule der Socialdemokratie geführten Gewerkschaften, oder wenigstens ein gemeinsames Zusammengehen mit diesen nur noch eine Frage der Zeit wäre. Die socialdemolratischen Gewerkschaftsorganisationen waren an Mitgliederzahl im Jahre 1899 fünfmal so stark wie die christlichen Gewerkschaften. Die christlichen Gewerkschaften sind seither schnell gewachsen. Schon auf dem am 3. Juni dieses JahreS abgehaltenen Congresse der christlichen Gewerkschaften konnte constatirt werden, daß die Zahl ihrer Mitglieder gegen das Jahr 1899 um 40 000 auf 152 000 zugenommen hatte. Es ist daher begreiflich, wenn die Organe der katholischen Kirche jetzt jhren ganzen Einfluß cinsetzen, um den von der Social demokratie geplanten Beutezug in die Bestände der katholischen Arbeiterorganisationen zu verhindern. Nur fragt es sich, ob die von den Bischöfen an die katholischen Vereine gegebene An weisung, das kirchliche Bekenntniß in den Vordergrund zu rücken, sich nicht als zweischneidig und zweckwidrig erweisen werden. Genau so feindselig wie den christlichen Organisationen steht die Socialdcmokratie den Hirsch-Dunckcr'schen Gewcrkvcreincn gegen über, in denen nahezu 90 000 Arbeiter sich vereinigt haben und die religiös neutral sind. Ihnen setzen sich also die katholischen Or ganisationen um so schärfer entgegen, je mehr sie das kirchliche Be- kenntniß betonen. Noch schärfer natürlich den evangelischen Arbeitervereinigungen. Es ist anzuerkennen, daß das bischöfliche Rundschreiben sich nicht ausdrücklich gegen diese richtet. Aber die Bischöfe könnten wissen, daß es unter den geistlichen Vereins leitern nicht wenige giebt, in deren Händen die Ausführung der ertheilten Anweisungen gleichbedeutend sein wird mit der Organi sation ultramontaner Kampfvereine, bei denen die Förderung der Arbeiterinteressen Nebensache, die Förderung der Interessen der geistlichen Führer die Hauptsache ist. Wie soll es aber mög lich sein, den socialdemolratischen Gewerkschaftsorganisationen Abbruch zu thun, wenn die katholischen Organisationen die neu tralen und die evangelischen bekämpfen? Der frühere Centrumsführer Windthorst, dessen Katholicismus doch wahrlich über jedem Verdachte erhaben war, verkannte die Folgen eines zu scharfen Betonens des confessionellen Charakters der katholischen Arbeiterorganisationen nicht. Als Vorsitzender des ia- tbolischen Gesellenvereins in Osnabrück legte er besonderes Gewicht darauf, daß aus diesem Vereine Alles ferngehalten wurde, was evangelische Arbeiter abstohen könnte. Seitdem haben sich die confessionellen Verhältnisse allerdings verschärft, aber es ließe sich durch Zahlen Nachweisen, daß gerade da, wo die verschiedenen antisocialistischen Arbeiterorganisationen einander feindselig oder doch wenigstens schroff gegenüberstehen, das Wachsthum der socialistischen Organisationen am stärksten ge wesen ist. Es fällt uns nicht ein, den religiös neutralen Ge werkschaften vor den confessionellen das Wort zu reden. Gerade die letzteren können die wirksamsten Gegner der socialdemokrati schen sein. Aber sie werden es nur dann sein, wenn sie mehr das betonen, was sie eint, als das, was sie trennt. Oie Wirren in China. —p. Anscheinend, aber eben nur anscheinend ist die „Strafaclion des Kaisers Kwangsü" einen Schritt weiter gekommen. Wir erhalten folgende Meldung: * Bcrttn, 4. Oktober. rTelearam»«.) Ter Kaiser vou 8hin« lieb (wie Wolffs Telenr.