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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 11.09.1901
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1901-09-11
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19010911013
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1901091101
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1901091101
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1901
- Monat1901-09
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Der Versuch, die Boeren durch Drohungen zur Kapitulation zu zwingen, ist schon jetzt als völlig gescheitert anzusehen, und so wird man sich auf ein« noch brutalere Handhabung der englischen KriegLführung in Südafrika gefaßt zu machen haben. Um nun Vorwürfe, besonders bon deutscher Seite, von vornherein zu be- seittgen, bemühen sich die „Times", darzulegen, daß Deutschland den Krieg von 1870/71 viel rücksichtsloser geführt hab«, als Eng. land eS in Südafrika thue. In einem der Artikel der „Time-" werden Ankündigungen deutscher Befehlshaber citirt, nach denen Franzosen, die, ohne Soldat zu sein, gegen die deutschen Truppen kämpften, zum Tode derurtheilt werden sollten. ES wird specicll angeführt, daß ein Caplan, der Waffen verborgen und an die Einwohner eines Dorfes, die dann mit diesen Waffen auf die Deutschen schossen, vertheilt habe, standrechtlich erschossen worden sei. Der ander« Artikel sucht einen noch stärkeren Trumpf auSzuspielen, indem er sich auf den F ü r st e n B i S m ar ck beruft. Dieser habe wieder- holt mit allem Nachdrucke verlangt, daß alle FranctireurS, die Verrath an den deutschen Truppen übten, d. h. sie aus dem Hinterhalte belauerten und überfielen, rücksichtslos zum Tode zu verurtheilen seien. Die Berufung auf BiSmarck ist unS durchaus willkommen, denn der große Kanzler hat in einer Verhandlung mit Jules Favre seinen Standpunkt klar dargelegt und gerechtfertigt. Der französisch« Staatsmann beklagt« sich darüber, daß gegen die Franktireurs mit aller Härte vorgegangcn würde, obgleich doch Äes« Leute gute Patrioten wären und nichts Anderes thäten, als die deutschen Bauern, die zur Zeit der napoleonischen Kriege kleine französische Abteilungen aus dem Hinterhalt« überfallen hätten. Schlagfertig wie immer erwiderte Bismarck darauf: „Ja, aber unsere Bäum« tragen noch di« Spuren von den Stricken, an denen dies« Bauern, wenn sie erwischt wurden, von den Franzosen aufgeknüpft wurden." Der Vergleich der „Times" zwischen Boeren und FranctireurS ist absolut hinfällig. Als die reguläre französische Armee in de« ersten Monaten deS großen Krieges fast vollständig, theilS in den Schlachten, theils bei der Eroberung von Festungen in Ge fangenschaft gerathen war, bildete sich bekanntlich eine ungeheure Volksarmee, mit der die deutschen Truppen noch monatelang die schwersten Kämpfe zu bestehen hatten. Die Mannschaften dieses DolkShecreS wurStn, wenn sie gefangen genommen waren. g«nau so anständig behandelt, wie vorher diejenigen der kaiserlichen Armee. Es war somit jedem Franzosen die Gelegenheit gegeben, ohne die Gefahr standrechtlicher Erschießung seinen Patriotismus zu bethätigen. Darum war es nur gerecht, daß Diejenigen, die sich nicht dem Volksheer« anschlossen, sondern es vorzogen, deutsche Soldaten aus dem Hinterhalte abzuknallcn, wie man auf dem Anstand einen Rehbock abschießt, nicht als Soldaten, sondern als gemeine Meuchelmörder behandelt wurden. Die kämpfenden Boeren aber sind keine FranctireurS, sondern schließen sich ihrem Volksheer« an. Ob dieses aus Brigaden und