-Bnrcan mittheilt) Vc« Mächten eiu vom Sä. September Satirtes Evi et unterbreiten, in dem er die Bestrafung einer Anzahl mit Namen ansgeführtcr Prinzen undGrobivnrdcn- trägcr wegen Begünstigung der Boxer angeorvnet hat. In Ver BorauSsetzuiia Vcr Echtheit dieses Ediktes hat die deutsche Regierung zur Durch führung des in ihrer Eireularnote vom 17. Sep tember angeregten Verfahrens den Mächten weiter vorgcschlagcn, sich nunmehr dahin z» einigen, ihre diplo matische» Vertreter in Ehina zur Prüfung und Begut achtung folgender drei Puncte auznweiicn: erstens, ob die im Edict enthaltene Liste der strafbaren Personen genügend und richtig ist; zweitens, ob Sie in Aus sicht gestellten Strafe» angemessen find; drittens, in welcher Weise die Ausführung der Bestrafung von Sen Mächten zu coutroliren ist. Die bisher vorliegen den Nachrichten über die Aufnahme dieses Vorschlages durch Sic Mächte berechtigen zn der Annahme, das; sich ein allseitiges Einvernehmen darüber ergeben dürfte. DaS wird auch durch folgende, unS telegraphisch auS Washington zugebende „Neuter"-Meldung bestätigt: „Man hat guten Grund, anzunehmen, daß eine baldige An na berung der Mächte bezüglich der chinesischen Ange legenheiten erfolgt. Diese ermuthigenden Aussichten nehmen durch die Uebereinstimmung in den Ansichten Amerikas und Deutschland« zu. Der Staatssekretär Hay hatte eine Conferenz mit dem deutschen Geschäfts träger, aus der hervorging, daß beide Negierungen dasselbe Ziel verfolgen. In den hiesigen deutschen Kreisen sieht man daS kaiserliche Edict bezüglich der Bestrafung deS Prinzen Tu an und seiner Mithelfer als den Ausdruck des Wunsches an, die Leiter Chinas als die verantwortlichen Ur heber der Unruhen zu behandeln, wie sie es verdienen." Viel ist das allseitige Einverständniß allerdings noch nicht wertb, so lange man noch nicht weiß, ob die Ansprüche der Mächte auch in Bezug auf die Art der Bestrafung und die Bezeichnung der Schuldigen übereinstimmen. Wolff'S Bureau meldet weiter auS Shanghai, eS seien dort mehrere kaiserliche Edicte angelangt, durch die die Absetzung com- promittirter Würdenträger und die Ernennung von Gegnern der Boxerbewegung verfügt wird. Mit der Absetzung eines Prinzen Tuan nebst Consorten ist nichts gethan, aber es ist nicht unwahrscheinlich, daß die Vereinigten Staaten, Rußland und Frankreich und jetzt vielleicht auch England sich damit begnügen werden. Da Deutschland seine Ansprüche unmöglich soweit zurückschrauben kann, ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß eS schließlich wieder allein dasteht. Weitere Meldungen. * London, 4. October. Den „Times" wird auS Peking vom 26. v. M. berichtet: Wenn die Unterhandlungen in Tientsin ge pflogen würden, könne Li-Hung-Tfchang, da er Vicekönig der Provinz fei und in Tientsin residire, nicht Bevoll mächtigter sür dieselben sein, wenn die Gesandten nicht vor ihm als um Frieden bittende und nicht als denselben dictirende erscheinen wollten (?), denn so wäre da» Vorgehen der Gesandten im ganze» Reiche ausgclegt worden. (Wiederholt und ergänzt.) * Berlin, 4. Octoäer. (Telegramm.) „Wolff'S Trlegr.