Regimentern, wie seiner Zeit in Frankreich, oder aus kleinen Reitercommandos, wie es in Südafrika der Fall ist, besteht, ist sachlich gleichgiltig. Dies zur Behandlung, die den Kämpfenden zu Theil wird. Nun zur Behandlung der Frauen, der Kinder und des Eigenthums. Niemals ist es deutschen Truppen eingefallen, Frauen und Kindern die Leiden des Krieges fühlen zu lassen. Ganz anders die Engländer, die Frauen und Kinder gewaltsam in die ConcentrationSlager schleppen und sie dort an allem Mög lichen Mangel leiden lassen, so daß die Sterblichkeit eine gewaltige ist. Schon am 15. Mai schrieb der Berichterstatter der „Welt- Correspondenz" in Pretoria: „Die Sterblichkeit, besonders unter den Kindern, war in diesen Lagern schon immer sehr groß, und wie eS nun bei Besinn des Winters werden soll, ist nicht abzusehen." Nun, die schlimmsten Erwartungen sind übertroffen worden, denn letzthin wurde gemeldet, und zwar von englischer Seite, daß an lOOoKinder in den Concen trationslagern gestorben seien. Was dann drc Behandlung des Eigenthums betrifft, so wurde von deutscher Seite Eigenthum nur in zwei Fällen zerstört: einmal, wenn FranctireurS aus Häusern heraus auf deutsche Soldaten schossen —dann wurde das betreffende Dorf in Brand gesteckt —, und zweitens, wenn es in dem bekanntlich fürchterlich strengen Winter völlig an Brennmaterial fehlte und die Mann schaften dem Erfrieren nahe waren — dann wurden Möbel zer schlagen, um mit dem solchermaßen gewonnenen Holze zu Heizen. In beiden Fällen kann man wohl sagen, daß es sich um eine Nothlage handelte. Wie anders tue englischen Truppen! Charakteristisch hierfür ist die „Eroberung" von Nylstroom und Pietersburg im April dieses Jahres. In beiden Orten wurde keinerlei Gegenwehr versucht. Trotzdem wurde alles Transportable geraubt, alle Immobilien, wie die Häuser, wurden demolirt und alles, was dem Beile Widerstand leistete, wurde mit Dynamit gesprengt. DaS Charakteristische aber ist, daß, wie der Mitarbeiter der „Welt-Correspondenz" seinerzeit mittheilte, ein Officier auf die Bitte, der niederträch tigen Verwüstung Einhalt zu thun, erwiderte: „Wir haben gegen wärtig keine Controle über unsere Leute". Und freilich, wenn die Disciplin vollkommen aufgehört und der Officier alle Gewalt über die Leute verloren hat, dann kann man eS dem Soldaten, besonders wenn er nicht wie in der deutschen Armee Theil eines Volksheeres, sondern ein um etliche Schillinge angeworbener Söldling ist, kaum noch verdenken, wenn er die Bestie hervorkehrt. Wir begnügen uns mit diesen wenigen Stichproben. Wenn aber die „Times" es wünschen, können sie noch mehr zu hören bekommen, denn an Material fehlt es wahrhaftig nicht. Die englischen Blätter würden wirklich nur in ihrem eigenen Interesse handeln, wenn sie eS unterließen, den südafrikanischen Krieg mit dem deutschen zu vergleichen. ZUM Attentat auf Mac Kinley. Folgende Telegramme liegen vor: * Buffalo, 10. September. Ein beute früh 7 Uhr über das Befinden Mac Kinley's ausgegebenes Bulletin besagt: Der Präsident verbrachte die letzte Nacht so gut, wie noch keine, seitdem der Mordanschlag auf ihn verübt worden ist. Puls 1l8, Temperatur 100,4, Alhmung 28. * Buffalo, 9. September. Gestern verlangte der Präsident Mac Kinley Morgenblätter, man bat sie ibm jedoch nicht gegeben. Es ist schwer, den Präsidenten vom Sprechen abzuhalten; wie eS heißt, hat er wiederholt über verschiedene Pläne gesprochen, die er später zur Ausführung zu bringen gedenkt. * New York, 10. September. Ein Telegramm der „New Aork Tribüne" aus Silver City (Neu-Mexiko) berichtet, ein Anarchist NamcnS Antonio Maggio sei in Santa Nita verhaftet worden. Er habe vor dem Attentat erklärt, Mac Kinley werde vor dem 1. October ermordet werden; die Zabl der Anarchisten in den Bereinigten Staaten be trage 100 000. Der Krieg in Südafrika. * Loudon, 10. September. Or Krause erschien heute wieder vor dem Polizeigericht in Bvwstreet. Der Staats anwalt erhob gegen ibn die weitere Anklage auf An reizung zum Mord auf Grund eines neuen in Transvaal er lassenen Haftbefehls, von dem die Regierung am 3. September telegraphisch Kenntniß erhalten hat. Die Zeugenaus sagen, die die Anklagen auf Hochverrat!) und Anrelzung zum Morde unterstützen» werden Ende des MonalS er wartet. Der Staatsanwalt ersuchte um Verschiebung der Verhandlung, bis die Zeugenaussagen eingetroffen seien. Ter Richter George Lewis wieS auf die Auffälligkeit des Verfahrens hin, daS Haftbefehle in Transvaal erlassen werden für Verbrechen, die anscheinend in England begangen worden sind. Der Staatsanwalt versprach dem Vertheidiger Krauße'S, daß ihm genaue Mittbeilungen über die Art der gegen seinen Clienten erhobenen Anklagen zugeben sollen. Der Richter willigte schließlich ein, die Ver handlung bis auf Weiteres zu vertagen. Deutsches Reich /? Leipzig, 10. September. (DieCuIturfeindlich- keit der Socialdcmokratie.) Einen klassischen BewecS für die kulturfeindliche Rohheit d«r Socialdemokrasie liefert die „Sächs. Arbeiterztg." in einer Besprechung der Sedanfeier in Dresden. Wir heben folgende schöne Proben hervor: „Jedem gefällt eben seine Kappe, und wenn die Patrioten alljährlich sich einmal da? urgermanische Büffelfell mit den groß en Ochsenhörnern rechts und links über die Ohren stülpen wollen, damit man sie schon von Weitem erkennt, so kann es uns jedenfalls recht sein . . . Di« Schulmeister der höheren Rangen-Classen ziehen über ihr germanisches Büffelfell gern noch eine griechisch« Toga... So schloß also die Feier höchst stimmungs voll — wenigstens die officielle auf dem Altmarkt. Wovon die anderen Feiern „voll" waren, daS entzieht sich zwar unserer Kenntniß, läßt sich aber errathen andenver schiedenen menschlichen „Ueberresten", die die Straßenkehrer am anderen Morgen an den Häusern entlang fanden." Die erwachsenen Fest- theilnehmer werden also alsOchseN, die jüngeren alsRangen bezeichnet. Allen wird unfläthige Trunkenheit vor^eworfen. Wenn die socialdemokratischen Blätter ihre Fabeln über die „Hunnenthaten" brachten, oder wenn sie irgend eine Gerichts verhandlung über Ausschreitungen angeheiterter Studenten ver öffentlichen, so stehen sie nicht an, zu erklären, daß lediglich die Socialdemokratie der Culturtrager sei, während die bürger liche Gesellschaft in thierischer Rohheit verkomme. Wir meinen, daß man doch wohl nicht in roherer Weise von einer Feier, die der Socialdemokratie nur darum unsympathisch ist, weil sie die Em pfindungen der Vaterlandsliebe und der Königstreue zu steigern geeignet und bestimmt ist, sprechen kann, als es hier die „Sächs. Arbeiterztg." thut. Wer behauptet, im Dienste deS Culturfort- schrittS zu stehen, der müßte doch darauf bedacht sein, die Gesittung zu heben, denn eine Kultur ohne gesteigerte Gesittung ist ein Unding. Jeder wird sich aber wohl sagen müssen, daß die Leser der „Sächs. Arbeiterztg." bei der Lectüre einer derartigen Sonntags betrachtung in ihrer Gesittung nicht gefördert, sondern herab gezogen werden. Zum Schlüsse sei noch eins bemerkt: Als bei der Vierteljahrhundertsfeier des Sedantages der Kaiser von der „vaterlandslosen Rotte" sprach, di« die Festzeit der großen Erinnerungen mit Schmutz bewerft, wußte sich die social demokratische Presse vor Empörung über dies« Brandmarkung ihres Treibsns nicht zu lassen. Die „Sächs. Arbeiterztg." hat gerade wieder hinsichtlich des SedanfesteS den Beweis geliefert, wie zutreffend dies« scharf« Aeußerung d«S Kaiser» war. -1- Berlin, 10. September. (Der strafrechtliche Be griff der Unzurechnungsfähigkeit.) Die Behand lung, die die socialdemokratische Presse dem Attentate auf den Präsidenten Mac Kinley zu Theil werden läßt, läßt es geboten erscheinen, auf den Begriff der Un zurechnungsfähigkeit im strafrechtlichen Sinne «inzugehen. Der „Vorwärts" und di« „Sächs. Arbeiterztg." bemühen sich nämlich, ohne Weiteres den Attentäter als irrsinnig und unzurechnungs fähig hinzustellen. Der „Vorwärts" motivirt dies« Auffassung damit, daß nur ein völlig Unzurechnungsfähiger dem Wahne verfallen könne, der Tod deS Präsidenten Mac Kinley werd- irgend welche Wendungen in der politischen und der socialen Ent wickelung des amerikanischen Staatswesens herbeiführen. Und die „Sächs. Arbeiterztg." meint, selbst dem fanatischsten Anar chisten könne eigentlich nicht verborgen bleiben, daß ein Attentat auf den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Nordamerika selbst vom anarchistischen Standpunkte auS geradezu Wahn- w i tz sei. Es erscheine als Wahnsinn, durch die Vernichtung einer einzigen Person, die nichts weiter als daS Werkzeug der herr schenden Classe sei, die Gesellschaft umgcstalten zu wollen. Di« Socialdemokratie möchte also die anarchistisch« Frevelthat auf in tellektuellen und moralischen Wahnsinn zuriickführen. Genau das selbe aber, was hier als Beweis für den Wahnsinn deS Atten täter? Czolgosz angeführt wird, konnte auch im Falle BreSci und Luccheni angeführt werden. Denn ebenso wenig wie durch die Ermordung Mac Kinley's eine Veränderung der socialen Zu stände in den Vereinigten Staaten herbeigeführt werden könnte, war oieS durch die Ermordung des König- Humbert und sicherlich noch viel weniger durch die Abschlachtung der persönlich ausge zeichneten, aber politisch durchaus bedeutungslosen Kaiserin von Oesterreich zu erzielen. Nach § 51 deS Reichs-StrafgesetzbucheS ist die strafrechtliche Unzurechnungsfähigkeit dann anzunehmen, wenn der Thäte: zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustande von Bewußtlosigkeit oder krankhafter Störung der GeisteSthätigkeit beband, durch welchen sein« freie Willens bestimmung ausgeschlossen war. DaS Gesetz erkennt also als strofausschließend nur Gründe an, di« in der Person des Thäters, nicht aber solch«, die in der That selbst liegen. Dieser Standpunkt ist auch der einzig mögliche, weil^onf-- überhaupt die Sühnung von Missethaten ausgeschlossen wärel Denn für die Auffassung einer That als unsinnig kommt eS in erster Reihe auf den Standpunkt deS Beurtheilenden an. Es wird Leute geben, die das Endziel der Socialdemokrati« al» völlig unsinnig ansehen und deshalb geneigt sein werden, auch alle Schritte, die zu diesem Ziele führen sollen, für unsinnig zu er klären. Umgekehrt erscheint vom Standpunkte des Anarchismus die bestehende Gesellschaft als widernatürlich und deshalb un sinnig, und jeder Schritt, die Zirkel dieser Gesellschaft zu stören, erscheint als zweckmäßig. Ob also eine That unsinnig sei oder nicht, ist etwas völlig Relatives; ob hingegen «in Mensch un zurechnungsfähig ist oder nicht, läßt sich durch di« Beobachtung von Handlungen und Symptomen feststellen. Die Handlung kann deshalb wohl ein Jndicium für die