« Bureau" berichtet auS Washington: Hier ist ein an die Mächte in der chinesijchen Frage gerichteter Vorschlag Frankreichs nicht eingegangen. * Berlin, 4. October. (Telegramm.) „Wolff'S Telegr.» Bureau" berichtet aus Tientsin unter dem 1. Lctobcr: Ter russische Gesandte v. Giers ist heute hier auS Peking eingrtroffen. * Pest, 4. Oktober. (Telegramm.) Da» Amt-blatt ver- öfseutlicht eine Verordnung de» Ministers deS Innern, wonach die Ausfuhr und Durchfuhr von Waffe» und Kriegsmaterial auS Ungarn nach China verboten wird. Ueber die Ausreise der Truppen-Transportdampfer nach China liegen folgende letzte Meldungen vor: „Wittekind" (N. D. Lloyd) 23. Sept, von Tsingtau. „Dresden" (N. D. Llvyv) 1. Oct. i» Taku. „Gera" (N. D. Lloyd) 1. - in Amaya. „Palatia" (Hamb. A. L.) 30. Sept, in Singapore. „Andalusia" (Hamb. A. L.) 2. Oct. in Singapore. „Hannover" (N. D. Lloyd) 29. Sept, in Colombo. „Arcadia" (Hamb. A. L.) 2. Oct. in Colombo. „Crefeld" (N. D. Lloyd) 2. - in Colombo. „Roland" (N. D. Lloyd) 2. - in Colombo. „Valdivia" (Hamb. A. L.) 3. - Colombo passirt. Ein chinesischer Diplomat über die Lage. Der chinesische Gesandte in Washington, Excellenz Wu-Ting-Fang, veröffentlicht in der soeben erscheinenden Nummer des „Century Magazine" einen interes santen Aufsatz über die chinesische Krisis, wie er sie auffaßt. Der Artikel heißt: „Eine dringende Bitte um gerechte Behand lung" und ist datirt Washington, den 17. August 1900. Wu- Ting-Fang giebt zunächst seine Darstellung über den Ursprung und die Geschichte der mysteriösen Secte der Boxer, deren Existenz, wie er versichert, bis vor ganz Kurzem den hohen Be hörden in Peking vollständig unbekannt war (?). Er sagt: Während des letzten Jahres wurden verschiedene Districte der Provinz Schantung von versprengten Räuberbanden heim besucht. Sie kamen des Nachts aus ihren Berstecken hervor, überfielen plötzlich die friedlichen Dörfer und machten so viel Beute wie möglich, bis schließlich die Einwohner dieser Districte sich gezwungen sahen, sich ebenfalls zu gemeinsamer Vertheidi- gung zu organisiren. Um nun im Stande zu sein, den Banditen erfolgreich zu begegnen, übten sie sich im Boxen, Fechten und anderen Leibesübungen. So weit waren die Zwecke dieser Or ganisationen durchaus legitim. Aber unglückseliger Weise kamen schwere Zeiten, der Himmel hielt den arg benöthigten Regen zurück, die Felder trockneten aus und die Ernten versagten. Die ländlichen Gemeinden sahen sich der Hungersnoth gegenüber, und nunmehr wurden die Leute, die sich vorher gegen die Räuber be waffnet hatten, selbst Marodeure. So entstand die Gesellschaft J-ho-chuen, wörtlich „gerechte und einträchtige Fäuste", oder wie sie genannt werden, die „Boxer". Als man vor wenigen Monaten das erste Mal von ihnen hörte, waren sie schon stark genug, um den localen Behörden Widerstand zu leisten. Bon Schantung aus dehnten sie dann ihre Operationen bis in die benachbarte Pro vinz Chili aus und erreichten in kurzer Zeit die Hauptstadt Peking. Ueberall ließen sie Zerstörung und Elend hinter sich, sie zerschnitten die Telegraphendrähte, zerstörten die Eisenbahnen, brannten die Kirchen nieder und massacrirten die christlichen Convertiten." Diese Darstellung ist ja nun allerdings sehr einseitig, und was Excellenz Wu-Ting-Fang unter „der letzten Zeit", oder „wenigen Monaten" versteht, hätte er besser etwas präciser aus gedrückt. Wenn man in Peking erst „vor wenigen Monaten" überhaupt von den Boxern hörte, so wußte man in Europa be reits im vorigen Jahre ziemlich Ausführliches über sie, und