Beurtheilung der Zurechnungs fähigkeit eines Individuums sein, maßgebend aber kann immer nur die Person des Individuums selbst sein. Und so dürft« sich nach Allem, was man bis jetzt gehört hat, bei dem Attentäter Czolgosz ebenso wenig etwas herauSfinden lassen, wie bei Luccheni und Bresci. Der Zweck der Socialdemokraten, ihre anarchistischen Freunde dadurch herauSzureißen, daß sie schlank- Feuilleton. Vom preußischen Venedig. Danziger Federzeichnungen zum Kaisermanöver. Von Adalbert Heilke. Nachdruck vrrdotkn. Friedrich Wilhelm IV. pflegte Danzig „sein Venedig" zu nennen, und wenn auch der Vergleich mit der Lagunenstadt gewiß recht abgebraucht ist, so hat er doch in diesem Falle einige Berechtigung. Was dort die Lagune und ihre Canäle sind, das sind hier die hurtige Radaune, die träge Mottlau und ihre Canäle; sie schaffen ein Netz von Wasserwegen, breiten mit regem Verkehr, engen, in die kaum je ein Sonnenstrahl ein- drrngt. Fehlen die stolzen Palazzi mit ihren Marmorfaqaden, so mangelt eS doch nicht an vornehmen und reichen Patrizier häusern, die mit ihren schmalen, hohen Fronten und den mäch tigen Fenstern charakteristische Bilder geben; trotzige Thürme, schwerfällige Mauerreste erzählen von wehrhaften alten Tagen; hochstrebende Kirchen ragen „auS der Straße quetschender Enge" majestätisch auf, und über dem ganzen Stadtbild« liegt lene wundervolle Patina der Geschichte, nut deren Reiz selbst die prächtigen modernen Groß- und Königsstädtc nicht wett eifern können. In dieser Beziehung kann in ganz Norddeutsch land eigentlich nur noch Lübeck sich mit Danzig vergleichen, und noch heute kann der, der Danzig» Gassen im Mondscheine durchwandert, wohl Träume und Gesichter schauen: Al» lüg' zauberhaft versteinert Drunten eine Märchenwelt. Noch heute! Ach, auch hier macht der moderne Verkehr seine unerbittlichen Rechte geltend, legt Bresche in den male rischen alten Wallgürtel, fegt düstere, enge Winkel und Gaffen hinweg und löscht so manchen, charakteristischen Zug au». Heute trägt der polnische Edelmann, wenn er Danzig besucht, nicht mehr di« pittore»k« alte Nationaltracht und den Starostrnsäbel; heute reist der russische Kaufherr nicht mehr in der Trlega oder Kibitka zur Weichsrlstadt, und am Hafen sieht man kein« blühenden Holländerinnen mehr mit ihrem seltsamen goldenen Kopfschmucke. Da» Alle» waren aber Erscheinungen, wie sie Meister Daniel Chodowiecki noch in seiner Knabrnzeit tag- täalich erblickte. Und damals war Danzig noch voll von jenen prächtigen alten Häusern, von denen so viele der neuen Zeit zum Opfer gefallen find, von jenen Häusern, deren Fronten oft gar wundersamen Schmuck aufwiesen: auffahrende Adler, brennende Phönixe, selbstmörderische Pelikane, Schildkröten mit beweg lichen Gliedmaßen, springende Pferde und dergleichen mehr. Auch standen noch allenthalben jene für Danzig charakteristischen Beischläge, jene eigenthümlichen Terrassen, die als Ueber- wölbungen der Kellerhälse den Häusern in ihrer ganzen Breite nach der Straße zu Vorlagen und, aneinanderstoßend, eine Reihe von willkommenen Plätzen für den nachbarlichen Verkehr und das freie Spiel der Kmder gewährten; sie wurden als wahre Schmuckstücke behandelt und mit oft kostbaren Geländern von Schmiedeeisen oder Marmor oder mit schönen Freitreppen ausgestattet (v. Oettingen). Auf Meister Daniel's Zeichnung, die er von seiner berühmten Danziger Reise heimbracht«, kann man noch die Langgasse (die „Linden" DanzigS) im vollen Schmucke der Beischläge sehen. Auch sie haben dem modernen Raumbedllrfnifle vielfach