gelegentlich des letzten Pekinger Staats streiches erfuhren wir bereits Ende Januar dieses Jahres von dem Berichterstatter der „Kabel-Correspondenz" in Tientsin, daß Tuan, der Vater des damals zum Thronerben ernannten Knaben, das Haupt der „Boxer" sei. Ueber die Secte selbst schrieb die „Kabel-Correspondenz" damals: „Diese Secte besteht keineswegs ausschließlich aus den rohen Elementen der unteren Volksschichten. Sie rekrutirt sich vielmehr auch aus den jungen Leuten der besten Familien, nicht nur der Mandschus, sondern auch der Nordchinesen selbst, und besonders auch aus Studenten kreisen. Ihre eigentlichen Führer gehören zu den einflußreichsten Leuten des Landes. Sie stehen ihrerseits mit den geheimen Ge sellschaften Süd- und Mittelchinas in Verbindung und haben diese stets gegen die englandfreundlichen Vicekönige von Kanton und Nanking u. s. w. aufgereizt. Diese Gesellschaft stellt etwa eine Art Patriotenliga in chinesischer Uebertragung dar. Sie führt als Motto die Worte: „Für die Dynastie wider die Fremden", und nennt sich officiell „die kaiserliche ge rechte Harmonie der Fauftkämpfer". Noch im Herbste vorigen Jahres versuchte die Regierung ihren Einfluß zu brechen, als sie in den Districten von En Hsien und Ping Mang (Chantung) die bekannten Unruhen und Christenverfolgungen organisirte, welche ihren Abschluß in dem Gefechte vom 18. October fanden, in welchem 60 „Fauftkämpfer" todt blieben und über hundert der selben verwundet wurden. Daß sie in diesen drei Monaten so erfolgreich operiren konnten, um sich jetzt (Januar) der Regierung bemächtigt zu haben, beweist die Größe ihres Einflusses." Wenn also bereits zu Zeiten des letzten Staatsstreiches die intimen Beziehungen eines Mannes wie Tuan zu den Boxern den in Tientsin ansässigen Europäern, oder einigen derselben, kein Ge- heimniß mehr waren, so muß Excellenz Wu-Ting-Fang im glücklichen Besitze einer außerordentlich naiven Arglosigkeit sein, wenn er gar nicht gemerkt hat, was vorgeht, und daß man in Peking bis zu den allerhöchsten Stellen intime Beziehung zu den Boxern unterhielt, und zwar nicht nur „seit wenigen Monaten", sondern seit sicher einem Jahre. Weiter verbreitet der Gesandte sich in seinem Artikel voll sitt licher Entrüstung über die Schwindelbcrichte, betreffend die Pekinger Massacres. Nun ist ja richtig, daß das edle Konsor tium englischer Tintenculis, das sich alltäglich in einer Kneipe in Shanghai versammelte und bei Spiel und Musik die schauder haftesten Lügen und Phantasien zusammenbraute, die Chinesen Pekings gefährlicher darstellte, als sic in Wirklichkeit waren, aber, daß die Gesandten nicht alle abgeschlachtet wurden, ist doch keines wegs ein Beweis, daß die Versicherungen, die Wu-Ting-Fang und seine geschätzten Collegen in London und Berlin über das Wohlbefinden der Europäer abgaben, zuverlässig waren. Es steht ihm also nur grottesk an, wenn er jetzt im Tone der gekränkten Unschuld plaidirt. Er sagt: „Man scheint in Europa und Amerika durchwegs anzunehmen, daß alle Chinesen, wie hoch oder wie niedrig ihre Stellung sei, überhaupt nicht im Stande sind, die Wahrheit zu sprechen. Ich will ja nicht leugnen, daß man zuweilen in China Individuen trifft, die es mit der Wahrheit nicht allzu genau nehmen, aber dieser sittliche Defect ist doch kein Monopol irgend eines Landes oder irgend einer Rasse. Schon