weichen müssen. Doch, wie gesagt, trotz Allem hat Danzig sich sein charakteristisches historisches Gepräge noch bis zum heutigen Tage zu wahren verstanden; und wer je vom Bischofsberge herab auf die brcitgelagerte Stadt hinabblickte, die der originelle Rathhausthurm und di« stumpfen Thurmcolosse der Marienkirche Wahrzeichen gleich überragen, der wird dies Bild nicht so leicht wieder vergessen. Zwei Umstände haben wohl wesentlich dazu mitgewirkt, daß Danzig sich so eigenartig erhalten konnte. Einmal der, daß die Danziger klug und begütert genug waren, um zeitig den Holzbau zu verlassen und zum massiven Bau mit Back- und Hausteinen überzuaehen. So konnte da» Feuer hier nicht die fürchterlichen Verheerungen anrichten, von denen andere Städte in den alten Zeiten so oft heimgesucht worden sind. Dann aber ist Danzig ungewöhnlich lang« ein selbstständige» Gemeinwesen, eine freie Stadt geblieben, die sich unbehindert nach ihrem Gefallen entwickeln konnte. Erst 1793 hat sie der mächtigen Umarmung de» preußischen Staate» nachgegeben, und Jahre lang noch lebte in der Bürgerschaft der Groll gegen die Herrschaft de» schwarzen Adler». Da» kann man nun den Danzigern gewiß nicht übel nehmen, denn hinter ihnen lagen Jahrhunderte selbstständiger Geschichte, in denen die Bürger schaft hohe Weisheit und Thatkraft bewiesen hatte, und auf Schritt und Tritt gemahnten ruhmwürdige Denkmale an die Leistungen der Altvordern. Da war der Artu»hof — noch heute tritt er un» zuerst vor da» geistige Luae, wenn wir da» Bild ehrenfesten alten Kaufmann»lev«n» m feiner ganzen Mannigfaltigkeit und Buntheit lebendig vergegenwärtigen wollen; da war jede Wand geziert mit köstlichem Schmuck, jede Pforte mit sinnvoller Schnitzerei, und alte Handwerk-Wahr zeichen, wie jene» täuschend gemalte brennende Licht, erinnerten an den biederen Humor der wackeren Alten. Da war der große Schatz der Marienkirche, des zarten Memling kostbare» „Jüngste Gerücht" — was erzählte es? Es erzählte, daß es aus den kunstfertigen Niederlanden für die erlauchten Medici verfrachtet gewesen, als Paul Beneke, der Commandant eine» Danziger Kreuzers, das Schiff kecklich anfiel und seine Ladung erbeutete; die Eigentümer des siegreichen Kreuzers, die Herren von der Georgsgilde, stifteten es dann der Kirche. Fest, selbst ständig und besonnen — so waren die Danziger immer gewesen, und ein echter Danziger war es, der auf seinen Grabstein in St. Brigitten sich die Inschrift hatte setzen lassen: „Ich glaube, was die heilige Mutter, die römisch-katholische Kirche, glaubt, nichts Anderes und nichts anders. Herr, so cs ein Jrrthum ist, so sind wir von Dir betrogen." Für solchen Bürgergeist mußte es ein schweres Opfer sein, hinfort auf alle Selbstständig- keit in der Politik zu verzichten. Doch auch in der neuen Zelt sind die Danziger sich treu geblieben. Der Königin der Adria ist die Krone vom Haupte gefallen, durch todte Canäle gleitet die Gondel an unbewohnten verfallenen Palästen vorüber. Danziger Bürgerkraft aber hat Leben und Wohlstand zu bannen verstanden; noch strömen Polens Korn und Polen» Holz hier zusammen, wird der Bernstein hier verarbeitet, der Fischfang hier betrieben, wie vor alter». Aber heute sausen hier auch die Räder, schlagen die Hämmer, rauchen die Schlote; gewaltige Fahrzeuge entstehen, die den deutschen Handel in ferne Zonen tragen, und andere, die ihn schützen, Maschinen werden gebaut, der Natur wird die Kraft der Elektricittit abgewonnen. Und Just'» gepriesenes Goldwasser macht nach wie vor Danzig'» Namen denen werth, die „was Gut s