der Verfasser der Psalmen in der christlichen Bibel ging in seiner Eile so weit, zu sagen: „Alle Menschen sind Lügner". Ich denke, diese Ansicht geht etwas zu weit. . . Der Minister verweilt längere Zeit bei der Schilderung der Biederkeit seiner Landsleute, aber was er sagt, kann weder interessiren noch überzeugen. Daß er sich im Anschluß daran, offenbar gestärkt und ermuthigt durch das schöne und erquickende Idyll des harmlosen und guten Chinesen, das er soeben gezeichnet hat, einige Bemerkungen über die Glaubwürdigkeit solcher Europäer macht, die von Grausam keiten, welche Chinesen an Missionaren u. s. w. verübt haben sollen, erzählen, ist auch belanglos. Interessanter wird Wu-Ting-Fang schon, wenn er auf die Lage in China direct zu sprechen kommt. Er beklagt sich ver ständiger Weise darüber, daß die meisten hohen Beamten in Peking nicht die geringste Ahnung von Sprache, Sitten und Ge wohnheiten der westlichen Nationen haben, und meint, daß ein gegenseitiges Verstehen und Kennenlernen von großem Nutzen sein werde. „China", sagt er, „befindet sich augenblicklich in einer wichtigen Krisis. Unruhige Zeiten stärken oft wilde Leiden schaften. China will jetzt nur von den anderen Nationen gerecht und fair behandelt werden. Die grundlosen Berichte über die letzten Ereignisse in verschiedenen Theilen Chinas, die in den Zeitungen erschienen sind, haben unberechenbaren Schaden an« gerichtet, und haben die Situation, die schon ernst war, noch schwieriger gestaltet. In diesen Tagen des sensationellen Jour nalismus sollte man ganz besonders vorsichtig bei der Prüfung von Berichten und bei der Bildung von Urtheilen sein. Ein Sprichwort sagt: „Was für den einen Mann Nahrung ist, ist für den anderen Gift". Das ist für Nationen ebenso wahr, wie für Individuen. Die Bedingungen und Verhältnisse des Lebens im Osten sind so verschieden von denen des Westens, daß dieselbe Sache in beiden oft weit verschiedene Wirkungen hervorbringt. Gieße Wasser auf ein brennendes Gebäude, und eS wird das Feuer auslöschen, gieße Wasser in ein Faß voll Schwefelsäure, und es wird so viel Hitze verursachen, daß eine Explosion eintritt. Die Schwierigkeiten, die jetzt in China entstehen, können nur von einem östlichen Standpuncte aus in ihren wahren Proportionen und in ihrer wahren Bedeutung erkannt werden." Wu-Ting-Fang's bilderreicher Artikel wird weder die chine sische Frage lösen, noch denen, die hierzu berufen sind, brauchbare Winke geben. Er steht eben auf dem Standpunct, daß China durchaus im Rechte ist, daß die Boxer Aufrührer sind und daß die ganze Action der Mächte mindestens überflüssig war. Diese Auffassung kann man ihm schließlich nicht verübeln, aber wenn seine Ideen sich mit denen decken, welche die chinesische Regierung den kommenden Friedensverhandlungen entgegenbringt, und die sie dann sicher mit dem Aufgebot aller zähen chinesischen Dplo- matenkunst durchsetzen will, so kann die Sache ja noch recht lange dauern. Die Einnahme von Aangtsnn. Anschließend an unseren Bericht im gestrigen Abend blatte über die Erstürmung PeitsangS auf dem Wege nach Peking scbreibt der Correspondent der „Times": Am Morgen des 6. August sollte die Hauptstreitkraft der Japaner an dem rechten Flnßufer entlang vorgehen und dabei die etwa am Tamm gemachten Durchbrüche wieder auSbessern. Zwei Bataillone und eine Feldbatterie wurden abgesandt, um unter General Gasclee am linken Ufer in Thätigkeit zu treten, an dem die britischen und amerikanischen Truppen denVormarsch gegen Aangtsun antreten sollten.Den Russen und Franzosen war Weisung ertheilt worden, am linken Ufer vorzugehen. Man brach früh auf. Die Russen und die Fran zosen waren anfangs den Briten auf der Landstraße vor aus, allein da sie sich dann am Lauf des Flusses hielten, überholte General Gaselee sie auf geradem Wege und traf mit den Amerikanern zusammen, worauf er um 9,30 Uhr Fühlung mit dem Feinde gewann. Letzterer hatte eine Stellung von einer gewissen Stärke in einer Reihe von Dörfer» ein genommen, die in einem Winkel lagen, den der nordwestlich laufende Eiscnbahndamm und der südöstlich laufende Fluß bilden. An dem Kopf der Eisenbahnbrücke befinden sich die Ruinen der Aangtsuner Station. Dort war der Mittel- punct der chinesischen Stellung. Ihr rechter Flügel stützte sich auf ein Dorf nabe beim Flusse. Der linke reichte in unbekannter Entfernung nach Osten hin. Torr verdeckte eine Reihe von Dörfern die Aussicht auf die Stadt Mngtjun. General Gaselee nahm seine Aufstellung aus einem hohen Sandhügel, etwa 3 km von der Eisenbahnstation. Es war ein ausgezeichneter Beobachtungs posten sür die Leitung der Operationen. Eine Sotnie Kosaken erhielt das erste feindliche Feuer. Sie war zur Er kundung ausgesandt worden, aber zu weit vorgeritten und konnte sich nur mit einiger Schwierigkeit zurückzieben. Es war gegen 10 Uhr. Der Nest der russischen Truppen war noch nicht angekommcn, auch war eine japanische Abthcilung, die mit den Briten und Amerikanern zusammengeben sollte, noch auSgeblieben. Die Generäle Gaselee unv Cbaffce be schlossen 'den sofortigen Angriff auf die Hauptstcllunz des Feindes. Die 12. Feldbatterie wurde auf dem linken Flügel vorgefahren und begann die Dörfer vor der Eisen bahnstation zu beschießen. Unter Deckung dieses Artillerie- fcuerS entwickelte sich der Angriff der Infanterie, wobei die Briten in einer sehr breiten Linie durch die hohen MaiS- feldcr vorgingen und die Amerikaner ihnen in mehr ge schlossenen Formationen auf der Rechten, links vom Eisenbabn- damnie, folgten. Rechts von letzterem rückte daS 9. amerikanische Regiment unter Deckung einer Batterie vor unv die benga lischen Lanzenreiter wurden ihm auf seinem rechten Flügel bei gegeben. Um diese Zeit traf General Lenewitsck auf dem Sand hügel ein, wo General Gasclee Ausstellung genommen hatte, und meldete, daß seine Truppen gegen den rechten feindlichen Flügel längs deS „Bund" vergingen, der mit dem Flusse gleichläuft. Auch der Commandeur der vorerwähnten japa nischen Abtbeilung meldete seine Ankunft. Nun wurde allge mein vorgerückt, die Russen auf dem linken, die Amerikaner auf dem rechten Flügel, die Briten im Centrum. Letztere führten den directen Angriff auf die Verschanzungen des Feindes an. DaS I. SikhSregiment, das im Vorder treffen war, ging unter heftigem Feuer muthig voran, und wie gewöhnlich warteten die Chinesen den Bajonett angriff nickt ab. Ebe die Sikb« an sie herankamen, zogen sie sich hastig zurück und flöhe» über den Eisen bahndamm, von idem aus sie jedoch noch eine Weile auf das 14. amerikaniscke Regiment schießen konnten, daS daneben vorrückke. Die Sikhs kamen gegen 11 Uhr in die ersten
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