in Ruhe schmausen" mögen. Neu-Danzig darf sich kühnlich neben Alt-Danzig zeigen — Und wenn Alt-Danzig einen Fahrenheit, einen Forster, einen Chodowiecki erzeugt hat, so darf Neu-Danzig auf Gchnaase, den freisinnigen Kunsthistoriker, auf Hildebrandt, den phantasievollen Maler de» Orient», auf Trojan, den stil vergnügten Humoristen und Moselsänger, Hinweisen. An einer Stadt, wie dieser, ist da» Schöne, daß wir empfinden: hier ist Alle» gewachsen. In Berlin, Dresden, München sehen wir, wa» bedeutende Männer, tüchtige Ge schlechter machen können. Hier ist nicht» gemacht, Alle» ge wachsen. Stehen wir auf dem BischofSberge, so sehen wir mit einem Blicke, daß der Platz für diese Stadt von der Natur nothwendia angewiesen war. Dort die sumpfige Niederung der Weichselmündung, zur Städtegriindung wenig geeignet, hier da» hohe Land, da» Halt und Schutz gewährte und al» Verbindung zwischen beiden die Radaune. So konnte, so mußte hier der große Weichselhafen entstehen. Freilich mag» noch wüst genug auf dem Moorlande ausgesehen haben, als der heilige Adalbert hier, „in Gyddanize", ans Land stieg und eine große Anzahl Heiden taufte. Damals war die Ansiedelung noch slawisch; aber eS kamen die Cisterzienser aus Kolbatz in Pommern, es kamen Lübische Kaufherrn und Rheder, e» kam der Deutsche Orden, und Danzig ward eine feste, mächtige, blühende deutsche Stadt, und das ist sie geblieben bis zum heutigen Tage. Später wanderten hier auch noch Niederländer, ja selbst Spanier und Italiener ein, die wegen ihre» Glauben» daheim bedrängt wurden, und damals fuhren Danzig» Schiffe weithin über die Meere, und seine Bürger wurden stolz und reich und wollten es den Herren von Venedig und Genua gleich- thun, deren Pracht und Glanz sie auf ihren Reisen kennen gelernt hatten. Daher weist auch DanzigS Baugeschichte haupt sächlich auf zwei Perioden hin. Der Gothik entstammen die mächtigen Backsteinkirchen, der Renaissance ober und dem üpptzen Barock die Bürgerbauten, öffentliche wie private. Leide Stile stoßen zusammen in dem ehrwürdigen Rathhause, dessen Unter bau wohl von dem deS Thorner RathhauseS übertroffen wird, dessen schlanker und origineller Thurm aber, ein herrlrche» Symbol weitreichender Burgermacht, ein architektonische» Juwel genannt werden darf. Jetzt ist unsere Zeit dabei, diesen beiden Baustilen der Stadt einen dritten zuzugesellen. „Unsere Zeit steht im Zeichen de» Verkehr»." Doch der Verkehr ist ein launischer Gott; er hat seine Günstlinge und seine Stiefkinder. Solch ein Stiefkind ist im Süden unsere» Vaterlandes Stuttgart, eine der schönstgelegenen deutschen Städte, im Norden aber vor Allem unser Danzig. Die wenige Deutsche sind e», die in ihren Ferientagen den Weg zu diesem Kleinode des deutschen Nordostens nehmen! Und doch gnißt un» hier ein Jahrtausend ruhmvoller deutscher Geschichte und Kunst, locken un» die Spuren der Poesie, di« E. T. A. Hoff mann im Artu»hofe eine seiner geistvollsten Inspirationen schenkte, bietet die Umgebung den lieblichsten Wechsel von Berg und Thal, von Wald und Feld, rauscht in nächster Näh« da» ewige Meer, »mgürtet von schmucken Villenorten, kommt uNd geht in unermüdlicher Geschäftigkeit die mächtig« Woar de» modernen Handel». Die Danziger find stolz auf ihre Vater stadt, und sie dürfen e» sein. Nennt man di« besten deutschen Städtenamen, so wird auch der Danzig» genannt, und das nach der Seemacht strebend« junge deutsch« Reich wird dl« »lt- «hrwürdige, mächtige Weichselstadt besonder» in ihr Her schlüßen.
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